Yoga heilt – über Vielfalt und Beziehung

Das Interesse an therapeuti­schen Yoga-Angeboten hat einen großen Zuwachs erfahren. Yoga als Heilmethode ist offensichtlich in der Gesellschaft angekommen. Deshalb ist es auch an der Zeit, die Dimensionen dieser Methode auszu­loten und zu diskutieren. Damit möchte dieser Artikel einen Anfang machen. Er speist sich aus vielen positiven Erfahrungen und erfolg­reichen therapeutischen Interventionen. Und natürlich auch aus dem Lernen über manche Misserfolge, Fehlschläge und Fehler.

Yoga heilt – über Vielfalt und Beziehung

Das Interesse an therapeuti­schen Yoga-Angeboten hat einen großen Zuwachs erfahren. Yoga als Heilmethode ist offensichtlich in der Gesellschaft angekommen. Deshalb ist es auch an der Zeit, die Dimensionen dieser Methode auszu­loten und zu diskutieren. Damit möchte dieser Artikel einen Anfang machen. Er speist sich aus vielen positiven Erfahrungen und erfolg­reichen therapeutischen Interventionen. Und natürlich auch aus dem Lernen über manche Misserfolge, Fehlschläge und Fehler.

Yoga heilt – über Vielfalt und Beziehung

Das Interesse an therapeuti­schen Yoga-Angeboten hat einen großen Zuwachs erfahren. Yoga als Heilmethode ist offensichtlich in der Gesellschaft angekommen. Deshalb ist es auch an der Zeit, die Dimensionen dieser Methode auszu­loten und zu diskutieren. Damit möchte dieser Artikel einen Anfang machen. Er speist sich aus vielen positiven Erfahrungen und erfolg­reichen therapeutischen Interventionen. Und natürlich auch aus dem Lernen über manche Misserfolge, Fehlschläge und Fehler.

Einleitung

Der Weg des Yoga hinein in die westlichen Gesellschaften Europas und Amerikas verlief über sehr unterschiedliche Stationen. Über viele Jahre hinweg war Yoga die Sache einer kleinen Minderheit. Einige wenige spirituell Suchen­de verstanden Yoga, das „indische Ge­schen­k an die Welt“, als eine Art Geheimwissen, das sie zu ergründen und anzuwenden versuchten. Wer diese exotische Lehre praktizierte, galt als seltsame Person, als AußenseiterIn, ein wenig verschroben. Yoga wurde in Zirkeln geübt, die gelegentlich indischen Heimatvereinen ohne Inder glichen. Das Verständnis von Yoga war zutiefst durch seine kulturellen Wurzeln gefärbt und geprägt. Mit der Zeit verlor diese Verbindung mit indi­scher Kultur und Weltanschauung an Bedeutung. Dabei rückten auch die Körper­übun­gen des Yoga ganz in den Mittelpunkt der Auf­merksamkeit. Was immer auch die Gründe für diese Entwicklung gewesen sind: Immer mehr Menschen begannen körperlich und seelisch vom Yogaüben zu profitieren.

Yogaüben wurde eingereiht in ein rasch wachsendes Angebot unterschiedlicher Übungs­verfahren, die Entspannung, körper­liches Wohlbefinden und Gesundheit versprachen. Mehr und mehr wurde Yoga in der Öffentlichkeit als ein attraktives und wirksames Verfahren wahrgenommen, mit dessen Hilfe man sich um die eigene Gesundheit, um körperliches Wohl­befin­den kümmern konnte. Schließlich waren es die Krankenkassen selbst, die Yoga zu einer aner­kannten Methode in ihren Kampagnen zur Prävention adelten.

Seit einigen Jahren vollzieht sich nun ein weiterer Schritt. Er gründet auf der Erfahrung, dass Yoga auch bei kranken Menschen positive Wirkungen entfaltet. Der thera­peu­tische Aspekt des Yoga findet inzwischen immer mehr Beachtung und die mediale Öffentlichkeit zeigt ein großes Interesse an dem Thema.

In der Ärzte­schaft häuften sich entsprechend Patien­ten­emp­fehlungen: „Versuchen Sie es doch mal mit Yoga“. Mittlerweile führen eine große Anzahl von Studien den Nachweis, dass Yoga verschiedene Erkran­kun­gen günstig beeinflusst. Viele der Studien waren anfangs noch unzulänglich in Anlage und Ausführung. Immer mehr genügen jedoch den international geforderten Standards und zeigen, dass Yoga ein wirksames komplementäres Mittel bei unter­schied­lichen körperlichen und seelischen Stö­rungen sein kann.

In den vergangenen Jahren hat das Interesse an diesen therapeuti­schen Angeboten einen großen Zuwachs erfahren, der unvermindert anhält. Dabei vollzog sich über die Jahre auch ein Wandel in der Klientel, die im Yoga nach Unter­stützung und Hilfe sucht. Es sind immer mehr jüngere Menschen; der Anteil der Männer ist mit etwa einem Drittel ungleich viel höher als in normalen Yogagruppen. Selten spielt bei der Entscheidung für Yoga ein Interesse an dessen indischen Wurzeln oder gar die Sehn­sucht nach exotischen Wundermitteln eine Rolle.

Yoga als Heilmethode ist offensichtlich in unserer Gesellschaft angekommen.

Deshalb ist es auch an der Zeit, die Dimensionen dieser Methode auszu­loten und zu diskutieren. Damit möchte dieser Artikel einen Anfang machen. Er speist sich aus den vielen positiven Erfahrungen und erfolg­reichen therapeutischen Interventionen. Und natürlich auch aus dem Lernen in den intensiven gemeinsamen Diskus­sionen über manche Misserfolge, Fehlschläge und Fehler.

Heilmethode Yoga – ein kurzer Überblick

Praxis

Yoga als Heilmethode, als Therapie ist im Wesentlichen ein Übungsverfahren. In seinem Mittelpunkt steht eine regelmäßig und selbstständig geübte Praxis. Diese Praxis wird durch eineN LehrerIn mit entsprechender Kompetenz individuell konzipiert und unterrichtet – geübt wird zu Hause. In Abständen von Wochen oder Monaten wird der Übungsablauf entlang der Erfahrungen und erzielten Ergebnisse weiter entwickelt, nötigenfalls korrigiert und nicht selten auch über lange Zeiträume hinweg fortgeschrieben und begleitet. Die so erarbeitete Yogapraxis spricht den Körper und Atem eines Menschen ebenso an wie sein Fühlen, seine Wahrnehmung und seine Fähigkeit zur Ausrichtung. Vor allem aber verbindet sie diese verschiedenen Ebenen zu einem einheitlichen Üben und positiven Übungserleben.

Ansatz

Yoga als Heilmethode richtet sich gleichzeitig

  • auf die Harmonisierung gestörter Körperfunktionen,
  • auf die Art und Weise, wie diese Störungen erlebt werden und welche Haltung dazu eingenommen wird
  • und auf die psychische und körperliche Befindlichkeit eines Menschen insgesamt.

Je nachdem, welches Anliegen von einem kranken Menschen in den Mittelpunkt gestellt wird, kann die von einer Yogapraxis angestrebte Wirkung unterschiedliche Ebenen betreffen. Manchmal wird es darum gehen, die Häufigkeit quälender Migräneanfälle zu reduzieren, Rückenschmerzen zu beheben oder Prüfungsängste zu vermindern. Manchmal darum, angesichts einer schweren Erkrankung wieder einen hellen Streifen am Horizont zu sehen. Oder darum, sich einfach wieder wohler in der eigenen Haut zu fühlen. Oder um das angenehme Gefühl, selbstständig etwas Gutes für sich tun zu können. Oder auch einfach ein paar Minuten »Urlaub« vom Alltag zu erleben. Es ist eine große Vielfalt von Bedürfnissen, die sich mit dem Entschluss zu einer regelmäßigen Yogapraxis verbindet. Trotzdem gelingt es immer wieder, im Üben eine dieser Vielfalt angemessene Erfahrung und Wirkung zu erreichen.

Ziele

Die langjährige Erfahrung im Umgang mit Yoga als therapeutisches Verfahren, so wie der Blick auf die immer zahlreicher werdenden wissenschaftlichen Studien zeigen, was Yoga kann:

  • vegetative Prozesse harmonisieren
  • körpereigene Abwehrkräfte stärken
  • neuromuskuläre Störungen im Bewegungsapparat beheben
  • Verspannungen lösen
  • Stress reduzieren
  • psychisches Wohlbefinden fördern
  • Haltung und Umgang mit einer Krankheit, einer Einschränkung oder einem Problem beeinflussen
  • mehr Geduld und Akzeptanz im Umgang mit sich selbst lehren
  • Raum für die Entwicklung neuer Lösungsstrategien schaffen
  • Ängste verringern
  • Möglichkeit geben, eigene Erwartungen zu überprüfen und zu verändern

Wirkung

Eine angemessene Yogapraxis stützt sich auf die vorhandenen mentalen, emotionalen und körperlichen Möglichkeiten eines Menschen und entwickelt sie – Yogatherapie ist ressourcenorientiert. Die Wirkung von Yoga als Heilmethode speist sich dabei aus:

  • Den mit dem regelmäßigen Üben in Gang gesetzten inneren Prozessen der positiven Selbstregulierung auf körperlicher und psychischer Ebene. Sie spricht dabei an, was auch bei jedem Schnupfen beobachtet werden kann: Unter günstigen Bedingungen zeigt sich die Fähigkeit des menschlichen Systems, körperlichen Störungen und Ungleichgewichten angemessen zu begegnen und sie aufzulösen. Diese innere Tendenz zum Gleichgewicht wirkt ebenso bei jeder guten Konfliktbewältigung. Unter günstigen Bedingungen sind Menschen in der Lage, auch schwierigste Konflikte zu erkennen und Lösungen zu finden, die allen Beteiligten gerecht werden. In diesem Sinne wirkt auch Yoga: Die regelmäßige Übungspraxis, ihr Setting und die damit verbundenen Erfahrungen schaffen in einem Menschen günstige Bedingungen für positive selbstregulative Prozesse.
  • Der Stärkung des Vertrauens, aus eigener Kraft zum eigenen Wohlbefinden beitragen zu können.
  • Der den gesamten Prozess unterstützenden Beziehung zwischen YogalehrerIn und Betroffener/m.

Yoga als Weg

Der Umgang mit Yoga reicht von der Nutzung als körperorientiertes Work-out oder als Entspannungsverfahren über die Anwendung als Heilverfahren bis zu Yoga als eigenständigem spirituellem Weg. Werden Menschen nach ihren Erfahrungen mit einer kompetent begleiteten Yogapraxis gefragt, erweisen sich diese unterschiedlichen Aspekte oft als nur schwer voneinander abgrenzbar. Spiritualität bezieht im Yoga auch einen positiven Umgang mit dem Körper, ein Bemühen um Gesundheit ein; in einem Heilungsprozess können spirituelle Aspekte eine wichtige Rolle spielen und selbst ein sehr körperorientierter Umgang mit den Übungen des Yoga erlaubt Menschen bisweilen Erfahrungen, die sie in ihrem Innersten tief berühren.

Mittel

Erfolgreich ist Yogatherapie auch deshalb, weil sie über eine Vielzahl unterschiedlicher Mittel verfügt. Dazu gehören neben anderem:

  • zahlreiche Haltungen und Bewegungsabläufe (Āsana)
  • besondere Atemübungen (Prāṇāyāma)
  • Übungen, die mit den mentalen Fähigkeiten eines Menschen arbeiten (Meditation)
  • Übungen, in denen Tönen, Silben und Worte im Mittelpunkt stehen (Mantren)
  • ein klärendes Gespräch
  • Anregungen für eine angemessene und gesunde Alltagsorganisation und Lebensordnung

Kompatibilität

Yoga erweist sich als komplementär zu allen anderen therapeutischen Systemen. Zu den Verfahren der Schulmedizin ebenso wie zu den unterschiedlichsten alternativen Methoden wie den klassischen Naturheilverfahren, der Traditionellen Chinesischen Medizin, Anthroposophischen Medizin oder Ayurveda (der, obwohl ebenfalls von indischem Ursprung, mit Yoga kaum Berührungspunkte hat). Ohne Schwierigkeiten lässt sich Yogapraxis auch mit allen psychotherapeutischen Verfahren verbinden, kann sie unterstützen oder von ihnen unterstützt werden.

Begriffe? Heilen – Heilerin – Wunderheiler …

In der Zeit des Mittelalters, als die Menschen hierzulande noch Mittelhochdeutsch sprachen, verband man mit der Benutzung des Wortes heil die Bedeutung von Glück. Heilfroh zu sein, so wie wir es auch heute noch manchmal sind, ist also im eigentlichen Sinn des Wortes ein doppeltes Glück. Heil beinhaltete aber auch die Bedeutung von Rettung. In diesem Sinne beschreibt heilfroh Zustand und Empfinden einer Person, die aus einer schwierigen Situation gerettet wurde oder sich retten konnte – sie ist glücklich darüber. So stammt auch das Wort heilig der gleichen Wortwurzel wie heil.

Ein Heiland wird der Retter genannt, der die Menschen aus ihrem Zustand des Unglücks erlösen kann. Schließlich war auch die Freiheit von Krankheit ein Aspekt der alten Bedeutung des Wortes heil: heil im Sinne von gesund. Wenn wir heute nicht sagen: ich bin ganz heil, sondern ich bin ganz gesund, dann spricht das vielleicht dafür, dass sich gesund sein eher auf einen Teilbereich des Menschen bezieht. Nicht der ganze Mensch einschließlich seiner Psyche, seiner Stimmung ist gemeint, sondern gesund bezieht sich eher auf ein ordentliches Funktionieren der einzelnen Körperorgane.

HeilerIn – diese Bezeichnung hat heute allerdings einen zwiespältigen Klang. Zum einen drückt sich in ihr tatsächlich ein positiver Anspruch auf eine ganzheitliche Sichtweise aus: EinE HeilerIn, so kann man vermuten, kümmert sich mehr um den Menschen als Ganzes, nicht nur um das Funktionieren seiner einzelnen Teile. Andererseits werden HeilerInnen nicht selten assoziiert mit wundersamen, unerklärlichen oder gar unseriösen Methoden.

Dass Heilen aber auch früher schon auf eine nachvollziehbare Weise gelang, kann daraus geschlossen werden, dass bereits damals ein anderer Personenkreis von dem der HeilerInnen unterschieden wurde: die WunderheilerInnen. Man glaubte also, dass manche HeilerInnen ihr Werk mithilfe von Wundern vollbrachten. Die Arbeit der Heilerinnen – ohne Wunder – wurde wohl mehr verstanden als Handwerk mit solidem Boden. Ein Boden aus Wissen, Erfahrung, Intuition, gesundem Menschenverstand und – später mehr und mehr – auch gezielter Forschung und organisierter Prüfung von Behandlungsergebnissen. Heilen hatte also eher nur ausnahmsweise etwas mit dem Glauben an Wunder oder mysteriösen Geschehnissen zu tun.

Heilen ist Gesunden – ein Fall

Seit etwa sieben Monaten waren Schmerzen im Rücken von Frau B. ein ständiger Begleiter geworden. Ins linke Gesäß ausstrahlende Rückenschmerzen waren ihr auch zuvor nicht unbekannt. Erstmalig aufgetreten waren sie, so erinnerte sich die junge Frau, während des Studiums. Es hatte aber lange Phasen über Monate gegeben, in denen sie ihren unteren Rücken nicht besonders spürte; es hatte Zeiten gegeben, in denen sie morgens nur mit einer unangenehmen Steifheit im Rücken aufwachte, die schnell verflog, wenn sie sich bewegte; ein paar mal hatte auch ein Hexenschuss sie einige Tage lang lahmgelegt – aber so schlimm wie in den vergangenen Monaten war es noch nie gewesen.
Schon am Morgen kam sie kaum aus dem Bett. Besser wurde es, wenn sie heiß duschen konnte und sich ein wenig bewegte. Sitzen war unangenehm. Schwierig war auch, dass ihre kleine vierjährige Tochter gerade morgens so gern auf den Arm wollte; manchmal war dies der Startschuss für einen ganzen Tag mit heftigen Schmerzen.

Frau B. erzählte, dass sie seit einem Jahr mit dem Kind allein lebte, sie hatte sich von ihrem Partner getrennt. Die Kleine brachte sie auf dem Weg zur Arbeit in den Kindergarten und holte sie am frühen Nachmittag ab. Ihre Beschwerden wurden meistens im Laufe des Tages heftiger. Längeres Sitzen (sie arbeitet als Lektorin in einem Verlag) sowie schweres Tragen verschlechterte die Situation. Gelegentlich nahm sie eine Schmerztablette, wenn die Beschwerden unerträglich wurden. Zur Physiotherapie ging sie zweimal in der Woche; wirklich besser war es aber nicht geworden. Was ihr meistens half, die Schmerzen zu verringern, war eben eine heiße Dusche, das Hochlegen der Beine auf einen Hocker, ein langsamer, nicht allzu langer Spaziergang am Wochenende, bei dem ihre kleine Tochter selbstständig neben ihr herzockelte und nicht getragen werden musste.

Ihre Yogalehrerin schlug ihr nach dem ersten Gespräch und einem körperlichen Check eine kurze Übungspraxis von 15 Minuten vor. Sie war für ein morgendliches Üben konzipiert, wenn die Tochter noch schlief. Vierzehn Tage später kam Frau W. zum zweiten Termin. Die Übungen taten ihr gut – wenn sie üben konnte, ohne dass das Kind dazu kam und »mitüben« wollte. Das war etwa in der Hälfte der 14 Tage der Fall gewesen. Wenn das Üben gelang, hatte sie unmittelbar danach merkbar weniger Beschwerden – im Laufe des Tages nahmen sie aber wie gewohnt zu.

Das zweite Programm baute auf die ersten Übungen auf. Frau B’s Lehrerin begann damit, die Anforderungen in den Übungen etwas zu steigern und riet ihr, den Übungszeitraum auf den Abend zu verlegen.

Nach drei Wochen meldete sich Frau B. mit einer guten Nachricht zurück: Ihr Dauerschmerz war verschwunden; ein paar Stunden am Tag konnte sie ihn vergessen; sie hatte schon mal einen Tag gehabt, an dem ihr gar nichts weh tat.

Nach einer erneuten Veränderung der Übungsabfolge, die sie für weitere vier Wochen übte, berichtete sie am vereinbarten Termin von einem Rückfall: Die Schmerzen waren seit einer Woche wieder täglich da, allerdings nicht den gesamten Tag über. Ihr Kind war krank geworden und konnte nicht in die Kita gehen; sie blieb zu Hause, musste es viel herumtragen, sich über das Bett bücken. All diese Dinge hatten nach ihrem Eindruck viel zu der Verschlechterung beigetragen, aber was sollte sie tun? So war eben ihr Alltag. Ihre Verzweiflung konnte sie schlecht zurückhalten, als sie dies alles erzählte.

Mit einem neuen, der Situation angepassten Programm ging sie wieder nach Hause; sie war sehr diszipliniert was ihr Üben betraf. »Was bleibt mir anderes übrig?« war ihr Kommentar dazu. »Zumindest hilft es immer unmittelbar«. Nach weiteren drei Monaten begannen sich die inzwischen wieder eingetretenen Verbesserungen zu stabilisieren. Ein Jahr nach dem Anfang des regelmäßigen Übens geht es ihr gut. Sie hat noch immer das, was sie einen »empfindlichen Rücken« nennt, ist aber weit davon entfernt, eine Rückenschmerzpatientin zu sein. Wenn sich das alte Leiden mal wieder meldet, begegnet sie ihm mit einem der früheren Yogaprogramme bis es wieder in Ordnung gekommen ist. Dann übt sie weiter ihre fordernden Āsana und ist inzwischen überzeugt, dass sie ihren Rücken »wieder ganz gesund bekommen« wird.

Wie aus Krankheit Leid entsteht

Krankheit birgt Erfahrungen und eine Dynamik in sich, die weit über das Erleben der unmittelbaren Symptome hinausgeht. Sie führt leicht zu Enge und nicht selten zu großem Leid. Diese Dimension trägt allerdings nicht jede Störung in sich. Krank sein – und damit eine körperliche Störung zu haben, ist für die Betroffenen bisweilen gar kein Problem. Wer einmal im grauen November einen kleinen grippalen Infekt hatte und einen lieben Menschen, der den Tee ans Bett brachte, ein gutes Buch zur Hand und alle Zeit der Welt, sich auszuschlafen, wird das bestätigen.

Sehr viel häufiger jedoch geht Krank-Sein einher mit einem Gefühl von Enge, von Sorge, von Elend. Der erste Besucher, der sich einstellt, wenn in unserem System etwas schiefläuft, ist die Angst. Es ist, als öffne ein Schmerz, ein Unwohlgefühl oder das Abweichen der körperlichen Funktionen von der Norm ganz leicht einen Türspalt in uns, durch den die Angst hineinschlüpft. Und rasch kann sie sich dann in uns breit machen. Die Besorgnis, ihre Arbeit zu Hause und auf der Arbeit nicht mehr zu schaffen, das Gefühl, nur noch einen sehr engen Spielraum für die Bewältigung ihres Alltags zu haben, keine Reserven mehr angesichts der alleinigen Verantwortung für ihr Kind, diese Ängste ließen Frau B. im vorigen Abschnitt manchmal fast verzweifeln.

Für viele Menschen verbindet sich das Erleben körperlicher Einschränkung zudem mit dem Gefühl einer diffusen existenziellen Bedrohung. Besorgnis um das eigene Leben entwickelt sich, das Erinnern der eigenen Vergänglichkeit, die Vision von Chronifizierung der Krankheit und Siechtum scheint auf.

»Ich möchte auf meine alten Tage nicht im Rollstuhl sitzen«, begann kürzlich ein junger Mann mit quälenden und chronischen Knieschmerzen die Beschreibung seines Anliegens, das ihn zum Yoga führte. Und nicht selten drängen sich für ernsthaft kranke Menschen Gedanken an Tod und Sterben auf, Erinnerung an Erfahrungen mit Angehörigen oder Freunden, die an einer Erkrankung gestorben sind.

Aber auch die Beziehungsgeflechte auf der Arbeit und im Privaten erscheinen schnell gefährdet:

  • Kann ich meinen Kollegen das antun, dass ich heute nicht zur Arbeit gehe?
  • Wir sind doch schon so knapp besetzt.
  • Was werden die anderen denken, wenn ich schon wieder krank bin?
  • Wie fühlt sich meine Tochter, wenn ich sie nicht mehr auf den Arm nehme?
  • Und dann die unsichere Zukunft: Wird die Krankheit mich in Zukunft weiter beschäftigen und beeinträchtigen?
  • Was, wenn die Beschwerden nicht mehr weggehen oder gar zunehmen?
  • Wird es mir möglich sein, meine Pläne zu verwirklichen oder wird die Krankheit mein weiteres Leben bestimmen?

Frau B.s Lebensplanung zum Beispiel war festgelegt: Sie hatte allein ihre kleine Tochter großzuziehen. Angesichts ihrer Erkrankung war der Blick in die Zukunft sehr düster geworden. Was, wenn ich das körperlich nicht schaffe? Und dann ist da noch der Schmerz an sich. Wir sind in der Lage, manche Schmerzen zu vergessen, wenn wir uns auf eine Aufgabe, unsere Arbeit, etwas Freudiges oder Wichtiges konzentrieren.

Das funktioniert aber nur, wenn ein Schmerz eine bestimmte Intensität nicht überschreitet. Andernfalls setzen sich Schmerzen gegen jeden Versuch sie zu ignorieren durch.

Diese Erfahrung musste auch Frau B. machen. Lange hatte das Ausblenden des Schmerzes geklappt, irgendwann war sie dazu einfach nicht mehr in der Lage. Auch das »Annehmen« des Schmerzes (ein Ratschlag einer Freundin von Frau B.) war dann keine Lösung mehr, die für die Schmerzintensitäten getaugt hätte.

Stärkste Schmerzen wirken unmittelbar auf das gesamte menschliche System, nicht zuletzt auf die psychische Befindlichkeit. Schmerzen können so eng machen, dass neben ihnen nichts anderes mehr Platz findet. Auf der anderen Seite hat das Erleben von Schmerzen viel damit zu tun, wie ich sie einschätze: Sind sie bedrohlich, nur vorübergehend, oberflächlich oder Zeichen einer ernsten Störung?

Das Leiden an einer Krankheit ist nur zu verstehen als ein Prozess, der bei einer Störung, einer Einschränkung oder einem Schmerz erst beginnt. Und der sich dann fortsetzt auf verschiedenen Ebenen und schließlich den ganzen Menschen auf eine jeweils besondere Weise erfasst.

Das gilt auch dort, wo das Körperliche nicht dominiert wie bei Depressionen oder Angstzuständen. In diesen Fällen ist die erlebte Enge, das Symptom selbst, schon das erlebte Leid.

Krankheit betrifft also immer das ganze menschliche System. Hier setzt Yoga an: Yogatherapie hat die gesamte Befindlichkeit ebenso wie die Störung, das Symptom im Blick, sieht deren Zusammenhang und ist auf eine Veränderung beider ausgerichtet.

Als Frau B. zum ersten Mal bemerkte, dass ihre Schmerzen positiv beeinflussbar waren, bedeutete dies eine große psychische Entlastung für sie. Sie berichtete ihrer Yogalehrerin, dass sie an diesem Tag so frohen Mutes war wie schon lange nicht mehr. Das empfand sie auch später als eine ungemein wertvolle Erfahrung. Endlich wieder etwas selbst bewegen zu können, endlich nicht mehr nur die Passive sein müssen. Ebenso erlebte sie etwas, was sie »natürlich auch schon wusste«, was ihr aber über die vielen Monate von Krankheitserfahrung doch abhandengekommen war. Es gibt noch eine Frau B., die nicht nur krank ist, eine, die mal unbesorgt sein kann, die es wagt, Pläne zu schmieden, die albern und ausgelassen sein kann. Kurz gesagt erlebte sie eine Wahrheit, die man getrost als eine der wesentlichen Grundlagen jeder Yogatherapie verstehen kann. Ein kranker Mensch ist mehr als seine Krankheit. Es gibt da noch Ressourcen, es gibt da noch Gesundes, das sich entwickeln kann.

Gesund oder heil

Heil-Sein hat auch etwas mit Glück zu tun, mit Wohl-Sein und Wohlbefinden, mit Stimmigkeit und Freude. Körperlich gesund zu sein heißt nicht immer, sich heil oder geheilt zu fühlen.

Ein anderer Klient, Herr M., hat erfahren, dass er an einer äußerst bösartigen Erkrankung des Lymphsystems erkrankt ist. Die beiden ersten Runden einer anstrengenden Chemotherapie hatte er hinter sich, als er sich entschloss, Yoga zu üben. Schon das erste Gespräch, in dem er sehr deutlich machen konnte, was er sich von Yoga erwünschte, brachte etwas ins Spiel, was neben dem Befall seiner Lymphknoten durch die Tumorzellen von großer Bedeutung für ihn war. Er berichtete, dass er die letzten zehn Jahre seines Lebens sehr aufmerksam und bewusst mit sich umgegangen sei, auf seine Ernährung geachtet habe, für Pausen im Beruf und Möglichkeiten abzuschalten gut gesorgt habe, dass er in einer glücklichen Partnerschaft lebe und sich sicher war, sich selbst recht gut zu kennen. Und nun dieses!

Die Erschütterung seines Selbstbildes machte ihm neben der durch die körperliche Erkrankung und therapeutisch bedingte Schwäche und Mattheit enorm viel zu schaffen. Sie ließ ihn – gepaart mit den vielen Ängsten vor der Zukunft – schlecht schlafen; er grübelte ganze Nächte hindurch.

Seine Yogalehrerin unterstützte ihn während der gesamten Zeit der Chemotherapie-Zyklen mit mehr oder weniger kurzen Yogaübungsprogrammen, je nachdem, wie es sein körperlicher Zustand erlaubte. Was ihm am wichtigsten dabei war: Dass er mit dem Yoga-Üben selbst in den Prozess seiner Behandlung eingreifen und so das Gefühl der Machtlosigkeit etwas eingrenzen konnte. Nach Abschluss der Behandlung hatte sich der Lymphtumor vollständig zurückgebildet, Herr M. erholte sich langsam aber stetig und kam wieder zu Kräften. Seine Stimmung jedoch wurde nicht besser. Stundenlang konnte er in dunklen Gedanken versunken dasitzen. Die Freude seiner Umgebung über die gelungene Behandlung konnte er nicht wirklich teilen – immer gab es ein »Aber«.

Nachdem die Nachuntersuchungen stetig eine Stabilisierung des Gesundungsprozesses bestätigten und seine behandelnden ÄrztInnen ihn nach einem Jahr als sicher geheilt entließen, ging es ihm auch seelisch etwas besser. Ängste, die Krankheit könne zurückkommen, lösten sich auf. Zurück jedoch blieb etwas, was er beschrieb als »eine innere offene Wunde«. Ohne dass diese sich schließen würde, konnte er sich nicht vorstellen, sich wieder wirklich gut zu fühlen; es war die tiefe Verletzung seines Selbst-Bewusstseins.

Jemand zu sein, der sich so sehr in sich selbst täuschen konnte! Nicht der zu sein, dessen er sich sicher gewesen war, hatte eine große Verunsicherung hinterlassen.

Sie hatte sich auch ein Jahr nach Beendigung der gefährlichen Krankheit nicht aufgelöst. Herr M. ist noch immer dabei, mithilfe des Yoga an seiner Heilung zu arbeiten. Er sagt, sein Yoga-Programm helfe ihm, mit den wiederholt auftretenden depressiven Phasen gut zu Recht zu kommen und immer wieder auf die Realität zu schauen. Er kann sich entspannen und sehr langsam aber immer besser den Menschen M. annehmen, den er durch seine Krankheit kennengelernt hat.

Leiden

Das Konzept, das Yoga mit der Idee des Heilens verbindet, führt in eine Richtung, die beides beinhaltet: das Beseitigen und Verhindern von körperlichen Störungen und einen Prozess, der über das Eliminieren von Krankheit hinausgeht. Es ist der von Patañjali im Yoga Sūtra entwickelte Ansatz, mit dem sich Yoga dem Menschen auf ganzheitliche Weise öffnet. Um dies besser zu verstehen, muss man sich das Konzept vergegenwärtigen, um das der gesamte Yoga kreist: das Konzept des Leidens, duḥkha.

Spricht man im Yoga von duḥkha, so meint man einen Zustand von innerer Verletztheit, eine »offene Wunde«, wie Herr M. es beschrieb, die sich nicht von allein schließt. Es muss jedoch nicht immer solche Dimensionen haben.

Man kann auch sagen: duḥkha steht für alle Gefühle, deren Fortdauer wir nicht wünschen.

Das fängt an bei einem kleinen Hader, einer kaum spürbaren inneren Reibung, einer Unstimmigkeit, und umfasst eine große Bandbreite negativer Gefühle, die von einem alltäglichen Kummer, einer Sorge, widerstreitenden Gefühlen über große innere Not, Zerrissenheit bis zu tiefster Verzweiflung und endlos quälenden Gedanken reichen kann.

Leid erleben

Ein solcher Zustand, solche Gefühle, lassen sich allerdings nicht immer anderen Menschen so vermitteln, dass sie richtig verstanden werden. Frau W., eine weitere Klientin, hatte ein einziges Anliegen: Seit einem Jahr in den Wechseljahren hatte sie, die schon immer an trockener Haut mit einer Neigung zur Faltenbildung litt, eine dramatische Verschlechterung dieser Tendenz feststellen müssen. Jeder Blick in den Spiegel verband sich mit einem Anflug von Abscheu und Panik, wenn sie hier oder da eine neue Falte, eine Vertiefung der schon bekannten bemerkte. Jedes neue Kleidungsstück war ihr verleidet, weil es nicht mehr zu passen schien zu dem Alter, das sie mit ihren Falten verband. Da sie in einem Frauenmagazin gelesen hatte, dass Yoga schön macht, wollte sie Yoga üben. Yoga sollte ihr helfen, Ihre Falten zu verringern.

Wie fühlt man sich als YogalehrerIn, wenn man unmittelbar vor einem Gespräch mit dieser Frau mit jemandem wie Herrn M. zu tun hatte? Wie empfindet man ihr Anliegen, wenn man davon liest? Auch wenn es schwerfallen mag, es so zu nennen: Es ist duḥkha. Der innere Widerstand gegenüber dem Anliegen von Frau W. ist nur Ausdruck davon, dass ihre Not nicht angemessen verstanden wird. Sie hat es schwer, ihr Leid zu kommunizieren, wenn man nicht offen für eine wichtige Tatsache ist:

Duḥkha ist persönlich und nur persönlich. Ausschließlich wer davon betroffen ist, weiß, ob er leidet und wie sehr. Keine noch so perfekt tarierte Waage kann messen, ab welcher Schwere ein Ereignis zum Leid wird.

Leid wahrnehmen und akzeptieren

Jahrelang ging die Freundin von Herrn S. einmal in der Woche zum Yogaunterricht. Seit sie sich kennengelernt hatten, erzählte sie ihm, wie gut ihr das tat. Ihre Kopfschmerzen waren mittlerweile völlig verschwunden; ihr Alltag hatte sich entschleunigt, wie sie es nannte. Sie empfand das als sehr angenehm. Vor allem aber fühlte sie sich nach dem Unterricht regelmäßig entspannt und in fröhlicher Stimmung. Sie war eine begeisterte Übende. Herr S. ging es indessen zunehmend schlechter. Seit zehn Monaten hatte er eine neue Stelle in einem Consulting-Unternehmen. Die langen Arbeitszeiten und Überstunden störten ihn weniger als sie seiner Freundin auf die Nerven gingen. Die Arbeit selbst machte ihm großen Spaß, er war gut, er hatte geniale Einfälle und die Anerkennung seiner Chefs war ihm sicher. Gleichzeitig hatte er in letzter Zeit zunehmende Schwierigkeit, einzuschlafen. Zunächst kein Problem: Da konnte er auch noch ein wenig über innovative Projekte nachdenken. Die Einschlafstörungen nahmen mehr und mehr zu und begannen, sich jeweils am folgenden Tag ein wenig bemerkbar zu machen. Er war reizbar, innerlich etwas erregter als er es von sich kannte. Von seiner Freundin darauf angesprochen, ob er vielleicht einmal Yoga versuchen wollte, um besser zu schlafen, fand er, das sei nichts für ihn.

Es war sie, die die Verschlechterung seines Zustands immer deutlicher wahrnahm. Herzrasen war dazu gekommen; die Wochenenden, die früher ihren gemeinsamen Unternehmungen reserviert waren, dienten nun ausschließlich seiner Erholung. Er versuchte, Schlaf nachzuholen, was ihm aber nicht gelang. Eines Tages erzählte er seiner Freundin, dass er im Büro eine Akte verlegt hatte und sich nicht mehr erinnern konnte, wo sie zu suchen sei – ein mittleres Desaster, weil sie die Grundlage einer wichtigen Besprechung hätte sein sollen. Dass er zumindest wegen seiner körperlichen Störungen ärztlichen Rat suchen sollte, wie ihm seine Freundin riet, fand er nicht. Er müsse es selbst wieder in den Griff bekommen. Erst als er eines Tages morgens nicht mehr aufstehen wollte und die Vorstellung, mit den anderen Kolleginnen und Kollegen am Arbeitsplatz Strategien zu diskutieren, ihm einen Anfall von Herzrasen auslöste, begann er den Ernst der Situation, in die er geraten war, zu begreifen. Jetzt fand selbst: »So kann es nicht weiter gehen«.

Yoga versteht Leid als eine persönliche und nur persönliche Erfahrung. Wer bei Yoga Hilfe sucht, macht dies aus einer bestimmten Erfahrung heraus. Die persönliche Situation muss erlebt werden als eine, die Veränderung benötigt. Unbedingt und jetzt. Heilung durch Yoga beginnt mit der Einsicht, dass es so wie bisher nicht mehr weitergehen kann und darf. Dass etwas getan werden muss. Dass dafür eigene Initiative, eine eigene Anstrengung nötig ist.

Das war für Herrn S. alles andere als einfach. Der Yoga-Kontakt seiner Partnerin brachte ihn nun dazu, einen Termin zu vereinbaren. Die ersten Gespräche mit ihm waren bestimmt von viel innerem Kopfschütteln auf seiner Seite. Wie konnte es sein, dass er den Ernst seiner Situation nicht erkannt hatte? Er war bekannt dafür, dass er einen scharfen analytischen Geist hatte. Er, der sich über viele Jahre hinweg mit Psychologie und Selbsterfahrung beschäftigt hatte? Seine Enttäuschung über sich selbst wurde nur noch übertroffen durch die Härte, mit der er sich dafür verurteilte. Zu dem dynamischen jungen Berater, der er war, passte die Wahrnehmung seiner selbst als schlaflos, ausgebrannt und krank gar nicht. Es sollte einige Zeit dauern, bis sich nach und nach vollzog, was in diesem Fall wesentlicher Bestandteil des Heilungsprozesses wurde: das Annehmen der Tatsache, dass er in eine schwierige Situation geraten war.

Verstehen

Mit dem Beginn der Einsicht, dass etwas schiefgelaufen war, begannen bei Herrn S. die Frage aufzutauchen, wie es dazu kommen konnte. Was ist es denn, was die Situation so auf die Spitze getrieben hat? Eigentlich arbeitete er »nicht mehr als die anderen Kollegen auch«. Im Laufe des letzten Jahres war ein neuer Chef zum Team gekommen, der einiges verändert hatte. So war er einer Art »Bereitschaftsdienst-Gruppe« zugeteilt worden, die Kunden im Notfall auch an den Wochenenden zur Verfügung standen. Das war allerdings nicht oft passiert, hatte aber, wie er jetzt bemerkte, seine Freizeitplanungen stark beeinflusst. Eine weitere Neueinstellung hatte ihm auf seiner Arbeitsebene eine sehr fitte junge Kollegin beschert, die sich schnell einen guten Namen gemacht hatte. In manchen Bereichen hatte er es manchmal nicht ganz einfach, mit ihr mitzuhalten. Und dann war da natürlich seine Partnerin, die ihm sehr deutlich machte, dass sie sich einen Partner wünschte, der mehr Initiative und Unternehmungslust zeigt, als er es in den vergangenen Monaten konnte. Das hatte ihn unter Druck gesetzt und einige Auseinandersetzung mit sich gebracht.

Das alles erzählte er seiner Yogalehrerin, um deutlich zu machen, dass die an ihn gestellten Anforderungen eigentlich »ganz normal« gewesen seien, damit müsse heutzutage eben jeder umgehen. Der Schwerpunkt der Yogapraxis für ihn lag zunächst darauf, die quälenden Symptome, also die Schlafprobleme und seine zunehmende Unruhe zu reduzieren. Über mehrere Wochen hinweg übte er einfache Āsana unter sehr viel Betonung des Atems. Das hatte zweierlei zur Folge: Einmal wurde sein Schlaf besser. Er konnte so wieder Energie für seine Beziehung aufbringen. Das Leben machte etwas mehr Freude. An der Situation am Arbeitsplatz hatte sich nichts geändert; dort sah er auch keine Chancen für eine Entlastung.

Mit seinem regelmäßigen Yogaprogramm hatte er jedoch das Gefühl, den Anforderungen im Betrieb etwas gelassener gegenüberzustehen. Es erschien ihm alles nicht mehr so anstrengend. Zum anderen erlebte er das Üben des kleinen Yogaprogramms vor allem als entspannend und etwas Abstand schaffend. Er selbst machte sein regelmäßiges Üben dafür verantwortlich, dass er seine Lebenssituation nun zunehmend anders erlebte. Die Anforderungen erschienen ihm inzwischen doch nicht als so »normal«, wie er sie bisher wahrgenommen hatte. Allmählich wurde ihm deutlich, dass seine innere Unruhe und die Verschlechterung seiner Schlafprobleme zeitliche Abhängigkeiten zu vermehrten beruflichen und partnerschaftlichen Drucksituationen aufwiesen. Obwohl ihm seine Partnerin diesen Zusammenhang schon oft vorgehalten hatte, konnte er es erst jetzt auch so sehen. Weil er diese »Aha-Erlebnisse«, wie er sie nannte, in einen engen Zusammenhang zu seiner Yogapraxis stellte, berichtete er im Yogaunterricht ganz selbstverständlich darüber.

Für einige Zeit nahmen diese Gespräche einen nicht kleinen Teil der jeweiligen Unterrichtsstunde in Anspruch und es wurde deutlich, dass ihn das Verstehen des Warums der entstandenen Probleme erst einmal entlastete. Sein Zusammenbruch erschienen ihm nicht mehr einfach vom Himmel gefallen, sondern mehr und mehr »gemacht«. Gleichzeitig erschien ihm seine berufliche Belastung lange Zeit als kaum veränderbar. Ein mit seiner Arbeitssituation gut vertrauter alter Freund war es schließlich, mit dem er darüber intensive Gespräche führte, die sich als große Hilfe herausstellten.

Ein Reflexionsprozess, wie ihn Herr S. über die Umstände seiner Erkrankung erlebte, ist in dieser Art keineswegs immer notwendiger Bestandteil einer Yogatherapie. Er hatte sich vielmehr aus der Besonderheit seiner Beschwerden, seiner Situation und aus seinen Bedürfnissen an seine Yogalehrerin ergeben.

Es gibt viele Erkrankungen, die einer solchen Art des Verstehens auch gar nicht zugänglich sind. Deren Ursprung in den Genen oder auch in einem komplexen und nicht mehr nachvollziehbaren Geflecht von Funktionsstörungen und Fehlreaktionen liegen kann. Auch Herrn S. Erkrankung lässt sich nicht allein aus den Belastungen erklären, denen er ausgesetzt war.

Krankheit entwickelt sich sehr viel komplexer, sehr viel weniger geradlinig, als manche einfache Erklärungsmodelle glauben machen wollen.

Trotzdem spielt in der Yogatherapie das Verstehen eine besondere Rolle. Hervorgebracht wird dieser Aspekt vom Prozess des selbstständigen Übens und seiner Einbettung in einen Austausch mit der Lehrerin, dem Lehrer über die Erfahrung und Wirkung dieses Übens.

  • Dabei geht es zum einen darum, die Umstände der Beschwerden und die Möglichkeiten ihrer Beeinflussung zu verstehen.
  • Zum anderen geht es um die Entwicklung eines besseren Verständnisses der inneren Prozesse, die schließlich zum Erleben von Leid führen.

Oft sind es kleine, eigentlich auf der Hand liegende Erkenntnisse, die eine große Wirkung entfalten. Etwa die Erkenntnis, dass Rückenschmerzen und die Angst davor, dass sie einen in den eigenen Zukunftsplänen einschränken, nicht das Gleiche sind. Oft auch ist es die Einsicht in Grenzen, die erst einmal angenommen werden müssen. Oft die bewusste Erfahrung, wie veränderlich Beschwerden sind, wie unterschiedlich sie empfunden werden. Mehr Verstehen ist nichts, was sich »machen« lässt. Auch nichts, was sich durch gute Ratschläge oder scharfsichtige Interpretationen von außen fördern ließe.

Mehr Verstehen hat im Yoga hauptsächlich zu tun mit eigener Erfahrung. Es ist die Erfahrung im regelmäßigen Üben einer persönlich gestalteten Praxis; die Erfahrung in der Kommunikation mit der Person, die diese Praxis vermittelt, anpasst und begleitet; die Erfahrung, dass sich auf diesem Hintergrund der Blick auf den Alltag bisweilen verändert und klarer wird.

Unterschiedliche Wege – Vielfalt der Mittel

Welche Mittel des Yoga in Form einer Übungs-Praxis nun für die jeweilige Situation die richtigen sind, entscheidet sich nach einfachen Kriterien:

  • Zunächst braucht es ein praktizierbares Übungsprogramm. Das bedeutete z. B., eine Praxis für Herrn S. zu finden, die überhaupt in seinen sehr knappen und von Antriebslosigkeit geprägten Alltag passte. Sie durfte nicht zu lang sein, musste aber trotzdem noch genug Wirkung entfalten.
  • Dann gelingt regelmäßiges Üben natürlich nur, wenn es auch Freude macht. Das war in diesem Fall eine Übungssequenz, in der er sich auch viel bewegen und seinen Körper spüren konnte.
  • Eine Yogaübungspraxis für zu Hause muss zu der Person passen. Ob dies wirklich der Fall ist, zeigt sich allein in den Erfahrungen und Wirkungen, die sich für die übende Person aus der Praxis ergeben. Eine Kommunikation darüber ist für den Yogalehrenden unabdingbar. Wie sonst sollte es möglich sein, eine Praxis richtig einzuschätzen und entsprechend weiterzuentwickeln?
  • Eine Übungspraxis muss sich dabei auch mit der Veränderung des Menschen wandeln. Sie soll einem Menschen, der es mit einer Störung zu tun hat, wieder zu einem Erleben von Ganzheit und Wohlbefinden zurückhelfen. Es wäre töricht, zu glauben, eine solche Übungspraxis ließe sich ein für alle Mal finden und festschreiben. Wenn sich den Praktizierenden neue Themen und Perspektiven eröffnen, brauchen sie auch neue Impulse. Dafür bedarf es im Yoga-Unterrichten einer offenen und vertrauensvollen Kommunikation. Nicht selten bekommt das Gespräch eine so wichtige Bedeutung, wie dies – zumindest für einige Stunden – bei Herrn S. der Fall war. Aber für ihn war es in dieser Zeit eben wichtig, mit seiner Yogalehrerin Dinge zu thematisieren, die er zunächst weder im Betrieb noch zu Hause ansprechen konnte. Er sagte dazu einmal: »Oft geht es mir so, dass mir schon in dem Moment, wo ich ein Problem hier bei Ihnen formuliere, einer erste Antwort darauf einfällt«.

Beziehung

Frau K. hat sich entschlossen, »es mit Yoga zu versuchen«. Viele unterschiedliche Behandlungen und Untersuchungen hat sie in den vergangenen sieben Jahren ausprobiert, um ihre chronischen Schulter-Nacken-Schmerzen in den Griff zu bekommen, die ihr zunehmend das Leben zur Qual haben werden lassen. Sie berichtet von den einzelnen Therapien, die sie versucht hat. Sie beschreibt sie als »für mich hat das nichts gebracht«, ohne Schuldzuweisungen und Bitterkeit. Aber es ist ihr anzumerken: ihre Nerven liegen blank. Mehr und mehr bestimmt die körperliche Qual ihren Alltag. Kopfschmerzen entwickeln sich mittlerweile regelmäßig aus den Verspannungen heraus, wenn sie ihrem Beruf als Sekretärin in einer gehobenen Stellung nachgeht. Sie plant persönliche Unternehmungen und Wochenenden schon lange nach der zu erwartenden Einschränkung durch langes Sitzen am PC oder Mitstenografieren von Sitzungen. Eine gewisse Abhängigkeit von Schmerzmedikamenten, die sie gelegentlich schon vor solchen Sitzungen »vorsorglich« einnimmt, macht ihr zunehmend Sorgen.

Bei ihrem ersten individuellen Yoga-Termin mit ihrer Lehrerin kommentiert sie: »Diese einfachen Übungen sollen helfen? Da haben schon ganz andere Dinge nichts gebracht. Ich bin es gewohnt, etwas mehr zu tun. Nur keine Angst, es darf ruhig etwas anstrengender sein«.

Dennoch kann sie sich auf das regelmäßige Üben ihres kleinen täglichen Programms einlassen. Die Lehrerin erklärt ihr einige Übungsprinzipien wie die Notwendigkeit des schmerzfreien Übens so, dass sie ihr doch plausibel erscheinen. Und zum Erstaunen von Frau S. findet ihre Lehrerin für jeden Übungsvorschlag tatsächlich eine Möglichkeit, wie er ohne Schmerz geübt werden kann. Und: Es sieht ganz so aus, als sei die Yogalehrerin sehr zuversichtlich, dass das Üben Frau S. voranbringen werde. Als sie das erste Wochenende weitgehend schmerzfrei erlebt, ist ihr Vertrauen in ihr Yoga-Übungsprogramm sowie in die Kompetenz und Fürsorge der Lehrerin gewachsen. Sie ist es ja, die dieses Programm für sie und mit ihr stetig perfektioniert. Auch eine gänzlich ungeliebte Übung kann sie durch einen Bewegungsablauf ersetzen, der Frau S. mehr Freude macht.

Ihre Lehrerin zeigt nun auch zunehmend Interesse an den alltäglichen Belastungen. Obwohl Frau S. der vielen Ratschläge, die sie im Laufe ihres Leidens schon zu hören bekommen hat, recht überdrüssig ist, kann sie sich jetzt darauf einlassen.

Sie hat das Gefühl, dass es ihrer Lehrerin darum geht, wirklich zu verstehen, in welcher schwierigen Situation sie sich immer wieder befindet und wie wenig Möglichkeiten sich ihr bieten, ihrem Nacken Gutes zu tun. Die Gesundung schreitet voran. Ein böser Rückfall, den sie nach einer Serie langer Marathonverhandlungen im Betrieb erleidet, führt zu einem kurzfristig anberaumten Yogatermin. Dass die Yogalehrerin mit großer Selbstverständlichkeit gemeinsam mit ihr zu einer neuen Übungsserie findet, die sie problemlos praktizieren kann, macht ihr Mut. Und siehe da: Der Rückfall dauert vier Tage, dann kann sie wieder dort weiter üben, wo sie vorher aufhören musste. Sie beginnt stolz auf die Ergebnisse ihres Bemühens zu sein, sie freut sich zusammen mit der Lehrerin über die Fortschritte. Heute belächelt sie ihre früheren Zweifel an der Wirksamkeit der Übungen.

Beziehung heilt

Heilung ist ohne die Existenz einer Beziehung zwischen Betroffener/m und YogatherapeutIn nicht denkbar. Diese Beziehung ist der Boden, auf dem Yoga seine heilende Wirkung überhaupt erst entfalten kann. Natürlich kann jemand mit einem Schulterschmerz auch ein Yogabuch aufschlagen, eine CD anschauen, daraus einige Übungen probieren und damit Erfolg haben. Es trifft auch zu, dass nicht jeder Kopfschmerz eine Konsultation beim Arzt erfordert. Aber Achtung: Der Vergleich hinkt. Zum einen lehrt die Erfahrung, dass es häufig schwierig ist, den nötigen Abstand zu sich selbst zu finden, um mithilfe von Yoga eine wirksame Strategie gegen eine Störung zu entwickeln: »Mein Arm müsste sich doch auch in dieser Haltung noch bewegen lassen«, oder: »Wenn sechs Wiederholungen gutgetan haben, werden zwölf sicher noch viel besser helfen«, oder: »Nun mache ich diese Übung schon drei Tage und noch immer tut sich nichts. Sollte ich nicht etwas anderes probieren?«.

Daneben ist die Einnahme von Aspirin bei Kopfschmerzen sehr viel einfacher zu handhaben als der Umgang mit Körper- oder Atemübungen. Aspirin verändert unsere innere Biochemie auf eine immer recht ähnliche Weise. Selbst für eine simple Armbewegung etwa gilt dies aber keineswegs. Um einmal auf einer sehr einfachen Ebene zu bleiben: Eine solche Bewegung kann in einer bestimmten Situation zu einer besseren Durchblutung, einem Lösen von Spannungen und einer Verminderung von Schmerzen führen. Unter anderen Umständen kann sie aber ein entzündetes Schultergelenk noch mehr reizen, Spannungen erhöhen und Schmerz vergrößern. Der Umgang mit Yogaübungen verlangt eine bestimmte Kompetenz, wenn deren positiven Wirkungen wirklich ausgeschöpft werden sollen. In der Regel wird selbst einem Yogaerfahrenen angesichts einer Störung oder Krankheit diese Kompetenz fehlen. Das Wichtigste aber ist: Die Zuwendung des Yogatherapeuten, der -therapeutin selbst ist Teil des Heilungsprozesses.

Dass Heilung von Krankheit etwas mit der Beziehung zu tun hat, in deren Rahmen ein Genesungsprozess stattfindet, bestreitet heute niemand mehr ernsthaft.

Viel diskutiert wird allerdings, wie groß der Einfluss dieser Beziehung jeweils einzuschätzen ist und welche Erklärung für die Wirkung dieser Beziehung tatsächlich taugt.

Wie viel Einfluss?

Zuerst zum Ausmaß des Einflusses einer Beziehung auf die Wirksamkeit einer Therapie. Natürlich gibt es hier offensichtliche und große Unterschiede. Sie wird bei der Entfernung eines Gallensteins, der Gabe von Antibiotika oder einer massiven chiropraktischen Manipulation begrenzter sein als bei Verfahren, die viel auf Kommunikation angewiesen sind und sich über eine längere Zeit entwickeln.

Trotzdem zeigen entsprechende Studien, dass auch die Erfolgsraten bei einer kurzfristigen Gabe von Antibiotika oder die von Gallen­steinoperationen nachweislich mit einer gelungenen Arzt-Patienten-Beziehung zu tun haben.

Als sehr bedeutsam, oft sogar als entscheidend für die therapeutische Wirksamkeit, wird heute der Einfluss der Beziehung auf ein Heilungsgeschehen bei Verfahren wie einem psychotherapeutischen Gespräch angesehen. Seien es ÄrztInnen, HeilpraktikerInnen, HomöopathInnen, Feldenkrais-TherapeutInnen oder eben YogalehrerInnen: Wie unterschiedlich groß und wichtig ihr Einfluss auch sein mag: Beziehung hat am Erfolg ihrer Arbeit einen großen Anteil.

Welche Erklärungen?

In den Diskussionen über mögliche Erklärungen der Wirkungen einer therapeutischen Beziehung hat sich in den vergangenen Jahren ein gravierender Wandel vollzogen. So war man früher in der Schulmedizin recht schnell mit dem Hinweis auf den sogenannten Placebo-Effekt zur Hand. Weil sich der Patient einbildet, dass eine von einem Arzt oder Ärztin gegebene Pille einfach helfen muss, hilft sie auch. Auf der anderen Seite war es im alternativen Heilbereich Mode, statt Einbildung die Wirkung wundersamer Energien zu vermuten, die man bei besonderer Begabung auf einen Patienten übertragen könne.

Heute gibt es dagegen sehr fundierte und differenzierte Vorstellungen davon, wie sich die Wirkung des Heilfaktors Beziehung erklären lässt. Es braucht dafür weder den Glauben an geheimnisvolle Energien noch werden Wirkungen, die sich aus der Beziehung PatientIn-TherapeutIn ergeben, als Resultat einer besonders gut entwickelten Einbildungskraft diffamiert.

Um es kurz zu machen: Vertrauen in die Therapeutin, den Therapeuten, Zuversicht in Bezug auf die Möglichkeit einer Heilung mobilisiert ein gutes Zusammenspiel vielfältiger menschlicher Systeme (z. B. auf der Ebene der Hormone, der Immunabwehr, der Psycho-vegetativen Regulation und der neuralen Regulation).

Sie unterstützen die Gesundung und Heilung. Andererseits setzt mangelndes Vertrauen oder gar Ablehnung gegenüber einer therapeutischen Intervention Prozesse im Menschen in Bewegung, die entsprechende Wirkungen mindern oder verhindern können. Das lässt sich nachweislich auf Medikamente ebenso beziehen wie auf die Person der Therapeutin, des Therapeuten.

Mit der unterstützenden und heilenden Wirkung von Beziehung wird in verschiedenen Therapieformen unter­schied­lich umgegangen. Für einen chirurgischen Patienten zum Beispiel wird sich die Beziehung zum Arzt vorwiegend darüber herstellen, wie viel Kompetenz dieser vermittelt und wie viel Zeit er sich für ihn nehmen kann. Die Vorgehensweise in bestimmten Formen der Psychotherapie bezieht sich dagegen direkt auf den Aufbau einer intensiven und besonderen Beziehung. Die damit verbundenen Emotionen, Erwartungen usw. werden dann im therapeutischen Prozess selbst thematisiert und genutzt.

Für eine Yogatherapie, so wie sie hier beschrieben wird, gilt: Die Entwicklung einer persönlichen Yogapraxis geht ganz natürlich einher mit dem Aufbau einer Beziehung zwischen YogatherapeutIn und Übendem/r. Die Erfahrung ist, dass sich diese Beziehung in sehr verschiedener Weise gestalten kann. Das gilt für ihre Intensität, für die Bedeutung, die ihr die übende Person gibt; das gilt auch für ihre Inhalte. Je nachdem, wie sich diese Beziehung entwickelt, wird sie schließlich den Heilungsprozess auf unterschiedliche Art beeinflussen. Der Respekt vor dem jeweiligen besonderen Charakter dieser Beziehung ist ein wesentlicher Schlüssel dafür, dass in diesem Kontext erfolgreich gearbeitet werden kann.

Wie immer aber eine solche Beziehung aussehen mag – das darin entstandene Vertrauen ist schließlich einer der wichtigen Aspekte, die die Beziehung wirken lassen.

Tradition

Wenn im Kontext des Yoga von Beziehung zwischen LehrerIn und SchülerIn die Rede ist, werden vielleicht auch Assoziationen geweckt an das in Indien über lange Jahrhunderte einzige und jede Pädagogik beherrschende Unterrichtsmodell. Es lebt von einer ganz besonderen Beziehung zwischen dem Schüler einerseits und dem Lehrer, dem Guru, andererseits. Dieses traditionelle indische Modell kann in der Diskussion um die angemessene Beziehung in einem Heilungsprozess heute im Westen keine Orientierung sein.

Das indische Beziehungsmodell lebt von einer festen, starren und hierarchischen Rollenverteilung, die zuallererst aufseiten des Schülers, der Schülerin ein enormes Maß an Vertrauen, ja oft Unterwerfung einfordert. In alten Texten ist entsprechend viel und ausführlich von den Pflichten der SchülerInnen die Rede, von Regeln, wie sie sich zu verhalten haben, von der Art und Weise, wie sie Respekt gegenüber ihrem Lehrer zu erbringen haben und davon, wie sehr sie sich ohne zu hinterfragen, auf die Anweisungen des Lehrers, der Lehrerin einzulassen haben.

Es macht jedoch sehr viel mehr Sinn, das Vertrauen, das einer Yogalehrerin, einem Yogalehrer entgegengebracht wird, als ein Geschenk zu verstehen. Gegeben vor allem als Reaktion auf ihr oder sein Interesse an dem betroffenen Menschen.

Dieses Vertrauen ist zunächst nur geliehen und es wird von der Yogalehrerin, dem Yogalehrer bei jedem Kontakt neu »verdient«. Vertrauen ist keine Frage der korrekten Erfüllung einer zugewiesenen Rolle wie im indischen Kontext – hier Guru, da SchülerIn. Vertrauen ist auch keine Frage des Willens. Auch kann es nicht eingefordert werden (Sie müssen mir schon vertrauen). Es entwickelt sich langsam auf dem Boden positiver Erfahrungen. Aber es ist von größter Bedeutung. Es ist der Hintergrund, auf dem das Üben einer persönlichen Yogapraxis sich entfaltet.

Ohne Vertrauen eines Yogaübenden in die Yogalehrerin, den Yogalehrer bleibt das Üben behaftet mit Zweifeln. Es wird schnell halbherzig.

Rückschläge beim Üben unterbrechen die kontinuierliche Praxis und lassen Mutlosigkeit und Antriebslosigkeit aufkommen. Anstatt ein Gefühl von »jetzt erst recht« zu wecken, unterbrechen Schwierigkeiten auf diese Weise die Wirkung des kontinuierlichen Impulses, mit dem das regelmäßige Üben am System der Praktizierenden rührt. All das erfährt jemand, der aus Krankheitsgründen oder vorsorgend Yoga übt, intuitiv im Umgang mit seiner Yogatherapeutin, seinem Yogatherapeuten. Der menschliche Kontakt, das Interesse an der Person, an ihrem Befinden, der Respekt für den Menschen, der in Not ist, das hartnäckige Suchen nach dem für sie optimalen Programm, all das stellt die Beziehung her, in der Yoga seine Wirkung durch das Üben entfalten wird.

Die Grundlagen der Beziehung in einem Prozess von Yogatherapie heute im Westen sind also sehr verschieden von denen der indischen Tradition, in der Yoga über die Jahrhunderte vermittelt wurde.

Außer Frage steht jedoch die große Bedeutung, die Beziehung auch im therapeutischen Prozess des Yoga hat und die Tatsache, dass Vertrauen eine wesentliche Kraft in jedem wirklichen Heilungsprozess ist.

Interesse

Es wurde mehrfach erwähnt, dass sich im individuellen Unterrichten von Yoga eine Beziehung ganz natürlich herstellt. Warum natürlich? Weil das Konzipieren, Entwickeln und Vermitteln einer persönlichen Yogapraxis vom Interesse der Lehrenden lebt und sich daraus eine Kommunikation entwickelt, in der Vertrauen wachsen kann. Jedenfalls dann, wenn dieser Unterricht auf professionelle Weise stattfindet. Vonseiten der Lehrerin, des Lehrers braucht es ein wirkliches Interesse an der Person, die mit ihrem Anliegen gekommen ist. Das äußert sich schon in einfachen Fragen wie:

  • Was bringt sie zum Yoga?
  • Wie äußern sich Beschwerden?
  • Unter welchen Umständen verändern sie sich?
  • Was hat bisher geholfen?
  • Wann am Tag könnte sich die Zeit für eine Praxis finden?
  • Wie ging es Ihnen mit Ihren Übungen?

Dieses Interesse äußert sich auch, wenn mithilfe einfacher Übungen die körperlichen Möglichkeiten und Einschränkungen eines Menschen erkundet werden. Oder wenn nach Alternativen für eine Übung gesucht wird, die sich als nicht praktikabel erwiesen hat. Wem ein solches Interesse widerfährt, erlebt dies als Zuwendung, als Empathie. Es ist diese Zuwendung, aus der heraus sich Vertrauen speist. Wer Vertrauen hat, öffnet sich, erzählt, dass sie es nicht geschafft hat, in den vergangenen Wochen zu üben. Und dies ohne Scheu und schlechtes Gewissen. Wer Vertrauen hat, muss einen Schmerz nicht schlimmer machen als er ist, aus dem Gefühl heraus, nicht ernst genommen zu werden. Von dieser Offenheit lebt die Einschätzung von Übungswirkungen und den daraus zu ziehenden Konsequenzen. Vertrauen in die Lehrerin, den Lehrer, in die gegebenen Übungen, in das gesamte Setting liefert also den Boden, ohne den Heilung nicht gedeihen kann.

Fazit

Es war das Anliegen in diesem ersten Artikel über Yoga als Heilmethode vorrangig drei Aspekte hervorzuheben.

  • Yoga kann Heilmethode, kann Therapie sein, wenn Yoga als Übungsverfahren ernst genommen wird. Eine regelmäßig und selbstständig geübte Yogapraxis vermag große Wirkungen zu entfalten.
  • In der therapeutischen Arbeit mit Yoga zeigt sich eine große Vielfältigkeit in den Anliegen, mit denen Menschen zum Yoga kommen. Entsprechend ganzheitlich muss auch der Ansatz sein, der sie aufgreifen kann. In diesem Sinne lässt sich in der Yogatherapie der ganzheitliche Ansatz des Yoga erkennen.
  • Ein zentraler Moment im Heilungsprozess, der mithilfe von Yoga bei einem Menschen in Gang gesetzt werden kann, ist die vertrauensvolle Beziehung zum Unterrichtenden, zur YogalehrerIn.

In den folgenden Teilen wird mehr von den Mitteln des Yoga zu sprechen sein, die im therapeutischen Prozess eingesetzt werden. Dabei wird es zuerst um die Bedeutung des regelmäßigen und eigenständigen Übens selbst gehen. Üben als Wiederholung eines immer gleichen Ablaufs, Üben als eine Aktivität, die auf ganz besondere Weise, in einem besonderen Setting, in einer besonderen Stimmung stattfindet, entfaltet gerade auch aus diesen Besonderheiten heraus ihre Wirkung. Daneben wird es auch darum gehen, welche Rolle in der therapeutischen Yogaarbeit eigentlich Āsana, Prāṇāyāma, Meditation und andere Techniken, wie Mantren spielen. Schließlich wird danach zu fragen sein, in welchem Zusammenhang dieser therapeutische Prozess mit dem Yogaweg in seiner ganzen Dimension steht, was das Besondere des therapeutischen Umgangs mit Yoga ausmacht. ▼

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Einleitung

Der Weg des Yoga hinein in die westlichen Gesellschaften Europas und Amerikas verlief über sehr unterschiedliche Stationen. Über viele Jahre hinweg war Yoga die Sache einer kleinen Minderheit. Einige wenige spirituell Suchen­de verstanden Yoga, das „indische Ge­schen­k an die Welt“, als eine Art Geheimwissen, das sie zu ergründen und anzuwenden versuchten. Wer diese exotische Lehre praktizierte, galt als seltsame Person, als AußenseiterIn, ein wenig verschroben. Yoga wurde in Zirkeln geübt, die gelegentlich indischen Heimatvereinen ohne Inder glichen. Das Verständnis von Yoga war zutiefst durch seine kulturellen Wurzeln gefärbt und geprägt. Mit der Zeit verlor diese Verbindung mit indi­scher Kultur und Weltanschauung an Bedeutung. Dabei rückten auch die Körper­übun­gen des Yoga ganz in den Mittelpunkt der Auf­merksamkeit. Was immer auch die Gründe für diese Entwicklung gewesen sind: Immer mehr Menschen begannen körperlich und seelisch vom Yogaüben zu profitieren.

Yogaüben wurde eingereiht in ein rasch wachsendes Angebot unterschiedlicher Übungs­verfahren, die Entspannung, körper­liches Wohlbefinden und Gesundheit versprachen. Mehr und mehr wurde Yoga in der Öffentlichkeit als ein attraktives und wirksames Verfahren wahrgenommen, mit dessen Hilfe man sich um die eigene Gesundheit, um körperliches Wohl­befin­den kümmern konnte. Schließlich waren es die Krankenkassen selbst, die Yoga zu einer aner­kannten Methode in ihren Kampagnen zur Prävention adelten.

Seit einigen Jahren vollzieht sich nun ein weiterer Schritt. Er gründet auf der Erfahrung, dass Yoga auch bei kranken Menschen positive Wirkungen entfaltet. Der thera­peu­tische Aspekt des Yoga findet inzwischen immer mehr Beachtung und die mediale Öffentlichkeit zeigt ein großes Interesse an dem Thema.

In der Ärzte­schaft häuften sich entsprechend Patien­ten­emp­fehlungen: „Versuchen Sie es doch mal mit Yoga“. Mittlerweile führen eine große Anzahl von Studien den Nachweis, dass Yoga verschiedene Erkran­kun­gen günstig beeinflusst. Viele der Studien waren anfangs noch unzulänglich in Anlage und Ausführung. Immer mehr genügen jedoch den international geforderten Standards und zeigen, dass Yoga ein wirksames komplementäres Mittel bei unter­schied­lichen körperlichen und seelischen Stö­rungen sein kann.

In den vergangenen Jahren hat das Interesse an diesen therapeuti­schen Angeboten einen großen Zuwachs erfahren, der unvermindert anhält. Dabei vollzog sich über die Jahre auch ein Wandel in der Klientel, die im Yoga nach Unter­stützung und Hilfe sucht. Es sind immer mehr jüngere Menschen; der Anteil der Männer ist mit etwa einem Drittel ungleich viel höher als in normalen Yogagruppen. Selten spielt bei der Entscheidung für Yoga ein Interesse an dessen indischen Wurzeln oder gar die Sehn­sucht nach exotischen Wundermitteln eine Rolle.

Yoga als Heilmethode ist offensichtlich in unserer Gesellschaft angekommen.

Deshalb ist es auch an der Zeit, die Dimensionen dieser Methode auszu­loten und zu diskutieren. Damit möchte dieser Artikel einen Anfang machen. Er speist sich aus den vielen positiven Erfahrungen und erfolg­reichen therapeutischen Interventionen. Und natürlich auch aus dem Lernen in den intensiven gemeinsamen Diskus­sionen über manche Misserfolge, Fehlschläge und Fehler.

Heilmethode Yoga – ein kurzer Überblick

Praxis

Yoga als Heilmethode, als Therapie ist im Wesentlichen ein Übungsverfahren. In seinem Mittelpunkt steht eine regelmäßig und selbstständig geübte Praxis. Diese Praxis wird durch eineN LehrerIn mit entsprechender Kompetenz individuell konzipiert und unterrichtet – geübt wird zu Hause. In Abständen von Wochen oder Monaten wird der Übungsablauf entlang der Erfahrungen und erzielten Ergebnisse weiter entwickelt, nötigenfalls korrigiert und nicht selten auch über lange Zeiträume hinweg fortgeschrieben und begleitet. Die so erarbeitete Yogapraxis spricht den Körper und Atem eines Menschen ebenso an wie sein Fühlen, seine Wahrnehmung und seine Fähigkeit zur Ausrichtung. Vor allem aber verbindet sie diese verschiedenen Ebenen zu einem einheitlichen Üben und positiven Übungserleben.

Ansatz

Yoga als Heilmethode richtet sich gleichzeitig

  • auf die Harmonisierung gestörter Körperfunktionen,
  • auf die Art und Weise, wie diese Störungen erlebt werden und welche Haltung dazu eingenommen wird
  • und auf die psychische und körperliche Befindlichkeit eines Menschen insgesamt.

Je nachdem, welches Anliegen von einem kranken Menschen in den Mittelpunkt gestellt wird, kann die von einer Yogapraxis angestrebte Wirkung unterschiedliche Ebenen betreffen. Manchmal wird es darum gehen, die Häufigkeit quälender Migräneanfälle zu reduzieren, Rückenschmerzen zu beheben oder Prüfungsängste zu vermindern. Manchmal darum, angesichts einer schweren Erkrankung wieder einen hellen Streifen am Horizont zu sehen. Oder darum, sich einfach wieder wohler in der eigenen Haut zu fühlen. Oder um das angenehme Gefühl, selbstständig etwas Gutes für sich tun zu können. Oder auch einfach ein paar Minuten »Urlaub« vom Alltag zu erleben. Es ist eine große Vielfalt von Bedürfnissen, die sich mit dem Entschluss zu einer regelmäßigen Yogapraxis verbindet. Trotzdem gelingt es immer wieder, im Üben eine dieser Vielfalt angemessene Erfahrung und Wirkung zu erreichen.

Ziele

Die langjährige Erfahrung im Umgang mit Yoga als therapeutisches Verfahren, so wie der Blick auf die immer zahlreicher werdenden wissenschaftlichen Studien zeigen, was Yoga kann:

  • vegetative Prozesse harmonisieren
  • körpereigene Abwehrkräfte stärken
  • neuromuskuläre Störungen im Bewegungsapparat beheben
  • Verspannungen lösen
  • Stress reduzieren
  • psychisches Wohlbefinden fördern
  • Haltung und Umgang mit einer Krankheit, einer Einschränkung oder einem Problem beeinflussen
  • mehr Geduld und Akzeptanz im Umgang mit sich selbst lehren
  • Raum für die Entwicklung neuer Lösungsstrategien schaffen
  • Ängste verringern
  • Möglichkeit geben, eigene Erwartungen zu überprüfen und zu verändern

Wirkung

Eine angemessene Yogapraxis stützt sich auf die vorhandenen mentalen, emotionalen und körperlichen Möglichkeiten eines Menschen und entwickelt sie – Yogatherapie ist ressourcenorientiert. Die Wirkung von Yoga als Heilmethode speist sich dabei aus:

  • Den mit dem regelmäßigen Üben in Gang gesetzten inneren Prozessen der positiven Selbstregulierung auf körperlicher und psychischer Ebene. Sie spricht dabei an, was auch bei jedem Schnupfen beobachtet werden kann: Unter günstigen Bedingungen zeigt sich die Fähigkeit des menschlichen Systems, körperlichen Störungen und Ungleichgewichten angemessen zu begegnen und sie aufzulösen. Diese innere Tendenz zum Gleichgewicht wirkt ebenso bei jeder guten Konfliktbewältigung. Unter günstigen Bedingungen sind Menschen in der Lage, auch schwierigste Konflikte zu erkennen und Lösungen zu finden, die allen Beteiligten gerecht werden. In diesem Sinne wirkt auch Yoga: Die regelmäßige Übungspraxis, ihr Setting und die damit verbundenen Erfahrungen schaffen in einem Menschen günstige Bedingungen für positive selbstregulative Prozesse.
  • Der Stärkung des Vertrauens, aus eigener Kraft zum eigenen Wohlbefinden beitragen zu können.
  • Der den gesamten Prozess unterstützenden Beziehung zwischen YogalehrerIn und Betroffener/m.

Yoga als Weg

Der Umgang mit Yoga reicht von der Nutzung als körperorientiertes Work-out oder als Entspannungsverfahren über die Anwendung als Heilverfahren bis zu Yoga als eigenständigem spirituellem Weg. Werden Menschen nach ihren Erfahrungen mit einer kompetent begleiteten Yogapraxis gefragt, erweisen sich diese unterschiedlichen Aspekte oft als nur schwer voneinander abgrenzbar. Spiritualität bezieht im Yoga auch einen positiven Umgang mit dem Körper, ein Bemühen um Gesundheit ein; in einem Heilungsprozess können spirituelle Aspekte eine wichtige Rolle spielen und selbst ein sehr körperorientierter Umgang mit den Übungen des Yoga erlaubt Menschen bisweilen Erfahrungen, die sie in ihrem Innersten tief berühren.

Mittel

Erfolgreich ist Yogatherapie auch deshalb, weil sie über eine Vielzahl unterschiedlicher Mittel verfügt. Dazu gehören neben anderem:

  • zahlreiche Haltungen und Bewegungsabläufe (Āsana)
  • besondere Atemübungen (Prāṇāyāma)
  • Übungen, die mit den mentalen Fähigkeiten eines Menschen arbeiten (Meditation)
  • Übungen, in denen Tönen, Silben und Worte im Mittelpunkt stehen (Mantren)
  • ein klärendes Gespräch
  • Anregungen für eine angemessene und gesunde Alltagsorganisation und Lebensordnung

Kompatibilität

Yoga erweist sich als komplementär zu allen anderen therapeutischen Systemen. Zu den Verfahren der Schulmedizin ebenso wie zu den unterschiedlichsten alternativen Methoden wie den klassischen Naturheilverfahren, der Traditionellen Chinesischen Medizin, Anthroposophischen Medizin oder Ayurveda (der, obwohl ebenfalls von indischem Ursprung, mit Yoga kaum Berührungspunkte hat). Ohne Schwierigkeiten lässt sich Yogapraxis auch mit allen psychotherapeutischen Verfahren verbinden, kann sie unterstützen oder von ihnen unterstützt werden.

Begriffe? Heilen – Heilerin – Wunderheiler …

In der Zeit des Mittelalters, als die Menschen hierzulande noch Mittelhochdeutsch sprachen, verband man mit der Benutzung des Wortes heil die Bedeutung von Glück. Heilfroh zu sein, so wie wir es auch heute noch manchmal sind, ist also im eigentlichen Sinn des Wortes ein doppeltes Glück. Heil beinhaltete aber auch die Bedeutung von Rettung. In diesem Sinne beschreibt heilfroh Zustand und Empfinden einer Person, die aus einer schwierigen Situation gerettet wurde oder sich retten konnte – sie ist glücklich darüber. So stammt auch das Wort heilig der gleichen Wortwurzel wie heil.

Ein Heiland wird der Retter genannt, der die Menschen aus ihrem Zustand des Unglücks erlösen kann. Schließlich war auch die Freiheit von Krankheit ein Aspekt der alten Bedeutung des Wortes heil: heil im Sinne von gesund. Wenn wir heute nicht sagen: ich bin ganz heil, sondern ich bin ganz gesund, dann spricht das vielleicht dafür, dass sich gesund sein eher auf einen Teilbereich des Menschen bezieht. Nicht der ganze Mensch einschließlich seiner Psyche, seiner Stimmung ist gemeint, sondern gesund bezieht sich eher auf ein ordentliches Funktionieren der einzelnen Körperorgane.

HeilerIn – diese Bezeichnung hat heute allerdings einen zwiespältigen Klang. Zum einen drückt sich in ihr tatsächlich ein positiver Anspruch auf eine ganzheitliche Sichtweise aus: EinE HeilerIn, so kann man vermuten, kümmert sich mehr um den Menschen als Ganzes, nicht nur um das Funktionieren seiner einzelnen Teile. Andererseits werden HeilerInnen nicht selten assoziiert mit wundersamen, unerklärlichen oder gar unseriösen Methoden.

Dass Heilen aber auch früher schon auf eine nachvollziehbare Weise gelang, kann daraus geschlossen werden, dass bereits damals ein anderer Personenkreis von dem der HeilerInnen unterschieden wurde: die WunderheilerInnen. Man glaubte also, dass manche HeilerInnen ihr Werk mithilfe von Wundern vollbrachten. Die Arbeit der Heilerinnen – ohne Wunder – wurde wohl mehr verstanden als Handwerk mit solidem Boden. Ein Boden aus Wissen, Erfahrung, Intuition, gesundem Menschenverstand und – später mehr und mehr – auch gezielter Forschung und organisierter Prüfung von Behandlungsergebnissen. Heilen hatte also eher nur ausnahmsweise etwas mit dem Glauben an Wunder oder mysteriösen Geschehnissen zu tun.

Heilen ist Gesunden – ein Fall

Seit etwa sieben Monaten waren Schmerzen im Rücken von Frau B. ein ständiger Begleiter geworden. Ins linke Gesäß ausstrahlende Rückenschmerzen waren ihr auch zuvor nicht unbekannt. Erstmalig aufgetreten waren sie, so erinnerte sich die junge Frau, während des Studiums. Es hatte aber lange Phasen über Monate gegeben, in denen sie ihren unteren Rücken nicht besonders spürte; es hatte Zeiten gegeben, in denen sie morgens nur mit einer unangenehmen Steifheit im Rücken aufwachte, die schnell verflog, wenn sie sich bewegte; ein paar mal hatte auch ein Hexenschuss sie einige Tage lang lahmgelegt – aber so schlimm wie in den vergangenen Monaten war es noch nie gewesen.
Schon am Morgen kam sie kaum aus dem Bett. Besser wurde es, wenn sie heiß duschen konnte und sich ein wenig bewegte. Sitzen war unangenehm. Schwierig war auch, dass ihre kleine vierjährige Tochter gerade morgens so gern auf den Arm wollte; manchmal war dies der Startschuss für einen ganzen Tag mit heftigen Schmerzen.

Frau B. erzählte, dass sie seit einem Jahr mit dem Kind allein lebte, sie hatte sich von ihrem Partner getrennt. Die Kleine brachte sie auf dem Weg zur Arbeit in den Kindergarten und holte sie am frühen Nachmittag ab. Ihre Beschwerden wurden meistens im Laufe des Tages heftiger. Längeres Sitzen (sie arbeitet als Lektorin in einem Verlag) sowie schweres Tragen verschlechterte die Situation. Gelegentlich nahm sie eine Schmerztablette, wenn die Beschwerden unerträglich wurden. Zur Physiotherapie ging sie zweimal in der Woche; wirklich besser war es aber nicht geworden. Was ihr meistens half, die Schmerzen zu verringern, war eben eine heiße Dusche, das Hochlegen der Beine auf einen Hocker, ein langsamer, nicht allzu langer Spaziergang am Wochenende, bei dem ihre kleine Tochter selbstständig neben ihr herzockelte und nicht getragen werden musste.

Ihre Yogalehrerin schlug ihr nach dem ersten Gespräch und einem körperlichen Check eine kurze Übungspraxis von 15 Minuten vor. Sie war für ein morgendliches Üben konzipiert, wenn die Tochter noch schlief. Vierzehn Tage später kam Frau W. zum zweiten Termin. Die Übungen taten ihr gut – wenn sie üben konnte, ohne dass das Kind dazu kam und »mitüben« wollte. Das war etwa in der Hälfte der 14 Tage der Fall gewesen. Wenn das Üben gelang, hatte sie unmittelbar danach merkbar weniger Beschwerden – im Laufe des Tages nahmen sie aber wie gewohnt zu.

Das zweite Programm baute auf die ersten Übungen auf. Frau B’s Lehrerin begann damit, die Anforderungen in den Übungen etwas zu steigern und riet ihr, den Übungszeitraum auf den Abend zu verlegen.

Nach drei Wochen meldete sich Frau B. mit einer guten Nachricht zurück: Ihr Dauerschmerz war verschwunden; ein paar Stunden am Tag konnte sie ihn vergessen; sie hatte schon mal einen Tag gehabt, an dem ihr gar nichts weh tat.

Nach einer erneuten Veränderung der Übungsabfolge, die sie für weitere vier Wochen übte, berichtete sie am vereinbarten Termin von einem Rückfall: Die Schmerzen waren seit einer Woche wieder täglich da, allerdings nicht den gesamten Tag über. Ihr Kind war krank geworden und konnte nicht in die Kita gehen; sie blieb zu Hause, musste es viel herumtragen, sich über das Bett bücken. All diese Dinge hatten nach ihrem Eindruck viel zu der Verschlechterung beigetragen, aber was sollte sie tun? So war eben ihr Alltag. Ihre Verzweiflung konnte sie schlecht zurückhalten, als sie dies alles erzählte.

Mit einem neuen, der Situation angepassten Programm ging sie wieder nach Hause; sie war sehr diszipliniert was ihr Üben betraf. »Was bleibt mir anderes übrig?« war ihr Kommentar dazu. »Zumindest hilft es immer unmittelbar«. Nach weiteren drei Monaten begannen sich die inzwischen wieder eingetretenen Verbesserungen zu stabilisieren. Ein Jahr nach dem Anfang des regelmäßigen Übens geht es ihr gut. Sie hat noch immer das, was sie einen »empfindlichen Rücken« nennt, ist aber weit davon entfernt, eine Rückenschmerzpatientin zu sein. Wenn sich das alte Leiden mal wieder meldet, begegnet sie ihm mit einem der früheren Yogaprogramme bis es wieder in Ordnung gekommen ist. Dann übt sie weiter ihre fordernden Āsana und ist inzwischen überzeugt, dass sie ihren Rücken »wieder ganz gesund bekommen« wird.

Wie aus Krankheit Leid entsteht

Krankheit birgt Erfahrungen und eine Dynamik in sich, die weit über das Erleben der unmittelbaren Symptome hinausgeht. Sie führt leicht zu Enge und nicht selten zu großem Leid. Diese Dimension trägt allerdings nicht jede Störung in sich. Krank sein – und damit eine körperliche Störung zu haben, ist für die Betroffenen bisweilen gar kein Problem. Wer einmal im grauen November einen kleinen grippalen Infekt hatte und einen lieben Menschen, der den Tee ans Bett brachte, ein gutes Buch zur Hand und alle Zeit der Welt, sich auszuschlafen, wird das bestätigen.

Sehr viel häufiger jedoch geht Krank-Sein einher mit einem Gefühl von Enge, von Sorge, von Elend. Der erste Besucher, der sich einstellt, wenn in unserem System etwas schiefläuft, ist die Angst. Es ist, als öffne ein Schmerz, ein Unwohlgefühl oder das Abweichen der körperlichen Funktionen von der Norm ganz leicht einen Türspalt in uns, durch den die Angst hineinschlüpft. Und rasch kann sie sich dann in uns breit machen. Die Besorgnis, ihre Arbeit zu Hause und auf der Arbeit nicht mehr zu schaffen, das Gefühl, nur noch einen sehr engen Spielraum für die Bewältigung ihres Alltags zu haben, keine Reserven mehr angesichts der alleinigen Verantwortung für ihr Kind, diese Ängste ließen Frau B. im vorigen Abschnitt manchmal fast verzweifeln.

Für viele Menschen verbindet sich das Erleben körperlicher Einschränkung zudem mit dem Gefühl einer diffusen existenziellen Bedrohung. Besorgnis um das eigene Leben entwickelt sich, das Erinnern der eigenen Vergänglichkeit, die Vision von Chronifizierung der Krankheit und Siechtum scheint auf.

»Ich möchte auf meine alten Tage nicht im Rollstuhl sitzen«, begann kürzlich ein junger Mann mit quälenden und chronischen Knieschmerzen die Beschreibung seines Anliegens, das ihn zum Yoga führte. Und nicht selten drängen sich für ernsthaft kranke Menschen Gedanken an Tod und Sterben auf, Erinnerung an Erfahrungen mit Angehörigen oder Freunden, die an einer Erkrankung gestorben sind.

Aber auch die Beziehungsgeflechte auf der Arbeit und im Privaten erscheinen schnell gefährdet:

  • Kann ich meinen Kollegen das antun, dass ich heute nicht zur Arbeit gehe?
  • Wir sind doch schon so knapp besetzt.
  • Was werden die anderen denken, wenn ich schon wieder krank bin?
  • Wie fühlt sich meine Tochter, wenn ich sie nicht mehr auf den Arm nehme?
  • Und dann die unsichere Zukunft: Wird die Krankheit mich in Zukunft weiter beschäftigen und beeinträchtigen?
  • Was, wenn die Beschwerden nicht mehr weggehen oder gar zunehmen?
  • Wird es mir möglich sein, meine Pläne zu verwirklichen oder wird die Krankheit mein weiteres Leben bestimmen?

Frau B.s Lebensplanung zum Beispiel war festgelegt: Sie hatte allein ihre kleine Tochter großzuziehen. Angesichts ihrer Erkrankung war der Blick in die Zukunft sehr düster geworden. Was, wenn ich das körperlich nicht schaffe? Und dann ist da noch der Schmerz an sich. Wir sind in der Lage, manche Schmerzen zu vergessen, wenn wir uns auf eine Aufgabe, unsere Arbeit, etwas Freudiges oder Wichtiges konzentrieren.

Das funktioniert aber nur, wenn ein Schmerz eine bestimmte Intensität nicht überschreitet. Andernfalls setzen sich Schmerzen gegen jeden Versuch sie zu ignorieren durch.

Diese Erfahrung musste auch Frau B. machen. Lange hatte das Ausblenden des Schmerzes geklappt, irgendwann war sie dazu einfach nicht mehr in der Lage. Auch das »Annehmen« des Schmerzes (ein Ratschlag einer Freundin von Frau B.) war dann keine Lösung mehr, die für die Schmerzintensitäten getaugt hätte.

Stärkste Schmerzen wirken unmittelbar auf das gesamte menschliche System, nicht zuletzt auf die psychische Befindlichkeit. Schmerzen können so eng machen, dass neben ihnen nichts anderes mehr Platz findet. Auf der anderen Seite hat das Erleben von Schmerzen viel damit zu tun, wie ich sie einschätze: Sind sie bedrohlich, nur vorübergehend, oberflächlich oder Zeichen einer ernsten Störung?

Das Leiden an einer Krankheit ist nur zu verstehen als ein Prozess, der bei einer Störung, einer Einschränkung oder einem Schmerz erst beginnt. Und der sich dann fortsetzt auf verschiedenen Ebenen und schließlich den ganzen Menschen auf eine jeweils besondere Weise erfasst.

Das gilt auch dort, wo das Körperliche nicht dominiert wie bei Depressionen oder Angstzuständen. In diesen Fällen ist die erlebte Enge, das Symptom selbst, schon das erlebte Leid.

Krankheit betrifft also immer das ganze menschliche System. Hier setzt Yoga an: Yogatherapie hat die gesamte Befindlichkeit ebenso wie die Störung, das Symptom im Blick, sieht deren Zusammenhang und ist auf eine Veränderung beider ausgerichtet.

Als Frau B. zum ersten Mal bemerkte, dass ihre Schmerzen positiv beeinflussbar waren, bedeutete dies eine große psychische Entlastung für sie. Sie berichtete ihrer Yogalehrerin, dass sie an diesem Tag so frohen Mutes war wie schon lange nicht mehr. Das empfand sie auch später als eine ungemein wertvolle Erfahrung. Endlich wieder etwas selbst bewegen zu können, endlich nicht mehr nur die Passive sein müssen. Ebenso erlebte sie etwas, was sie »natürlich auch schon wusste«, was ihr aber über die vielen Monate von Krankheitserfahrung doch abhandengekommen war. Es gibt noch eine Frau B., die nicht nur krank ist, eine, die mal unbesorgt sein kann, die es wagt, Pläne zu schmieden, die albern und ausgelassen sein kann. Kurz gesagt erlebte sie eine Wahrheit, die man getrost als eine der wesentlichen Grundlagen jeder Yogatherapie verstehen kann. Ein kranker Mensch ist mehr als seine Krankheit. Es gibt da noch Ressourcen, es gibt da noch Gesundes, das sich entwickeln kann.

Gesund oder heil

Heil-Sein hat auch etwas mit Glück zu tun, mit Wohl-Sein und Wohlbefinden, mit Stimmigkeit und Freude. Körperlich gesund zu sein heißt nicht immer, sich heil oder geheilt zu fühlen.

Ein anderer Klient, Herr M., hat erfahren, dass er an einer äußerst bösartigen Erkrankung des Lymphsystems erkrankt ist. Die beiden ersten Runden einer anstrengenden Chemotherapie hatte er hinter sich, als er sich entschloss, Yoga zu üben. Schon das erste Gespräch, in dem er sehr deutlich machen konnte, was er sich von Yoga erwünschte, brachte etwas ins Spiel, was neben dem Befall seiner Lymphknoten durch die Tumorzellen von großer Bedeutung für ihn war. Er berichtete, dass er die letzten zehn Jahre seines Lebens sehr aufmerksam und bewusst mit sich umgegangen sei, auf seine Ernährung geachtet habe, für Pausen im Beruf und Möglichkeiten abzuschalten gut gesorgt habe, dass er in einer glücklichen Partnerschaft lebe und sich sicher war, sich selbst recht gut zu kennen. Und nun dieses!

Die Erschütterung seines Selbstbildes machte ihm neben der durch die körperliche Erkrankung und therapeutisch bedingte Schwäche und Mattheit enorm viel zu schaffen. Sie ließ ihn – gepaart mit den vielen Ängsten vor der Zukunft – schlecht schlafen; er grübelte ganze Nächte hindurch.

Seine Yogalehrerin unterstützte ihn während der gesamten Zeit der Chemotherapie-Zyklen mit mehr oder weniger kurzen Yogaübungsprogrammen, je nachdem, wie es sein körperlicher Zustand erlaubte. Was ihm am wichtigsten dabei war: Dass er mit dem Yoga-Üben selbst in den Prozess seiner Behandlung eingreifen und so das Gefühl der Machtlosigkeit etwas eingrenzen konnte. Nach Abschluss der Behandlung hatte sich der Lymphtumor vollständig zurückgebildet, Herr M. erholte sich langsam aber stetig und kam wieder zu Kräften. Seine Stimmung jedoch wurde nicht besser. Stundenlang konnte er in dunklen Gedanken versunken dasitzen. Die Freude seiner Umgebung über die gelungene Behandlung konnte er nicht wirklich teilen – immer gab es ein »Aber«.

Nachdem die Nachuntersuchungen stetig eine Stabilisierung des Gesundungsprozesses bestätigten und seine behandelnden ÄrztInnen ihn nach einem Jahr als sicher geheilt entließen, ging es ihm auch seelisch etwas besser. Ängste, die Krankheit könne zurückkommen, lösten sich auf. Zurück jedoch blieb etwas, was er beschrieb als »eine innere offene Wunde«. Ohne dass diese sich schließen würde, konnte er sich nicht vorstellen, sich wieder wirklich gut zu fühlen; es war die tiefe Verletzung seines Selbst-Bewusstseins.

Jemand zu sein, der sich so sehr in sich selbst täuschen konnte! Nicht der zu sein, dessen er sich sicher gewesen war, hatte eine große Verunsicherung hinterlassen.

Sie hatte sich auch ein Jahr nach Beendigung der gefährlichen Krankheit nicht aufgelöst. Herr M. ist noch immer dabei, mithilfe des Yoga an seiner Heilung zu arbeiten. Er sagt, sein Yoga-Programm helfe ihm, mit den wiederholt auftretenden depressiven Phasen gut zu Recht zu kommen und immer wieder auf die Realität zu schauen. Er kann sich entspannen und sehr langsam aber immer besser den Menschen M. annehmen, den er durch seine Krankheit kennengelernt hat.

Leiden

Das Konzept, das Yoga mit der Idee des Heilens verbindet, führt in eine Richtung, die beides beinhaltet: das Beseitigen und Verhindern von körperlichen Störungen und einen Prozess, der über das Eliminieren von Krankheit hinausgeht. Es ist der von Patañjali im Yoga Sūtra entwickelte Ansatz, mit dem sich Yoga dem Menschen auf ganzheitliche Weise öffnet. Um dies besser zu verstehen, muss man sich das Konzept vergegenwärtigen, um das der gesamte Yoga kreist: das Konzept des Leidens, duḥkha.

Spricht man im Yoga von duḥkha, so meint man einen Zustand von innerer Verletztheit, eine »offene Wunde«, wie Herr M. es beschrieb, die sich nicht von allein schließt. Es muss jedoch nicht immer solche Dimensionen haben.

Man kann auch sagen: duḥkha steht für alle Gefühle, deren Fortdauer wir nicht wünschen.

Das fängt an bei einem kleinen Hader, einer kaum spürbaren inneren Reibung, einer Unstimmigkeit, und umfasst eine große Bandbreite negativer Gefühle, die von einem alltäglichen Kummer, einer Sorge, widerstreitenden Gefühlen über große innere Not, Zerrissenheit bis zu tiefster Verzweiflung und endlos quälenden Gedanken reichen kann.

Leid erleben

Ein solcher Zustand, solche Gefühle, lassen sich allerdings nicht immer anderen Menschen so vermitteln, dass sie richtig verstanden werden. Frau W., eine weitere Klientin, hatte ein einziges Anliegen: Seit einem Jahr in den Wechseljahren hatte sie, die schon immer an trockener Haut mit einer Neigung zur Faltenbildung litt, eine dramatische Verschlechterung dieser Tendenz feststellen müssen. Jeder Blick in den Spiegel verband sich mit einem Anflug von Abscheu und Panik, wenn sie hier oder da eine neue Falte, eine Vertiefung der schon bekannten bemerkte. Jedes neue Kleidungsstück war ihr verleidet, weil es nicht mehr zu passen schien zu dem Alter, das sie mit ihren Falten verband. Da sie in einem Frauenmagazin gelesen hatte, dass Yoga schön macht, wollte sie Yoga üben. Yoga sollte ihr helfen, Ihre Falten zu verringern.

Wie fühlt man sich als YogalehrerIn, wenn man unmittelbar vor einem Gespräch mit dieser Frau mit jemandem wie Herrn M. zu tun hatte? Wie empfindet man ihr Anliegen, wenn man davon liest? Auch wenn es schwerfallen mag, es so zu nennen: Es ist duḥkha. Der innere Widerstand gegenüber dem Anliegen von Frau W. ist nur Ausdruck davon, dass ihre Not nicht angemessen verstanden wird. Sie hat es schwer, ihr Leid zu kommunizieren, wenn man nicht offen für eine wichtige Tatsache ist:

Duḥkha ist persönlich und nur persönlich. Ausschließlich wer davon betroffen ist, weiß, ob er leidet und wie sehr. Keine noch so perfekt tarierte Waage kann messen, ab welcher Schwere ein Ereignis zum Leid wird.

Leid wahrnehmen und akzeptieren

Jahrelang ging die Freundin von Herrn S. einmal in der Woche zum Yogaunterricht. Seit sie sich kennengelernt hatten, erzählte sie ihm, wie gut ihr das tat. Ihre Kopfschmerzen waren mittlerweile völlig verschwunden; ihr Alltag hatte sich entschleunigt, wie sie es nannte. Sie empfand das als sehr angenehm. Vor allem aber fühlte sie sich nach dem Unterricht regelmäßig entspannt und in fröhlicher Stimmung. Sie war eine begeisterte Übende. Herr S. ging es indessen zunehmend schlechter. Seit zehn Monaten hatte er eine neue Stelle in einem Consulting-Unternehmen. Die langen Arbeitszeiten und Überstunden störten ihn weniger als sie seiner Freundin auf die Nerven gingen. Die Arbeit selbst machte ihm großen Spaß, er war gut, er hatte geniale Einfälle und die Anerkennung seiner Chefs war ihm sicher. Gleichzeitig hatte er in letzter Zeit zunehmende Schwierigkeit, einzuschlafen. Zunächst kein Problem: Da konnte er auch noch ein wenig über innovative Projekte nachdenken. Die Einschlafstörungen nahmen mehr und mehr zu und begannen, sich jeweils am folgenden Tag ein wenig bemerkbar zu machen. Er war reizbar, innerlich etwas erregter als er es von sich kannte. Von seiner Freundin darauf angesprochen, ob er vielleicht einmal Yoga versuchen wollte, um besser zu schlafen, fand er, das sei nichts für ihn.

Es war sie, die die Verschlechterung seines Zustands immer deutlicher wahrnahm. Herzrasen war dazu gekommen; die Wochenenden, die früher ihren gemeinsamen Unternehmungen reserviert waren, dienten nun ausschließlich seiner Erholung. Er versuchte, Schlaf nachzuholen, was ihm aber nicht gelang. Eines Tages erzählte er seiner Freundin, dass er im Büro eine Akte verlegt hatte und sich nicht mehr erinnern konnte, wo sie zu suchen sei – ein mittleres Desaster, weil sie die Grundlage einer wichtigen Besprechung hätte sein sollen. Dass er zumindest wegen seiner körperlichen Störungen ärztlichen Rat suchen sollte, wie ihm seine Freundin riet, fand er nicht. Er müsse es selbst wieder in den Griff bekommen. Erst als er eines Tages morgens nicht mehr aufstehen wollte und die Vorstellung, mit den anderen Kolleginnen und Kollegen am Arbeitsplatz Strategien zu diskutieren, ihm einen Anfall von Herzrasen auslöste, begann er den Ernst der Situation, in die er geraten war, zu begreifen. Jetzt fand selbst: »So kann es nicht weiter gehen«.

Yoga versteht Leid als eine persönliche und nur persönliche Erfahrung. Wer bei Yoga Hilfe sucht, macht dies aus einer bestimmten Erfahrung heraus. Die persönliche Situation muss erlebt werden als eine, die Veränderung benötigt. Unbedingt und jetzt. Heilung durch Yoga beginnt mit der Einsicht, dass es so wie bisher nicht mehr weitergehen kann und darf. Dass etwas getan werden muss. Dass dafür eigene Initiative, eine eigene Anstrengung nötig ist.

Das war für Herrn S. alles andere als einfach. Der Yoga-Kontakt seiner Partnerin brachte ihn nun dazu, einen Termin zu vereinbaren. Die ersten Gespräche mit ihm waren bestimmt von viel innerem Kopfschütteln auf seiner Seite. Wie konnte es sein, dass er den Ernst seiner Situation nicht erkannt hatte? Er war bekannt dafür, dass er einen scharfen analytischen Geist hatte. Er, der sich über viele Jahre hinweg mit Psychologie und Selbsterfahrung beschäftigt hatte? Seine Enttäuschung über sich selbst wurde nur noch übertroffen durch die Härte, mit der er sich dafür verurteilte. Zu dem dynamischen jungen Berater, der er war, passte die Wahrnehmung seiner selbst als schlaflos, ausgebrannt und krank gar nicht. Es sollte einige Zeit dauern, bis sich nach und nach vollzog, was in diesem Fall wesentlicher Bestandteil des Heilungsprozesses wurde: das Annehmen der Tatsache, dass er in eine schwierige Situation geraten war.

Verstehen

Mit dem Beginn der Einsicht, dass etwas schiefgelaufen war, begannen bei Herrn S. die Frage aufzutauchen, wie es dazu kommen konnte. Was ist es denn, was die Situation so auf die Spitze getrieben hat? Eigentlich arbeitete er »nicht mehr als die anderen Kollegen auch«. Im Laufe des letzten Jahres war ein neuer Chef zum Team gekommen, der einiges verändert hatte. So war er einer Art »Bereitschaftsdienst-Gruppe« zugeteilt worden, die Kunden im Notfall auch an den Wochenenden zur Verfügung standen. Das war allerdings nicht oft passiert, hatte aber, wie er jetzt bemerkte, seine Freizeitplanungen stark beeinflusst. Eine weitere Neueinstellung hatte ihm auf seiner Arbeitsebene eine sehr fitte junge Kollegin beschert, die sich schnell einen guten Namen gemacht hatte. In manchen Bereichen hatte er es manchmal nicht ganz einfach, mit ihr mitzuhalten. Und dann war da natürlich seine Partnerin, die ihm sehr deutlich machte, dass sie sich einen Partner wünschte, der mehr Initiative und Unternehmungslust zeigt, als er es in den vergangenen Monaten konnte. Das hatte ihn unter Druck gesetzt und einige Auseinandersetzung mit sich gebracht.

Das alles erzählte er seiner Yogalehrerin, um deutlich zu machen, dass die an ihn gestellten Anforderungen eigentlich »ganz normal« gewesen seien, damit müsse heutzutage eben jeder umgehen. Der Schwerpunkt der Yogapraxis für ihn lag zunächst darauf, die quälenden Symptome, also die Schlafprobleme und seine zunehmende Unruhe zu reduzieren. Über mehrere Wochen hinweg übte er einfache Āsana unter sehr viel Betonung des Atems. Das hatte zweierlei zur Folge: Einmal wurde sein Schlaf besser. Er konnte so wieder Energie für seine Beziehung aufbringen. Das Leben machte etwas mehr Freude. An der Situation am Arbeitsplatz hatte sich nichts geändert; dort sah er auch keine Chancen für eine Entlastung.

Mit seinem regelmäßigen Yogaprogramm hatte er jedoch das Gefühl, den Anforderungen im Betrieb etwas gelassener gegenüberzustehen. Es erschien ihm alles nicht mehr so anstrengend. Zum anderen erlebte er das Üben des kleinen Yogaprogramms vor allem als entspannend und etwas Abstand schaffend. Er selbst machte sein regelmäßiges Üben dafür verantwortlich, dass er seine Lebenssituation nun zunehmend anders erlebte. Die Anforderungen erschienen ihm inzwischen doch nicht als so »normal«, wie er sie bisher wahrgenommen hatte. Allmählich wurde ihm deutlich, dass seine innere Unruhe und die Verschlechterung seiner Schlafprobleme zeitliche Abhängigkeiten zu vermehrten beruflichen und partnerschaftlichen Drucksituationen aufwiesen. Obwohl ihm seine Partnerin diesen Zusammenhang schon oft vorgehalten hatte, konnte er es erst jetzt auch so sehen. Weil er diese »Aha-Erlebnisse«, wie er sie nannte, in einen engen Zusammenhang zu seiner Yogapraxis stellte, berichtete er im Yogaunterricht ganz selbstverständlich darüber.

Für einige Zeit nahmen diese Gespräche einen nicht kleinen Teil der jeweiligen Unterrichtsstunde in Anspruch und es wurde deutlich, dass ihn das Verstehen des Warums der entstandenen Probleme erst einmal entlastete. Sein Zusammenbruch erschienen ihm nicht mehr einfach vom Himmel gefallen, sondern mehr und mehr »gemacht«. Gleichzeitig erschien ihm seine berufliche Belastung lange Zeit als kaum veränderbar. Ein mit seiner Arbeitssituation gut vertrauter alter Freund war es schließlich, mit dem er darüber intensive Gespräche führte, die sich als große Hilfe herausstellten.

Ein Reflexionsprozess, wie ihn Herr S. über die Umstände seiner Erkrankung erlebte, ist in dieser Art keineswegs immer notwendiger Bestandteil einer Yogatherapie. Er hatte sich vielmehr aus der Besonderheit seiner Beschwerden, seiner Situation und aus seinen Bedürfnissen an seine Yogalehrerin ergeben.

Es gibt viele Erkrankungen, die einer solchen Art des Verstehens auch gar nicht zugänglich sind. Deren Ursprung in den Genen oder auch in einem komplexen und nicht mehr nachvollziehbaren Geflecht von Funktionsstörungen und Fehlreaktionen liegen kann. Auch Herrn S. Erkrankung lässt sich nicht allein aus den Belastungen erklären, denen er ausgesetzt war.

Krankheit entwickelt sich sehr viel komplexer, sehr viel weniger geradlinig, als manche einfache Erklärungsmodelle glauben machen wollen.

Trotzdem spielt in der Yogatherapie das Verstehen eine besondere Rolle. Hervorgebracht wird dieser Aspekt vom Prozess des selbstständigen Übens und seiner Einbettung in einen Austausch mit der Lehrerin, dem Lehrer über die Erfahrung und Wirkung dieses Übens.

  • Dabei geht es zum einen darum, die Umstände der Beschwerden und die Möglichkeiten ihrer Beeinflussung zu verstehen.
  • Zum anderen geht es um die Entwicklung eines besseren Verständnisses der inneren Prozesse, die schließlich zum Erleben von Leid führen.

Oft sind es kleine, eigentlich auf der Hand liegende Erkenntnisse, die eine große Wirkung entfalten. Etwa die Erkenntnis, dass Rückenschmerzen und die Angst davor, dass sie einen in den eigenen Zukunftsplänen einschränken, nicht das Gleiche sind. Oft auch ist es die Einsicht in Grenzen, die erst einmal angenommen werden müssen. Oft die bewusste Erfahrung, wie veränderlich Beschwerden sind, wie unterschiedlich sie empfunden werden. Mehr Verstehen ist nichts, was sich »machen« lässt. Auch nichts, was sich durch gute Ratschläge oder scharfsichtige Interpretationen von außen fördern ließe.

Mehr Verstehen hat im Yoga hauptsächlich zu tun mit eigener Erfahrung. Es ist die Erfahrung im regelmäßigen Üben einer persönlich gestalteten Praxis; die Erfahrung in der Kommunikation mit der Person, die diese Praxis vermittelt, anpasst und begleitet; die Erfahrung, dass sich auf diesem Hintergrund der Blick auf den Alltag bisweilen verändert und klarer wird.

Unterschiedliche Wege – Vielfalt der Mittel

Welche Mittel des Yoga in Form einer Übungs-Praxis nun für die jeweilige Situation die richtigen sind, entscheidet sich nach einfachen Kriterien:

  • Zunächst braucht es ein praktizierbares Übungsprogramm. Das bedeutete z. B., eine Praxis für Herrn S. zu finden, die überhaupt in seinen sehr knappen und von Antriebslosigkeit geprägten Alltag passte. Sie durfte nicht zu lang sein, musste aber trotzdem noch genug Wirkung entfalten.
  • Dann gelingt regelmäßiges Üben natürlich nur, wenn es auch Freude macht. Das war in diesem Fall eine Übungssequenz, in der er sich auch viel bewegen und seinen Körper spüren konnte.
  • Eine Yogaübungspraxis für zu Hause muss zu der Person passen. Ob dies wirklich der Fall ist, zeigt sich allein in den Erfahrungen und Wirkungen, die sich für die übende Person aus der Praxis ergeben. Eine Kommunikation darüber ist für den Yogalehrenden unabdingbar. Wie sonst sollte es möglich sein, eine Praxis richtig einzuschätzen und entsprechend weiterzuentwickeln?
  • Eine Übungspraxis muss sich dabei auch mit der Veränderung des Menschen wandeln. Sie soll einem Menschen, der es mit einer Störung zu tun hat, wieder zu einem Erleben von Ganzheit und Wohlbefinden zurückhelfen. Es wäre töricht, zu glauben, eine solche Übungspraxis ließe sich ein für alle Mal finden und festschreiben. Wenn sich den Praktizierenden neue Themen und Perspektiven eröffnen, brauchen sie auch neue Impulse. Dafür bedarf es im Yoga-Unterrichten einer offenen und vertrauensvollen Kommunikation. Nicht selten bekommt das Gespräch eine so wichtige Bedeutung, wie dies – zumindest für einige Stunden – bei Herrn S. der Fall war. Aber für ihn war es in dieser Zeit eben wichtig, mit seiner Yogalehrerin Dinge zu thematisieren, die er zunächst weder im Betrieb noch zu Hause ansprechen konnte. Er sagte dazu einmal: »Oft geht es mir so, dass mir schon in dem Moment, wo ich ein Problem hier bei Ihnen formuliere, einer erste Antwort darauf einfällt«.

Beziehung

Frau K. hat sich entschlossen, »es mit Yoga zu versuchen«. Viele unterschiedliche Behandlungen und Untersuchungen hat sie in den vergangenen sieben Jahren ausprobiert, um ihre chronischen Schulter-Nacken-Schmerzen in den Griff zu bekommen, die ihr zunehmend das Leben zur Qual haben werden lassen. Sie berichtet von den einzelnen Therapien, die sie versucht hat. Sie beschreibt sie als »für mich hat das nichts gebracht«, ohne Schuldzuweisungen und Bitterkeit. Aber es ist ihr anzumerken: ihre Nerven liegen blank. Mehr und mehr bestimmt die körperliche Qual ihren Alltag. Kopfschmerzen entwickeln sich mittlerweile regelmäßig aus den Verspannungen heraus, wenn sie ihrem Beruf als Sekretärin in einer gehobenen Stellung nachgeht. Sie plant persönliche Unternehmungen und Wochenenden schon lange nach der zu erwartenden Einschränkung durch langes Sitzen am PC oder Mitstenografieren von Sitzungen. Eine gewisse Abhängigkeit von Schmerzmedikamenten, die sie gelegentlich schon vor solchen Sitzungen »vorsorglich« einnimmt, macht ihr zunehmend Sorgen.

Bei ihrem ersten individuellen Yoga-Termin mit ihrer Lehrerin kommentiert sie: »Diese einfachen Übungen sollen helfen? Da haben schon ganz andere Dinge nichts gebracht. Ich bin es gewohnt, etwas mehr zu tun. Nur keine Angst, es darf ruhig etwas anstrengender sein«.

Dennoch kann sie sich auf das regelmäßige Üben ihres kleinen täglichen Programms einlassen. Die Lehrerin erklärt ihr einige Übungsprinzipien wie die Notwendigkeit des schmerzfreien Übens so, dass sie ihr doch plausibel erscheinen. Und zum Erstaunen von Frau S. findet ihre Lehrerin für jeden Übungsvorschlag tatsächlich eine Möglichkeit, wie er ohne Schmerz geübt werden kann. Und: Es sieht ganz so aus, als sei die Yogalehrerin sehr zuversichtlich, dass das Üben Frau S. voranbringen werde. Als sie das erste Wochenende weitgehend schmerzfrei erlebt, ist ihr Vertrauen in ihr Yoga-Übungsprogramm sowie in die Kompetenz und Fürsorge der Lehrerin gewachsen. Sie ist es ja, die dieses Programm für sie und mit ihr stetig perfektioniert. Auch eine gänzlich ungeliebte Übung kann sie durch einen Bewegungsablauf ersetzen, der Frau S. mehr Freude macht.

Ihre Lehrerin zeigt nun auch zunehmend Interesse an den alltäglichen Belastungen. Obwohl Frau S. der vielen Ratschläge, die sie im Laufe ihres Leidens schon zu hören bekommen hat, recht überdrüssig ist, kann sie sich jetzt darauf einlassen.

Sie hat das Gefühl, dass es ihrer Lehrerin darum geht, wirklich zu verstehen, in welcher schwierigen Situation sie sich immer wieder befindet und wie wenig Möglichkeiten sich ihr bieten, ihrem Nacken Gutes zu tun. Die Gesundung schreitet voran. Ein böser Rückfall, den sie nach einer Serie langer Marathonverhandlungen im Betrieb erleidet, führt zu einem kurzfristig anberaumten Yogatermin. Dass die Yogalehrerin mit großer Selbstverständlichkeit gemeinsam mit ihr zu einer neuen Übungsserie findet, die sie problemlos praktizieren kann, macht ihr Mut. Und siehe da: Der Rückfall dauert vier Tage, dann kann sie wieder dort weiter üben, wo sie vorher aufhören musste. Sie beginnt stolz auf die Ergebnisse ihres Bemühens zu sein, sie freut sich zusammen mit der Lehrerin über die Fortschritte. Heute belächelt sie ihre früheren Zweifel an der Wirksamkeit der Übungen.

Beziehung heilt

Heilung ist ohne die Existenz einer Beziehung zwischen Betroffener/m und YogatherapeutIn nicht denkbar. Diese Beziehung ist der Boden, auf dem Yoga seine heilende Wirkung überhaupt erst entfalten kann. Natürlich kann jemand mit einem Schulterschmerz auch ein Yogabuch aufschlagen, eine CD anschauen, daraus einige Übungen probieren und damit Erfolg haben. Es trifft auch zu, dass nicht jeder Kopfschmerz eine Konsultation beim Arzt erfordert. Aber Achtung: Der Vergleich hinkt. Zum einen lehrt die Erfahrung, dass es häufig schwierig ist, den nötigen Abstand zu sich selbst zu finden, um mithilfe von Yoga eine wirksame Strategie gegen eine Störung zu entwickeln: »Mein Arm müsste sich doch auch in dieser Haltung noch bewegen lassen«, oder: »Wenn sechs Wiederholungen gutgetan haben, werden zwölf sicher noch viel besser helfen«, oder: »Nun mache ich diese Übung schon drei Tage und noch immer tut sich nichts. Sollte ich nicht etwas anderes probieren?«.

Daneben ist die Einnahme von Aspirin bei Kopfschmerzen sehr viel einfacher zu handhaben als der Umgang mit Körper- oder Atemübungen. Aspirin verändert unsere innere Biochemie auf eine immer recht ähnliche Weise. Selbst für eine simple Armbewegung etwa gilt dies aber keineswegs. Um einmal auf einer sehr einfachen Ebene zu bleiben: Eine solche Bewegung kann in einer bestimmten Situation zu einer besseren Durchblutung, einem Lösen von Spannungen und einer Verminderung von Schmerzen führen. Unter anderen Umständen kann sie aber ein entzündetes Schultergelenk noch mehr reizen, Spannungen erhöhen und Schmerz vergrößern. Der Umgang mit Yogaübungen verlangt eine bestimmte Kompetenz, wenn deren positiven Wirkungen wirklich ausgeschöpft werden sollen. In der Regel wird selbst einem Yogaerfahrenen angesichts einer Störung oder Krankheit diese Kompetenz fehlen. Das Wichtigste aber ist: Die Zuwendung des Yogatherapeuten, der -therapeutin selbst ist Teil des Heilungsprozesses.

Dass Heilung von Krankheit etwas mit der Beziehung zu tun hat, in deren Rahmen ein Genesungsprozess stattfindet, bestreitet heute niemand mehr ernsthaft.

Viel diskutiert wird allerdings, wie groß der Einfluss dieser Beziehung jeweils einzuschätzen ist und welche Erklärung für die Wirkung dieser Beziehung tatsächlich taugt.

Wie viel Einfluss?

Zuerst zum Ausmaß des Einflusses einer Beziehung auf die Wirksamkeit einer Therapie. Natürlich gibt es hier offensichtliche und große Unterschiede. Sie wird bei der Entfernung eines Gallensteins, der Gabe von Antibiotika oder einer massiven chiropraktischen Manipulation begrenzter sein als bei Verfahren, die viel auf Kommunikation angewiesen sind und sich über eine längere Zeit entwickeln.

Trotzdem zeigen entsprechende Studien, dass auch die Erfolgsraten bei einer kurzfristigen Gabe von Antibiotika oder die von Gallen­steinoperationen nachweislich mit einer gelungenen Arzt-Patienten-Beziehung zu tun haben.

Als sehr bedeutsam, oft sogar als entscheidend für die therapeutische Wirksamkeit, wird heute der Einfluss der Beziehung auf ein Heilungsgeschehen bei Verfahren wie einem psychotherapeutischen Gespräch angesehen. Seien es ÄrztInnen, HeilpraktikerInnen, HomöopathInnen, Feldenkrais-TherapeutInnen oder eben YogalehrerInnen: Wie unterschiedlich groß und wichtig ihr Einfluss auch sein mag: Beziehung hat am Erfolg ihrer Arbeit einen großen Anteil.

Welche Erklärungen?

In den Diskussionen über mögliche Erklärungen der Wirkungen einer therapeutischen Beziehung hat sich in den vergangenen Jahren ein gravierender Wandel vollzogen. So war man früher in der Schulmedizin recht schnell mit dem Hinweis auf den sogenannten Placebo-Effekt zur Hand. Weil sich der Patient einbildet, dass eine von einem Arzt oder Ärztin gegebene Pille einfach helfen muss, hilft sie auch. Auf der anderen Seite war es im alternativen Heilbereich Mode, statt Einbildung die Wirkung wundersamer Energien zu vermuten, die man bei besonderer Begabung auf einen Patienten übertragen könne.

Heute gibt es dagegen sehr fundierte und differenzierte Vorstellungen davon, wie sich die Wirkung des Heilfaktors Beziehung erklären lässt. Es braucht dafür weder den Glauben an geheimnisvolle Energien noch werden Wirkungen, die sich aus der Beziehung PatientIn-TherapeutIn ergeben, als Resultat einer besonders gut entwickelten Einbildungskraft diffamiert.

Um es kurz zu machen: Vertrauen in die Therapeutin, den Therapeuten, Zuversicht in Bezug auf die Möglichkeit einer Heilung mobilisiert ein gutes Zusammenspiel vielfältiger menschlicher Systeme (z. B. auf der Ebene der Hormone, der Immunabwehr, der Psycho-vegetativen Regulation und der neuralen Regulation).

Sie unterstützen die Gesundung und Heilung. Andererseits setzt mangelndes Vertrauen oder gar Ablehnung gegenüber einer therapeutischen Intervention Prozesse im Menschen in Bewegung, die entsprechende Wirkungen mindern oder verhindern können. Das lässt sich nachweislich auf Medikamente ebenso beziehen wie auf die Person der Therapeutin, des Therapeuten.

Mit der unterstützenden und heilenden Wirkung von Beziehung wird in verschiedenen Therapieformen unter­schied­lich umgegangen. Für einen chirurgischen Patienten zum Beispiel wird sich die Beziehung zum Arzt vorwiegend darüber herstellen, wie viel Kompetenz dieser vermittelt und wie viel Zeit er sich für ihn nehmen kann. Die Vorgehensweise in bestimmten Formen der Psychotherapie bezieht sich dagegen direkt auf den Aufbau einer intensiven und besonderen Beziehung. Die damit verbundenen Emotionen, Erwartungen usw. werden dann im therapeutischen Prozess selbst thematisiert und genutzt.

Für eine Yogatherapie, so wie sie hier beschrieben wird, gilt: Die Entwicklung einer persönlichen Yogapraxis geht ganz natürlich einher mit dem Aufbau einer Beziehung zwischen YogatherapeutIn und Übendem/r. Die Erfahrung ist, dass sich diese Beziehung in sehr verschiedener Weise gestalten kann. Das gilt für ihre Intensität, für die Bedeutung, die ihr die übende Person gibt; das gilt auch für ihre Inhalte. Je nachdem, wie sich diese Beziehung entwickelt, wird sie schließlich den Heilungsprozess auf unterschiedliche Art beeinflussen. Der Respekt vor dem jeweiligen besonderen Charakter dieser Beziehung ist ein wesentlicher Schlüssel dafür, dass in diesem Kontext erfolgreich gearbeitet werden kann.

Wie immer aber eine solche Beziehung aussehen mag – das darin entstandene Vertrauen ist schließlich einer der wichtigen Aspekte, die die Beziehung wirken lassen.

Tradition

Wenn im Kontext des Yoga von Beziehung zwischen LehrerIn und SchülerIn die Rede ist, werden vielleicht auch Assoziationen geweckt an das in Indien über lange Jahrhunderte einzige und jede Pädagogik beherrschende Unterrichtsmodell. Es lebt von einer ganz besonderen Beziehung zwischen dem Schüler einerseits und dem Lehrer, dem Guru, andererseits. Dieses traditionelle indische Modell kann in der Diskussion um die angemessene Beziehung in einem Heilungsprozess heute im Westen keine Orientierung sein.

Das indische Beziehungsmodell lebt von einer festen, starren und hierarchischen Rollenverteilung, die zuallererst aufseiten des Schülers, der Schülerin ein enormes Maß an Vertrauen, ja oft Unterwerfung einfordert. In alten Texten ist entsprechend viel und ausführlich von den Pflichten der SchülerInnen die Rede, von Regeln, wie sie sich zu verhalten haben, von der Art und Weise, wie sie Respekt gegenüber ihrem Lehrer zu erbringen haben und davon, wie sehr sie sich ohne zu hinterfragen, auf die Anweisungen des Lehrers, der Lehrerin einzulassen haben.

Es macht jedoch sehr viel mehr Sinn, das Vertrauen, das einer Yogalehrerin, einem Yogalehrer entgegengebracht wird, als ein Geschenk zu verstehen. Gegeben vor allem als Reaktion auf ihr oder sein Interesse an dem betroffenen Menschen.

Dieses Vertrauen ist zunächst nur geliehen und es wird von der Yogalehrerin, dem Yogalehrer bei jedem Kontakt neu »verdient«. Vertrauen ist keine Frage der korrekten Erfüllung einer zugewiesenen Rolle wie im indischen Kontext – hier Guru, da SchülerIn. Vertrauen ist auch keine Frage des Willens. Auch kann es nicht eingefordert werden (Sie müssen mir schon vertrauen). Es entwickelt sich langsam auf dem Boden positiver Erfahrungen. Aber es ist von größter Bedeutung. Es ist der Hintergrund, auf dem das Üben einer persönlichen Yogapraxis sich entfaltet.

Ohne Vertrauen eines Yogaübenden in die Yogalehrerin, den Yogalehrer bleibt das Üben behaftet mit Zweifeln. Es wird schnell halbherzig.

Rückschläge beim Üben unterbrechen die kontinuierliche Praxis und lassen Mutlosigkeit und Antriebslosigkeit aufkommen. Anstatt ein Gefühl von »jetzt erst recht« zu wecken, unterbrechen Schwierigkeiten auf diese Weise die Wirkung des kontinuierlichen Impulses, mit dem das regelmäßige Üben am System der Praktizierenden rührt. All das erfährt jemand, der aus Krankheitsgründen oder vorsorgend Yoga übt, intuitiv im Umgang mit seiner Yogatherapeutin, seinem Yogatherapeuten. Der menschliche Kontakt, das Interesse an der Person, an ihrem Befinden, der Respekt für den Menschen, der in Not ist, das hartnäckige Suchen nach dem für sie optimalen Programm, all das stellt die Beziehung her, in der Yoga seine Wirkung durch das Üben entfalten wird.

Die Grundlagen der Beziehung in einem Prozess von Yogatherapie heute im Westen sind also sehr verschieden von denen der indischen Tradition, in der Yoga über die Jahrhunderte vermittelt wurde.

Außer Frage steht jedoch die große Bedeutung, die Beziehung auch im therapeutischen Prozess des Yoga hat und die Tatsache, dass Vertrauen eine wesentliche Kraft in jedem wirklichen Heilungsprozess ist.

Interesse

Es wurde mehrfach erwähnt, dass sich im individuellen Unterrichten von Yoga eine Beziehung ganz natürlich herstellt. Warum natürlich? Weil das Konzipieren, Entwickeln und Vermitteln einer persönlichen Yogapraxis vom Interesse der Lehrenden lebt und sich daraus eine Kommunikation entwickelt, in der Vertrauen wachsen kann. Jedenfalls dann, wenn dieser Unterricht auf professionelle Weise stattfindet. Vonseiten der Lehrerin, des Lehrers braucht es ein wirkliches Interesse an der Person, die mit ihrem Anliegen gekommen ist. Das äußert sich schon in einfachen Fragen wie:

  • Was bringt sie zum Yoga?
  • Wie äußern sich Beschwerden?
  • Unter welchen Umständen verändern sie sich?
  • Was hat bisher geholfen?
  • Wann am Tag könnte sich die Zeit für eine Praxis finden?
  • Wie ging es Ihnen mit Ihren Übungen?

Dieses Interesse äußert sich auch, wenn mithilfe einfacher Übungen die körperlichen Möglichkeiten und Einschränkungen eines Menschen erkundet werden. Oder wenn nach Alternativen für eine Übung gesucht wird, die sich als nicht praktikabel erwiesen hat. Wem ein solches Interesse widerfährt, erlebt dies als Zuwendung, als Empathie. Es ist diese Zuwendung, aus der heraus sich Vertrauen speist. Wer Vertrauen hat, öffnet sich, erzählt, dass sie es nicht geschafft hat, in den vergangenen Wochen zu üben. Und dies ohne Scheu und schlechtes Gewissen. Wer Vertrauen hat, muss einen Schmerz nicht schlimmer machen als er ist, aus dem Gefühl heraus, nicht ernst genommen zu werden. Von dieser Offenheit lebt die Einschätzung von Übungswirkungen und den daraus zu ziehenden Konsequenzen. Vertrauen in die Lehrerin, den Lehrer, in die gegebenen Übungen, in das gesamte Setting liefert also den Boden, ohne den Heilung nicht gedeihen kann.

Fazit

Es war das Anliegen in diesem ersten Artikel über Yoga als Heilmethode vorrangig drei Aspekte hervorzuheben.

  • Yoga kann Heilmethode, kann Therapie sein, wenn Yoga als Übungsverfahren ernst genommen wird. Eine regelmäßig und selbstständig geübte Yogapraxis vermag große Wirkungen zu entfalten.
  • In der therapeutischen Arbeit mit Yoga zeigt sich eine große Vielfältigkeit in den Anliegen, mit denen Menschen zum Yoga kommen. Entsprechend ganzheitlich muss auch der Ansatz sein, der sie aufgreifen kann. In diesem Sinne lässt sich in der Yogatherapie der ganzheitliche Ansatz des Yoga erkennen.
  • Ein zentraler Moment im Heilungsprozess, der mithilfe von Yoga bei einem Menschen in Gang gesetzt werden kann, ist die vertrauensvolle Beziehung zum Unterrichtenden, zur YogalehrerIn.

In den folgenden Teilen wird mehr von den Mitteln des Yoga zu sprechen sein, die im therapeutischen Prozess eingesetzt werden. Dabei wird es zuerst um die Bedeutung des regelmäßigen und eigenständigen Übens selbst gehen. Üben als Wiederholung eines immer gleichen Ablaufs, Üben als eine Aktivität, die auf ganz besondere Weise, in einem besonderen Setting, in einer besonderen Stimmung stattfindet, entfaltet gerade auch aus diesen Besonderheiten heraus ihre Wirkung. Daneben wird es auch darum gehen, welche Rolle in der therapeutischen Yogaarbeit eigentlich Āsana, Prāṇāyāma, Meditation und andere Techniken, wie Mantren spielen. Schließlich wird danach zu fragen sein, in welchem Zusammenhang dieser therapeutische Prozess mit dem Yogaweg in seiner ganzen Dimension steht, was das Besondere des therapeutischen Umgangs mit Yoga ausmacht. ▼

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