Was uns Leid macht

Einer der zentralen Begriffe des Yoga Sūtra von Patañjali steht in diesem Artikel im Mittelpunkt. Es geht um die Kräfte und Strukturen in uns, die Patañjali klésa nennt. Erleben wir uns enttäuscht, im Streit, unglücklich, in kleinem oder großem Leid, dann – so Patañjalis These – waren aufs Neue diese klésa am Werk.

Welches Gesicht diese Kräfte haben, welche Dynamik sie antreibt, das sind die Fragen, die im Folgenden beantwortet werden sollen.

Was uns Leid macht

Einer der zentralen Begriffe des Yoga Sūtra von Patañjali steht in diesem Artikel im Mittelpunkt. Es geht um die Kräfte und Strukturen in uns, die Patañjali klésa nennt. Erleben wir uns enttäuscht, im Streit, unglücklich, in kleinem oder großem Leid, dann – so Patañjalis These – waren aufs Neue diese klésa am Werk.

Welches Gesicht diese Kräfte haben, welche Dynamik sie antreibt, das sind die Fragen, die im Folgenden beantwortet werden sollen.

Was uns Leid macht

Einer der zentralen Begriffe des Yoga Sūtra von Patañjali steht in diesem Artikel im Mittelpunkt. Es geht um die Kräfte und Strukturen in uns, die Patañjali klésa nennt. Erleben wir uns enttäuscht, im Streit, unglücklich, in kleinem oder großem Leid, dann – so Patañjalis These – waren aufs Neue diese klésa am Werk.

Welches Gesicht diese Kräfte haben, welche Dynamik sie antreibt, das sind die Fragen, die im Folgenden beantwortet werden sollen.

Einleitung

Wie oft hört man sie von Menschen, die man als Yogalehrerin unterrichtet, und taucht sie nicht gelegentlich auch bei einem selbst auf, die Frage:

  • Wozu mache ich eigentlich Yoga?
  • Was hat sich eigentlich verändert, seit ich damit angefangen habe?

Gerade eben bin ich wieder aus der Haut gefahren, in einer Situation, die ich doch vom Verstand her durchschaut hatte, die ich mit mehr Abstand und Gelassenheit zu meistern glaubte. War es nicht erst gestern, dass ich feststellen musste, wie unsinnig, gegen meinen Willen, fast zwanghaft ich mich in einem Konflikt verhalten habe, den ich eigentlich hätte lösen können. Und ich gehe davon aus, dass ich auch morgen oder übermorgen wieder Situationen dieser Art erleben werde und erkennen muss, dass mir manche meiner heutigen Sichtweisen falsch und oberflächlich erscheinen werden.

  • Und das alles nach so langer Yogapraxis!
  • Sind meine Erwartungen falsch, wenn ich mir einen besseren Umgang mit schwierigen Situationen erhoffe?
  • Sind meine Vorstellungen, was Yoga alles bewirken kann, falsch?
  • Oder bin ich einfach nur ein besonders schwacher Mensch, ein hoffnungsloser Fall?

Die Situationen, die viele von uns immer wieder in solche Zweifel stürzen, sind nichts anderes als Begegnungen mit alten Bekannten. Seit wir das Licht der Welt erblickt haben, sind sie unsere treuesten Begleiter – die Rede ist von den klésa.

Yoga und die klésa

Der Begriff spricht für sich: klésa ist das, was Leiden verursacht. Damit sind die Strukturen, Muster, Kräfte in unserem Geist gemeint, die uns in eine Richtung drängen, in der wir uns immer wieder selbst enge Situationen voller Unglück schaffen.

Yoga ist Arbeit an diesen Strukturen.

Wenn wir uns fragen, was sich in uns durch Yoga vor allem verändern soll, dann wäre nach den Vorstellungen, die im Yoga Sūtra entwickelt werden, sicher eine der treffendsten Antworten: Dass wir es schaffen, nicht ständig dem Wirken der klésa ausgeliefert zu sein, dass die Kraft der klésa in uns immer mehr abnimmt. Deshalb gibt sich der Yoga viel Mühe, uns das Wesen der klésa und ihr Wirken zu erklären. Ebenso zeigt er Wege auf, wie wir lernen können, besser mit ihnen umzugehen und ihnen weniger Gelegenheit zu geben, uns ungut zu beeinflussen.

Für Patañjali besteht das Ziel des Yoga im Wesentlichen darin, uns von diesen Leid bringendenleidbringenden, drückenden inneren Strukturen zu befreien. Die Erwartungen, die wir an unseren Yogaweg hatten, waren also in der Tat richtig: Wenn der Yoga sagt: Du kannst dich zum Besseren verändern, dann bezieht sich das tatsächlich auf die vielen Situationen, in denen wir uns als eingeengt, unsicher, gehetzt und unzufrieden erleben.

Die schlechte und die gute Nachricht: Das Verständnis von Yoga ist von zwei Überzeugungen geprägt:

Erstens – Zum Menschsein gehören die klésa. Zum Menschsein gehört auch, dass wir Opfer dieser in uns wohnenden Strukturen werden können, die ein glücklicheres und erfüllteres Leben erschweren, manchmal sogar unmöglich machen.

Zweitens – Zum Menschsein gehört auch, dass wir über die Fähigkeit verfügen, mit diesen Mustern so umzugehen, dass sie ihre Macht über uns verlieren und wir uns darin zu großer Geschicklichkeit entwickeln können. Diese Fähigkeit, die auch in uns steckt, können wir entwickeln – Yoga zeigt dazu einen Weg.

Die klésa und avidyā

Der Klésa-Schuh drückt uns nicht, wenn wir philosophisch nachdenken, sondern wenn wir durch unser tägliches Leben gehen. Die Dinge, die Leiden verursachen – die klésa, sind gerade deshalb so erdrückend, weil sie in unserer normalen Alltagswelt stattfinden, vierundzwanzig Stunden am Tag. Deshalb versucht der Yoga, eine Strategie aufzuzeigen, wie unser Leben genossen und sinnvoll gestaltet werden kann, während wir durch die Welt gehen.

Patañjalis Yoga Sūtra hat vier Kapitel, in denen Yoga in seiner Wirkung auf den menschlichen Geist beschrieben wird. Ausgangspunkt im zweiten Kapitel ist ein Mensch, der sich entschlossen hat, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen, es zum Besseren zu verändern.

Ein solcher Mensch gerät immer wieder in schwierige Situationen, erlebt sich in seinem Verhalten als Gewohnheitstier, fühlt sich wiederholt unwohl, unglücklich und unfrei. Die Frage drängt sich auf:

  • Warum ist das so?
  • Was treibt ihn an, was bringt ihn in diese Situationen?

Bevor Patañjali eine differenzierte Antwort gibt, benennt er die Verantwortlichen: wir selbst. Mit der Erkenntnis – wir selbst – gibt sich Patañjali aber bisher nicht zufrieden, denn – wir selbst – sind es schließlich auch, die es besser machen können. Es ist also ein Aspekt von uns, der neben anderen existiert. Dass dieser Aspekt am Werk ist, wissen wir mit Sicherheit, wenn wir eines erfahren: die Erfahrung von Leid und Unglück. Das Leiden existiert, weil die klésa existieren.

Nun zu Patañjalis erster These: Alle klésa, so besonders, individuell und verschieden sie im Einzelnen auch erscheinen mögen, lassen sich auf ein Grundproblem zurückführen. Es besteht darin, dass ich eine falsche Wahrnehmung von dem entwickle, was um mich herum existiert oder mit mir geschieht.

Kurz gesagt, wenn ich mich in der Wahrnehmung meiner Umgebung oder meiner selbst täusche, dann ist klésa-Zeit. Patañjali behauptet, dass es die Fähigkeit – und der Drang – in uns ist, Situationen und die daran Beteiligten falsch wahrzunehmen, die uns letztlich Enge und Unzufriedenheit erfahren lässt. Er nennt dies avidyā.

A-vidyā ist das Gegenteil von vidyā, von richtigem Verstehen, von Wissen, das aus wirklichem Verstehen resultiert. Wie sonst ließen sich viele alltägliche Erfahrungen erklären?

  • Warum nehmen wir etwa ein ernst gemeintes Kompliment oft mit Misstrauen auf?
  • Warum interpretieren wir ein zufälliges Anrempeln in der U-Bahn als absichtlichen Angriff auf unsere Person und nicht als Ausdruck der Müdigkeit unseres Banknachbarn und nehmen die Entschuldigung dafür nicht mit dem Herzen an?
  • Warum bin ich enttäuscht, wenn nach so viel Aufopferung meinerseits der Dank vergeblich auf sich warten lässt?
  • Warum verstehen wir manchmal erst nach Jahren, warum eine Beziehung in die Brüche gegangen ist?
  • Warum muss ein Mensch schmerzhafte Erfahrungen hundertmal machen, bis er begreift, dass sie alle in ein und derselben alten Struktur wurzeln?
  • Warum wissen wir nach einem Konflikt meist besser, wie wir ihn produktiver hätten lösen können?

Weil wir befangen waren in einer falschen Sichtweise, in einem Missverständnis, in avidyā. Damit wir Patañjali hier nicht selbst missverstehen, sei kurz daran erinnert, dass er ein solches Missverstehen zwar für ganz normal hält und sogar davon ausgeht, dass wir in der Wahrnehmung unseres Handelns und des Handelns anderer avidyā geradezu allgegenwärtig ist. Damit will er aber keineswegs sagen, dass das, was wir wahrnehmen, in Wirklichkeit eine Illusion ist.

Ganz im Gegenteil. Gerade im Prinzip, im tiefsten Kern, hält Patañjali die Welt und alles auf und in ihr für real.

Ein Baum oder eine Beziehung sind real und sie existieren unabhängig davon, ob jemand sie betrachtet oder nicht. Mit dem Hinweis auf die große Kraft von avidyā soll gerade nicht behauptet werden, dass etwas, was wir wahrnehmen, eigentlich – im letzten Grund, in aller Tiefe betrachtet – gar nicht wirklich sei.

Avidyā ist kein Urteil über die Welt, den Mitmenschen, ein Ereignis. Avidyā ist nur das Urteil über eine Auffassung, die ich in diesem Augenblick habe. Avidyā sagt, dass diese Auffassung, diese Wahrnehmung mangelhaft ist. Sie könnte besser sein, sie könnte sogar richtig sein. Aber im Moment von avidyā ist in mir eine Unklarheit. Zum Beispiel führt avidyā dazu, dass wir das Vergängliche für ewig halten. Beispiele für ein solches Missverständnis gibt es mehr als genug:

  • unsere Gesundheit
  • unseren funktionierenden Körper für garantiert zu halten und ihm die Veränderungen, die zum Prozess des Alterns gehören, fast übelzunehmen oder zu ignorieren, ist ein Beispiel dafür.

Aber weder unser Körper noch unser Geist stehen uns unbegrenzt und immer gleich zur Verfügung, noch sind die Menschen um uns herum oder unsere berufliche Situation von Veränderungen ausgenommen. Und wie oft können wir uns dabei ertappen, dass wir das Jetzt ganz unverändert in die Zukunft hineingedacht haben, im Guten ebenso oft wie im Schlechten.

Im Zustand von avidyā verwechseln wir auch Unklarheit mit Klarheit, unterliegen also einer Täuschung über die Grundlage unseres Handelns. Wir fühlen uns klar, sind aber in Wirklichkeit sehr verwirrt. Oder umgekehrt. Wir trauen unserer Wahrnehmung nicht, aber am Ende erweist sie sich als richtig. Zwischenmenschliche Beziehungen sind voll von solchen Situationen. Ein gemeinsames Kind schien die Lösung einer Beziehungskrise zu sein. Doch die Zeit und mit ihr die größere innere Distanz zeigen, dass es eine Fehlentscheidung war und nur ein neues, zusätzliches Problem geschaffen hat.

Oder umgekehrt:

  • Eine Mutter hält es für vollkommen unvorstellbar, ein Kind allein großzuziehen, und findet dann doch einen Weg, es auf schöne und befriedigende Weise zu tun.
  • Jemand sagt angesichts einer Magenverstimmung – bei all dem Stress muss das wohl sein – bis er erfährt, dass der leckere Fischsalat verdorben ist.
  • Ich gebe eine Yogastunde und finde sie so schlecht, dass ich hinterher nicht zu fragen wage, wie es war. Die Teilnehmer hingegen fühlen sich wohl und sind begeistert.

Beim nächsten Mal könnte es genau umgekehrt sein. Das Problem mit einem solchen Missverständnis ist, dass wir es in der entsprechenden Situation nie als solches erkennen. Wenn wir es erkennen, ist es kein Missverständnis mehr. Gott sei Dank gibt es aber auch indirektere Hinweise auf das Vorhandensein von avidyā. Patañjali beschreibt sie als die konkret erfahrbaren Gefühle, deren Gestalt avidyā annimmt. Das falsche Wissen nennt er den Acker, auf dem die anderen Strukturen wachsen, die uns ins Unglück laufen lassen. Die Blüten, die dieses Feld hervorbringt, sind uns vertraut, sie riechen nach etwas, sie fühlen sich an, wir können sie identifizieren. In unserem Geist tauchen sie als Gedanken oder Gefühle auf, in unserem Körper als Empfindungen, es sind:

  • die Selbstbezogenheit – asmitā
  • das Habenwollen und Anhaften – rāga
  • die Abneigung und Ablehnung – dvesha
  • die Angst – abhiniveśāḥ

Asmitā

Asmitā hat ganz unmittelbar mit unserer Sicht und unserem Selbstverständnis zu tun. Eine kleine Geschichte aus der jüdischen Tradition mag dies verdeutlichen.

Sie erzählt von einem Rabbi, der eine Synagoge besucht und von einem besonderen Gefühl der Nähe zu Gott ergriffen wird. Er wirft sich nieder, immer wieder, und ruft voller Inbrunst: „Ich bin nichts, Gott, ich bin nichts.“ Ein zweiter Rabbi, der die Synagoge betritt, wird von dieser Frömmigkeit ergriffen und verneigt sich ebenfalls tief: „Ich bin nichts, Gott, ich bin nichts.“ So geht es eine Weile, bis schließlich der Hausmeister kommt, um die Synagoge zu fegen. Er sieht, wie die beiden frommen Männer immer wieder ihre Bedeutungslosigkeit vor Gott beteuern, und es ergreift auch ihn. Der Hausmeister legt den Besen beiseite, wirft sich ebenfalls nieder und spricht die gleichen Worte: „Ich bin nichts, Gott, ich bin nichts.“ Kaum ist dies geschehen, hält der erste Rabbiner inne, schaut empört zum zweiten Rabbiner und fragt: „Wer ist denn dieser mit seinem Besen, dass er es wagt, neben uns niederzuknien und zu behaupten, er sei ein Nichts?“

dṛkdarśanaśaktyoḥ ekātmatā iva asmitā
Yoga Sūtra, 2. Kapitel - Sūtra 6

Asmitā ist das In-Eines-Setzen (Nicht-Unterscheiden-Können) dessen, was zur wirklichen Wahrnehmung fähig ist einerseits und dessen in uns, was (dem Prozeß der Veränderung unterworfen ist und das) wir wahrnehmen können.

Asmitā kann sich in Hochmut und Stolz äußern, wie in dieser kleinen Geschichte. Egozentrik kann sich aber auch in einem sehr geringschätzigen Selbstbild äußern. Immer geht es mir schlecht, immer bin ich derjenige, der ausgenutzt wird, dessen Bemühungen nicht gewürdigt werden.

Was Patañjali uns über dieses klésa lehrt, ist, dass wir nicht in der Lage sind, richtig wahrzunehmen, wer eigentlich gemeint ist, wenn kritisiert oder gelobt wird.

Eine nicht bestandene Prüfung mag schlimm genug sein, sie mag viel Unglück mit sich bringen – aber woher kommt die Kraft, weiterzumachen? Sie wird nicht zerstört. Sie ist es, die dafür sorgt, dass wir uns Tage, Wochen oder Monate später stark genug fühlen, es noch einmal zu versuchen. Und doch haben wir in der gegebenen Situation das Gefühl, dass wir nur aus Versagern bestehen, dass das Verdikt des Scheiterns uns als ganzen Menschen trifft.

Was ist das für ein Ich, das sagt: Ich bin traurig? Auch wenn es im Moment nichts anderes für mich gibt und mir jeder Trost – es wird auch wieder fröhlichere Zeiten geben – nur als Verrat an diesem Gefühl erscheint. Welches Ich sagt am nächsten Tag: Es geht mir schon wieder besser?

Wir neigen dazu, uns so vollständig mit einem momentanen Gefühl zu identifizieren, dass wir nichts anderes zu sein scheinen als dieses Gefühl.

Erst wenn sich das Gefühl verändert, merkt man, dass diese Identifikation so nicht stimmen kann. Was kann in uns diese Veränderung des Gefühls wahrnehmen? Wenn asmitā herrscht, identifiziere ich mich: mit meinem Status, mit meiner Rolle, mit den Verletzungen, die mir zugefügt wurden, mit dem Lob, das mir gerade ausgesprochen wurde.

Rāga

Was lässt uns bei einem schönen Sonnenuntergang nach mehr verlangen? Ich könnte doch noch ein Gläschen Wein auf dem Tisch stehen haben, und könnte es nicht mehr Kraniche geben, die so schön vor der roten Sonnenscheibe vorbeiziehen, und könnte doch noch … und wenn es ohne Wein und Kraniche gehen muss?

Das Gefühl des Bedauerns, das Gefühl der Unzufriedenheit signalisiert uns: Wir hatten es mit rāga zu tun. Wenn Erinnerungen an schöne Situationen uns traurig machen, weil sie den unerfüllbaren Wunsch hinterlassen haben, die Situation möge sich wiederholen oder doch nicht vergangen sein, dann war rāga im Spiel.

sukhānushayī rāgaḥ
Yoga Sūtra, 2. Kapitel - Sūtra 7

Rāga stützt sich auf das Erlebnis von Wohlfühlen.

Diese Struktur in uns, die uns die Erfahrung einer angenehmen Situation immer wieder erleben lassen will, nennt Patañjali rāga. Die Kraft, die uns zugreifen lässt, ob wir etwas wirklich brauchen oder auch nicht, ist rāga. In kleinen und großen Süchten drückt sich rāga aus.

Rāga ist von so großer Kraft und Dynamik, dass dieses klésa manchen Weisen als das Wichtigste erschien, mit dem wir uns auf unserem Weg auseinandersetzen müssen.

Dveṣa

Die Kehrseite von rāga ist dveṣa, die unbegründete Abneigung. Damit ist nicht gemeint, dass die Abneigung gegen eine bestimmte Speise problematisch ist, wenn ich weiß, dass ich sie nicht vertrage. Dveṣa meint etwas anderes – ein Beispiel: Ich habe vielleicht einmal aus Dummheit den Fehler gemacht, zu viel marinierten Tofu zu essen, und dann war der Nachtisch auch noch zu süß. Die Folge war eine mehrtägige Magenverstimmung, an die ich mich noch lebhaft erinnere. Heute kann ich nicht einmal mehr marinierten Tofu riechen, ohne dass mir übel wird.

duhkhānuśayī dveṣaḥ
Yoga Sūtra, 2. Kapitel - Sūtra 8

Dvesa basiert auf der Erfahrung des Unglücklich-Seins.

Diese Abneigung – nicht die Erinnerung an die Dummheit, die ich damals begangen habe – ist ein klésa. Ist Italien bei mir ein für alle Mal unten durch, nur weil dort einmal meine Tasche mit Bargeld und allen Papieren mitsamt dem Auto, in dem sie lagen, gestohlen wurde?

Wenn aus der Erfahrung, dass billige Arbeitskräfte aus Portugal mir den Arbeitsplatz weggenommen haben, eine Abneigung gegen Portugiesen, gegen Ausländer wird, dann ist das dveṣa. Wenn ich aber einen dunklen Park meide, weil ich nicht einschätzen kann, ob mir dort Gefahr droht, dann ist das in der Regel das Ergebnis wacher Aufmerksamkeit und richtiger Einschätzung der Situation.

Nicht jedes Nein-Sagen hat etwas mit Dveṣa zu tun, aber jedes Ausgrenzen schon.

Abhiniveśāḥ

Dieses klésa könnte mit Angst oder auch Furcht bezeichnet werden. Wenn wir genau hinschauen, dann spricht Patañjali im Zusammenhang mit abhiniveśāḥ von einer ganz besonderen Angst.

Schon die Weisen der Upaniṣaden, der großen Lehrtexte Indiens, beteten zu Gott – Lass mich nicht sein.

svarasavāhī viduṣo'pi samārūdhaḥ abhiniveśah
Yoga Sūtra, 2. Kapitel - Sūtra 9

Abhiniveśa entsteht aus sich selbst heraus; auch im Weis(est)en ist es fest verwurzelt.

Genauso beschreibt Patañjali den Charakter von abhiniveśāḥ, indem er sagt – Selbst die Weisen sind nicht frei davon. Der Drang nach Leben scheint uns Menschen wie allen Lebewesen gegeben zu sein. Was kann am Lebensdrang negativ sein? Er lässt uns in einer bedrohlichen Situation alle Kräfte mobilisieren, gibt uns manchmal ein hohes Maß an Klarheit darüber, wie wir uns verhalten müssen, wenn wir überleben wollen.

Und es ist sicher eine berechtigte Frage, ob es wünschenswert wäre, diesen Drang aus unserem System zu entfernen. Was aber gemeint ist, wenn abhiniveśāḥ als ein klésa verstanden wird, an dem es sich zu arbeiten lohnt, ist die Angst vor Tod, Krankheit und Siechtum, die uns in Panik versetzt, die uns daran hindert, zu akzeptieren, was akzeptiert werden muss. Und diese Panik, diese Art von Angst, benötigt keine existenziellen Situationen, um sich zu manifestieren. Wir können abhiniveśāḥ immer dann beobachten, wenn Ängste um die Existenz, um die Zukunft, um das Leben Menschen lähmen und in ihren Entscheidungsmöglichkeiten einschränken, statt sie zu beflügeln.

Über die Dynamik der klésa

Die klésa sind nicht immer in gleichem Maße aktiv, ihr Wirkungsgrad hängt von vielen Faktoren ab. In Patañjalis Yoga Sūtra geht der Beschreibung der einzelnen klésa eine Erklärung ihrer unterschiedlichen Intensität voraus.

Er versucht, uns ein Bild davon zu geben, wie schwach oder wie stark diese drängenden Kräfte in uns wirksam sein können.

  • Prasupta – Kleśa können tief schlafen. Das heißt, sie können gerade nicht aktiv sein. Das tut uns gut, denn so beeinflussen sie unser Handeln nicht mit ihren folgenschweren Auswirkungen. Klésa können sogar so wenig auffallen, dass wir sie für nicht existent halten können. Weniger guttut uns allerdings der Glaube, dass klésa tatsächlich endgültig tot sein könnten. So bin ich vielleicht schon lange nicht mehr dem Gefühl des Neides ausgeliefert, oder mein früherer Hang zur Eifersucht hat sich in Luft aufgelöst.
    Patañjali sagt dazu: Dein Neid und deine Eifersucht schlafen nur tief und fest. Und wie das Aufwecken eines schlafenden Hundes bedeutet, sich einem Biss auszusetzen, so bedeutet das Aufwecken eines wie auch immer gearteten klésa, sich plötzlich seiner ganzen alten Macht ausgeliefert zu sehen.
  • Tanu – Klésa können ganz harmlos erscheinen, sie können sehr sanft, suptil sein. Ihre Wirksamkeit ist dann nicht sehr ausgeprägt. Eine kleine Regung des Geizes zum Beispiel, ein leichtes Gefühl der Ablehnung, so zart, dass es sich schnell von selbst wieder legt. Während die mächtigen und heftigen Manifestationen der klésa kaum zu bremsen sind, lassen sie uns hier ein wenig mehr Freiheit in der Entscheidung. Diese sanfte Manifestation unserer unglücklich machenden Strukturen sind also für unser Handeln weniger bedeutsam. Dafür können wir uns hier häufiger in der falschen Sicherheit wiegen, mit solchen Strukturen nichts zu tun zu haben.
    Sanftmut ist keine besondere Eigenschaft des einen oder anderen klésa, sondern ein Phänomen, das jeden klésa in jedem von uns betreffen kann. Allerdings kann z. B. das unstillbare Verlangen – rāga – nach etwas, bei dem einen sehr stark und bei dem anderen sehr schwach ausgeprägt sein. Und selbst in ein und derselben Person kann ein klésa mal mehr, mal weniger dominant sein. So kann aus einem sehr ruhigen Menschen plötzlich Hass, Gier oder Angst mit ungeheurer Heftigkeit hervorbrechen. Einen Menschen, den wir in seinem Berufsleben als sehr selbstdarstellerisch erleben, können wir im persönlichen Gespräch als wunderbaren Zuhörer und Ratgeber kennenlernen.
  • Udāranam – Klésa können aber auch einen sehr starken Einfluss auf unser Handeln ausüben. Wenn dies geschieht, bringen sie uns Schwierigkeiten über Schwierigkeiten. Je stärker sie wirken, desto mehr sie mich zu einem Verhalten drängen, desto mehr trübt sich mein klarer Blick. Jemand, der gewohnheitsmäßig mit viel Ärger durch den Tag geht, wird jede Situation, in die er gerät, durch die Brille dieses Gefühls sehen und auch unter den besten Bedingungen wenig Freundliches erleben.
  • Vicchinna – Schließlich erwähnt Patañjali noch eine besondere Art und Weise, wie sich die verschiedenen klésa im Menschen zueinander verhalten können. Sie wird so beschrieben, dass eines der klésa so stark dominiert, dass die anderen dahinter verblassen.
    So kann z. B. die Panik vor Krankheit und Tod dazu führen, dass ein Mensch seine tiefe Abneigung gegen Ärzte in den Hintergrund stellt. Oder denken wir an die berühmte Geschichte des Schulmeisters im Film – Der blaue Engel –, dem es angesichts seiner verzehrenden Liebe immer gleichgültiger wird, wie dumm die anderen ihn finden. Sein asmitā verschwindet hinter seinem rāga.

Die Beschreibung der klésa, ihrer Manifestationen und wie sie in uns wirken können, die uns Patañjali im vierten Sūtra des zweiten Kapitels gibt, fragt noch nicht danach, welcher Umgang mit ihr wann wünschenswert, sinnvoll und hilfreich ist. Dazu kommt er erst einige Sūtra später.

Der Geist im Spiel der klésa

Ein Garten im Frühling: Im Herbst wurden die Blumen gepflanzt, das Unkraut aus den Beeten zum letzten Mal gejätet. Der Winter war lang und hart, alles ruhte, kein Stängel regte sich. Jetzt, mit den ersten warmen Sonnenstrahlen und dem milden Regen, fängt alles an zu sprießen. Der Gärtner entdeckt die ersten Triebe der Akelei, die Malven durchbrechen mit ihren grasgrünen Blättchen die dunkle Erde. Daneben aber auch andere bekannte Pflanzen in unübersehbarer Dichte, die dem Gärtner ebenso vertraut sind: das Gras, die Taubnessel, die ersten Brennnesseln und viele andere vertraute Gesellen, die jeden Tag mit ungeheurer Kraft wachsen – das Unkraut.
Unkraut jedenfalls für diesen Teil des Gartens. Schneller, kräftiger, Trockenperioden besser überstehend, breitet sich das Unkraut mächtig aus und bald sind die Blümchen nur noch auf den zweiten und dritten Blick zwischen den grünen Matten der Wildkräuter zu entdecken. Dem Unkraut ist es eigen, dass es keiner besonderen Pflege bedarf. Es kommt in jedem Garten in großer Zahl vor und erobert ihn, wenn man ein wenig nachlässig ist.
Die anderen Pflanzen dagegen, die zarten, die, deren sommerliche Schönheit man beim Pflanzen im Auge hatte, müssen gepflegt werden. Man muss den Boden lockern, man muss ihnen Luft und Licht geben, und man muss ihnen genügend Nahrung geben, indem man das konkurrierende Unkraut entfernt.

So ungefähr könnten wir uns die Situation in unserem Kopf vorstellen. Kräftig wie Unkraut wuchern die klésa darin. Sie benötigen keine besondere Pflege, um groß und allgegenwärtig zu werden.

Sich selbst überlassen, wird der Geist von den klésa geformt. Nur wenn wir uns besonders um sie kümmern, ist etwas anderes möglich.

So wie ein Gärtner im Laufe der Jahre lernt, mit dem Unkraut umzugehen, und so versteht, was er tun muss, um es zu schwächen, damit die Blumen besser wachsen, so müssen wir Experten für das werden, was unseren Geist sozusagen von Natur aus besetzt: die klésa.

Vyāsa, der große indische Gelehrte, der den ersten uns bekannten Kommentar zu Patañjalis Yoga Sūtra schrieb, hat uns ein anderes Beispiel gegeben, um uns eindrücklich vor Augen zu führen, nach welchen inneren Mustern wir funktionieren. Er beschrieb unseren Geist als einen Fluss, dessen Bett sich beispielsweise von Westen nach Osten erstreckt. Dieser Fluss kann zwei Richtungen einschlagen: Einmal fließt er nach Osten, ein anderes Mal nach Westen – ein ganz besonderer Fluss also. Normalerweise nimmt das Wasser die Richtung des geringsten Widerstands, seine natürliche Richtung. Unter anderen Bedingungen kann es aber auch die Richtung einschlagen, die es nicht gewohnt ist. Der Strom unseres Geistes – so Vyāsa – hat eine natürliche Richtung.
Er wird durch treibende und drängende Kräfte in eine Richtung gelenkt. Wir kennen diese Richtung nur zu gut, wir wissen, wohin uns diese Strömung führt. Die Ufer, die wir passieren, wenn unser Geist in diese Richtung fließt, heißen Unglück, Unzufriedenheit, Enge.

Wir haben aber auch die Möglichkeit, unseren Geist in eine andere Richtung fließen zu lassen, ihn umzulenken, in eine Richtung, an deren Ufern wir Klarheit, Gelassenheit und Zufriedenheit finden können.

Im Falle eines echten Flusses erfordert dies viel Arbeit in Form von Erdbewegungen, um ein neues Gefälle zu schaffen. Die Arbeit, die geleistet werden muss, um unseren Geist zu verändern, ist sicher nicht weniger – sie sieht nur anders aus.

Angesichts der Beschreibung dieser Strukturen unseres Geistes und der Art und Weise, wie wir sie erleben, können wir uns ein lebendiges Bild davon machen, wie schwierig es sein wird, einen guten Umgang damit zu finden. Wie könnte dieser aussehen? Die schlechte Nachricht des Yoga sagt uns, dass die klésa zu uns gehören, dass sie sozusagen die Ureinwohner unseres Geistes sind. Wir müssen mit ihnen leben. Aber – so die hoffnungsvolle Überzeugung des Yoga – wir können versuchen, ihren Einfluss auf das Funktionieren unseres Geistes zu begrenzen. Erinnern wir uns an das Bild von Vyāsa – Wir können den Fluss umleiten.

Hobeln lernen

Gleich zu Beginn des zweiten Kapitels, in der zweiten Sūtra, benutzt Patañjali ein sehr anschauliches Bild, um die richtige Vorgehensweise bei der Eindämmung der klésas zu beschreiben. Er verwendet das Bild eines Tischlers, der ein großes Stück Holz verkleinern will.

So wie der Tischler Schicht für Schicht dünne Späne von dem Holzblock abhobelt, so werden die klésa in unserem Geist durch die Praxis des Yogas bearbeitet. Schicht für Schicht werden sie abgetragen, bis nur noch ein Hauch von ihnen übrig bleibt.

Der Umgang mit den einengenden Strukturen in unserem Geist ist also ein mühsamer, ein arbeitsintensiver, der immer nur kleine Fortschritte bringt und diese Strukturen nie ganz beseitigen kann.

Ein Hauch, eine Spur bleibt. Aber in einem solchen Stadium sind die klésa nicht mehr Steine, über die wir immer wieder stolpern, sondern sie wirken auf unser Vorankommen wie kleine, dünne, schwache Grashalme.

Und was passiert dann?

Wenn die Strukturen, die Unklarheit und in der Folge Unglück und Leid verursachen, allmählich an Kraft verlieren, dann kann sich etwas anderes entfalten, das sonst immer wieder vom Sturm ihres Aufpralls in den Hintergrund gedrängt wird.

Wir haben eine Ahnung, oft eine kleine Erfahrung davon, was sich entfalten kann. Fast jeden Tag erleben wir glücklicherweise im Kleinen, dass wir die Fähigkeit zur Klarheit haben. Natürlich gibt es auch ohne Yoga klare Momente oder Phasen im Leben der Menschen. Was sie aber meist einschränkt, ist die Unzuverlässigkeit ihres Auftretens. Wenn wir Glück haben, sind sie da, wenn wir Pech haben, sind sie abwesend. Oft haben wir mehr Pech als Glück.

Yoga weist einen bewussten Weg zum Auftauchen von Klarheit, es will sich dabei nicht auf die Zufälligkeiten des Schicksals verlassen.

So entsteht in dem Maße, in dem die Macht der Verhinderer, der klésa, abnimmt, das, was Patañjali samādhi nennt – die Fähigkeit, das, was man erkennen will, mit vollkommener Klarheit zu erkennen.

samādhibhāvanārthaḥ kleśatanūkaranārthaśca
Yoga Sūtra, 2. Kapitel - Sūtra 2

samādhibhāvanārthaḥ - richtiges Erkennen erscheint

Zwei Äpfel fallen also von dem Baum, den man mit derselben Yogapraxis schüttelt:

Das, was uns einschränkt und behindert, wird weniger und im gleichen Maße wird etwas anderes, das, was uns klarer und damit zufriedener werden lässt, mehr.

Dieser Prozess des Abschleifens von klésa einerseits und der Entwicklung von mehr Klarheit andererseits geschieht jedoch nicht automatisch dadurch, dass wir Yogaübungen machen. Patañjali beschreibt die besonderen Bedingungen, unter denen die Praxis eine Chance auf Erfolg hat. Er begnügt sich nicht damit, uns auf eine ferne Zukunft zu vertrösten, in der die klésa nur noch ein schlafendes Dasein führen. Er nennt uns die Werkzeuge in diesem Prozess – die acht Glieder des Yoga – und gibt praktische Ratschläge für den unmittelbaren, mittelfristigen und langfristigen Umgang mit den klésa. ▼

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Einleitung

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Yoga und die klésa

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Für Patañjali besteht das Ziel des Yoga im Wesentlichen darin, uns von diesen Leid bringendenleidbringenden, drückenden inneren Strukturen zu befreien. Die Erwartungen, die wir an unseren Yogaweg hatten, waren also in der Tat richtig: Wenn der Yoga sagt: Du kannst dich zum Besseren verändern, dann bezieht sich das tatsächlich auf die vielen Situationen, in denen wir uns als eingeengt, unsicher, gehetzt und unzufrieden erleben.

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Bevor Patañjali eine differenzierte Antwort gibt, benennt er die Verantwortlichen: wir selbst. Mit der Erkenntnis – wir selbst – gibt sich Patañjali aber bisher nicht zufrieden, denn – wir selbst – sind es schließlich auch, die es besser machen können. Es ist also ein Aspekt von uns, der neben anderen existiert. Dass dieser Aspekt am Werk ist, wissen wir mit Sicherheit, wenn wir eines erfahren: die Erfahrung von Leid und Unglück. Das Leiden existiert, weil die klésa existieren.

Nun zu Patañjalis erster These: Alle klésa, so besonders, individuell und verschieden sie im Einzelnen auch erscheinen mögen, lassen sich auf ein Grundproblem zurückführen. Es besteht darin, dass ich eine falsche Wahrnehmung von dem entwickle, was um mich herum existiert oder mit mir geschieht.

Kurz gesagt, wenn ich mich in der Wahrnehmung meiner Umgebung oder meiner selbst täusche, dann ist klésa-Zeit. Patañjali behauptet, dass es die Fähigkeit – und der Drang – in uns ist, Situationen und die daran Beteiligten falsch wahrzunehmen, die uns letztlich Enge und Unzufriedenheit erfahren lässt. Er nennt dies avidyā.

A-vidyā ist das Gegenteil von vidyā, von richtigem Verstehen, von Wissen, das aus wirklichem Verstehen resultiert. Wie sonst ließen sich viele alltägliche Erfahrungen erklären?

  • Warum nehmen wir etwa ein ernst gemeintes Kompliment oft mit Misstrauen auf?
  • Warum interpretieren wir ein zufälliges Anrempeln in der U-Bahn als absichtlichen Angriff auf unsere Person und nicht als Ausdruck der Müdigkeit unseres Banknachbarn und nehmen die Entschuldigung dafür nicht mit dem Herzen an?
  • Warum bin ich enttäuscht, wenn nach so viel Aufopferung meinerseits der Dank vergeblich auf sich warten lässt?
  • Warum verstehen wir manchmal erst nach Jahren, warum eine Beziehung in die Brüche gegangen ist?
  • Warum muss ein Mensch schmerzhafte Erfahrungen hundertmal machen, bis er begreift, dass sie alle in ein und derselben alten Struktur wurzeln?
  • Warum wissen wir nach einem Konflikt meist besser, wie wir ihn produktiver hätten lösen können?

Weil wir befangen waren in einer falschen Sichtweise, in einem Missverständnis, in avidyā. Damit wir Patañjali hier nicht selbst missverstehen, sei kurz daran erinnert, dass er ein solches Missverstehen zwar für ganz normal hält und sogar davon ausgeht, dass wir in der Wahrnehmung unseres Handelns und des Handelns anderer avidyā geradezu allgegenwärtig ist. Damit will er aber keineswegs sagen, dass das, was wir wahrnehmen, in Wirklichkeit eine Illusion ist.

Ganz im Gegenteil. Gerade im Prinzip, im tiefsten Kern, hält Patañjali die Welt und alles auf und in ihr für real.

Ein Baum oder eine Beziehung sind real und sie existieren unabhängig davon, ob jemand sie betrachtet oder nicht. Mit dem Hinweis auf die große Kraft von avidyā soll gerade nicht behauptet werden, dass etwas, was wir wahrnehmen, eigentlich – im letzten Grund, in aller Tiefe betrachtet – gar nicht wirklich sei.

Avidyā ist kein Urteil über die Welt, den Mitmenschen, ein Ereignis. Avidyā ist nur das Urteil über eine Auffassung, die ich in diesem Augenblick habe. Avidyā sagt, dass diese Auffassung, diese Wahrnehmung mangelhaft ist. Sie könnte besser sein, sie könnte sogar richtig sein. Aber im Moment von avidyā ist in mir eine Unklarheit. Zum Beispiel führt avidyā dazu, dass wir das Vergängliche für ewig halten. Beispiele für ein solches Missverständnis gibt es mehr als genug:

  • unsere Gesundheit
  • unseren funktionierenden Körper für garantiert zu halten und ihm die Veränderungen, die zum Prozess des Alterns gehören, fast übelzunehmen oder zu ignorieren, ist ein Beispiel dafür.

Aber weder unser Körper noch unser Geist stehen uns unbegrenzt und immer gleich zur Verfügung, noch sind die Menschen um uns herum oder unsere berufliche Situation von Veränderungen ausgenommen. Und wie oft können wir uns dabei ertappen, dass wir das Jetzt ganz unverändert in die Zukunft hineingedacht haben, im Guten ebenso oft wie im Schlechten.

Im Zustand von avidyā verwechseln wir auch Unklarheit mit Klarheit, unterliegen also einer Täuschung über die Grundlage unseres Handelns. Wir fühlen uns klar, sind aber in Wirklichkeit sehr verwirrt. Oder umgekehrt. Wir trauen unserer Wahrnehmung nicht, aber am Ende erweist sie sich als richtig. Zwischenmenschliche Beziehungen sind voll von solchen Situationen. Ein gemeinsames Kind schien die Lösung einer Beziehungskrise zu sein. Doch die Zeit und mit ihr die größere innere Distanz zeigen, dass es eine Fehlentscheidung war und nur ein neues, zusätzliches Problem geschaffen hat.

Oder umgekehrt:

  • Eine Mutter hält es für vollkommen unvorstellbar, ein Kind allein großzuziehen, und findet dann doch einen Weg, es auf schöne und befriedigende Weise zu tun.
  • Jemand sagt angesichts einer Magenverstimmung – bei all dem Stress muss das wohl sein – bis er erfährt, dass der leckere Fischsalat verdorben ist.
  • Ich gebe eine Yogastunde und finde sie so schlecht, dass ich hinterher nicht zu fragen wage, wie es war. Die Teilnehmer hingegen fühlen sich wohl und sind begeistert.

Beim nächsten Mal könnte es genau umgekehrt sein. Das Problem mit einem solchen Missverständnis ist, dass wir es in der entsprechenden Situation nie als solches erkennen. Wenn wir es erkennen, ist es kein Missverständnis mehr. Gott sei Dank gibt es aber auch indirektere Hinweise auf das Vorhandensein von avidyā. Patañjali beschreibt sie als die konkret erfahrbaren Gefühle, deren Gestalt avidyā annimmt. Das falsche Wissen nennt er den Acker, auf dem die anderen Strukturen wachsen, die uns ins Unglück laufen lassen. Die Blüten, die dieses Feld hervorbringt, sind uns vertraut, sie riechen nach etwas, sie fühlen sich an, wir können sie identifizieren. In unserem Geist tauchen sie als Gedanken oder Gefühle auf, in unserem Körper als Empfindungen, es sind:

  • die Selbstbezogenheit – asmitā
  • das Habenwollen und Anhaften – rāga
  • die Abneigung und Ablehnung – dvesha
  • die Angst – abhiniveśāḥ

Asmitā

Asmitā hat ganz unmittelbar mit unserer Sicht und unserem Selbstverständnis zu tun. Eine kleine Geschichte aus der jüdischen Tradition mag dies verdeutlichen.

Sie erzählt von einem Rabbi, der eine Synagoge besucht und von einem besonderen Gefühl der Nähe zu Gott ergriffen wird. Er wirft sich nieder, immer wieder, und ruft voller Inbrunst: „Ich bin nichts, Gott, ich bin nichts.“ Ein zweiter Rabbi, der die Synagoge betritt, wird von dieser Frömmigkeit ergriffen und verneigt sich ebenfalls tief: „Ich bin nichts, Gott, ich bin nichts.“ So geht es eine Weile, bis schließlich der Hausmeister kommt, um die Synagoge zu fegen. Er sieht, wie die beiden frommen Männer immer wieder ihre Bedeutungslosigkeit vor Gott beteuern, und es ergreift auch ihn. Der Hausmeister legt den Besen beiseite, wirft sich ebenfalls nieder und spricht die gleichen Worte: „Ich bin nichts, Gott, ich bin nichts.“ Kaum ist dies geschehen, hält der erste Rabbiner inne, schaut empört zum zweiten Rabbiner und fragt: „Wer ist denn dieser mit seinem Besen, dass er es wagt, neben uns niederzuknien und zu behaupten, er sei ein Nichts?“

dṛkdarśanaśaktyoḥ ekātmatā iva asmitā
Yoga Sūtra, 2. Kapitel - Sūtra 6

Asmitā ist das In-Eines-Setzen (Nicht-Unterscheiden-Können) dessen, was zur wirklichen Wahrnehmung fähig ist einerseits und dessen in uns, was (dem Prozeß der Veränderung unterworfen ist und das) wir wahrnehmen können.

Asmitā kann sich in Hochmut und Stolz äußern, wie in dieser kleinen Geschichte. Egozentrik kann sich aber auch in einem sehr geringschätzigen Selbstbild äußern. Immer geht es mir schlecht, immer bin ich derjenige, der ausgenutzt wird, dessen Bemühungen nicht gewürdigt werden.

Was Patañjali uns über dieses klésa lehrt, ist, dass wir nicht in der Lage sind, richtig wahrzunehmen, wer eigentlich gemeint ist, wenn kritisiert oder gelobt wird.

Eine nicht bestandene Prüfung mag schlimm genug sein, sie mag viel Unglück mit sich bringen – aber woher kommt die Kraft, weiterzumachen? Sie wird nicht zerstört. Sie ist es, die dafür sorgt, dass wir uns Tage, Wochen oder Monate später stark genug fühlen, es noch einmal zu versuchen. Und doch haben wir in der gegebenen Situation das Gefühl, dass wir nur aus Versagern bestehen, dass das Verdikt des Scheiterns uns als ganzen Menschen trifft.

Was ist das für ein Ich, das sagt: Ich bin traurig? Auch wenn es im Moment nichts anderes für mich gibt und mir jeder Trost – es wird auch wieder fröhlichere Zeiten geben – nur als Verrat an diesem Gefühl erscheint. Welches Ich sagt am nächsten Tag: Es geht mir schon wieder besser?

Wir neigen dazu, uns so vollständig mit einem momentanen Gefühl zu identifizieren, dass wir nichts anderes zu sein scheinen als dieses Gefühl.

Erst wenn sich das Gefühl verändert, merkt man, dass diese Identifikation so nicht stimmen kann. Was kann in uns diese Veränderung des Gefühls wahrnehmen? Wenn asmitā herrscht, identifiziere ich mich: mit meinem Status, mit meiner Rolle, mit den Verletzungen, die mir zugefügt wurden, mit dem Lob, das mir gerade ausgesprochen wurde.

Rāga

Was lässt uns bei einem schönen Sonnenuntergang nach mehr verlangen? Ich könnte doch noch ein Gläschen Wein auf dem Tisch stehen haben, und könnte es nicht mehr Kraniche geben, die so schön vor der roten Sonnenscheibe vorbeiziehen, und könnte doch noch … und wenn es ohne Wein und Kraniche gehen muss?

Das Gefühl des Bedauerns, das Gefühl der Unzufriedenheit signalisiert uns: Wir hatten es mit rāga zu tun. Wenn Erinnerungen an schöne Situationen uns traurig machen, weil sie den unerfüllbaren Wunsch hinterlassen haben, die Situation möge sich wiederholen oder doch nicht vergangen sein, dann war rāga im Spiel.

sukhānushayī rāgaḥ
Yoga Sūtra, 2. Kapitel - Sūtra 7

Rāga stützt sich auf das Erlebnis von Wohlfühlen.

Diese Struktur in uns, die uns die Erfahrung einer angenehmen Situation immer wieder erleben lassen will, nennt Patañjali rāga. Die Kraft, die uns zugreifen lässt, ob wir etwas wirklich brauchen oder auch nicht, ist rāga. In kleinen und großen Süchten drückt sich rāga aus.

Rāga ist von so großer Kraft und Dynamik, dass dieses klésa manchen Weisen als das Wichtigste erschien, mit dem wir uns auf unserem Weg auseinandersetzen müssen.

Dveṣa

Die Kehrseite von rāga ist dveṣa, die unbegründete Abneigung. Damit ist nicht gemeint, dass die Abneigung gegen eine bestimmte Speise problematisch ist, wenn ich weiß, dass ich sie nicht vertrage. Dveṣa meint etwas anderes – ein Beispiel: Ich habe vielleicht einmal aus Dummheit den Fehler gemacht, zu viel marinierten Tofu zu essen, und dann war der Nachtisch auch noch zu süß. Die Folge war eine mehrtägige Magenverstimmung, an die ich mich noch lebhaft erinnere. Heute kann ich nicht einmal mehr marinierten Tofu riechen, ohne dass mir übel wird.

duhkhānuśayī dveṣaḥ
Yoga Sūtra, 2. Kapitel - Sūtra 8

Dvesa basiert auf der Erfahrung des Unglücklich-Seins.

Diese Abneigung – nicht die Erinnerung an die Dummheit, die ich damals begangen habe – ist ein klésa. Ist Italien bei mir ein für alle Mal unten durch, nur weil dort einmal meine Tasche mit Bargeld und allen Papieren mitsamt dem Auto, in dem sie lagen, gestohlen wurde?

Wenn aus der Erfahrung, dass billige Arbeitskräfte aus Portugal mir den Arbeitsplatz weggenommen haben, eine Abneigung gegen Portugiesen, gegen Ausländer wird, dann ist das dveṣa. Wenn ich aber einen dunklen Park meide, weil ich nicht einschätzen kann, ob mir dort Gefahr droht, dann ist das in der Regel das Ergebnis wacher Aufmerksamkeit und richtiger Einschätzung der Situation.

Nicht jedes Nein-Sagen hat etwas mit Dveṣa zu tun, aber jedes Ausgrenzen schon.

Abhiniveśāḥ

Dieses klésa könnte mit Angst oder auch Furcht bezeichnet werden. Wenn wir genau hinschauen, dann spricht Patañjali im Zusammenhang mit abhiniveśāḥ von einer ganz besonderen Angst.

Schon die Weisen der Upaniṣaden, der großen Lehrtexte Indiens, beteten zu Gott – Lass mich nicht sein.

svarasavāhī viduṣo'pi samārūdhaḥ abhiniveśah
Yoga Sūtra, 2. Kapitel - Sūtra 9

Abhiniveśa entsteht aus sich selbst heraus; auch im Weis(est)en ist es fest verwurzelt.

Genauso beschreibt Patañjali den Charakter von abhiniveśāḥ, indem er sagt – Selbst die Weisen sind nicht frei davon. Der Drang nach Leben scheint uns Menschen wie allen Lebewesen gegeben zu sein. Was kann am Lebensdrang negativ sein? Er lässt uns in einer bedrohlichen Situation alle Kräfte mobilisieren, gibt uns manchmal ein hohes Maß an Klarheit darüber, wie wir uns verhalten müssen, wenn wir überleben wollen.

Und es ist sicher eine berechtigte Frage, ob es wünschenswert wäre, diesen Drang aus unserem System zu entfernen. Was aber gemeint ist, wenn abhiniveśāḥ als ein klésa verstanden wird, an dem es sich zu arbeiten lohnt, ist die Angst vor Tod, Krankheit und Siechtum, die uns in Panik versetzt, die uns daran hindert, zu akzeptieren, was akzeptiert werden muss. Und diese Panik, diese Art von Angst, benötigt keine existenziellen Situationen, um sich zu manifestieren. Wir können abhiniveśāḥ immer dann beobachten, wenn Ängste um die Existenz, um die Zukunft, um das Leben Menschen lähmen und in ihren Entscheidungsmöglichkeiten einschränken, statt sie zu beflügeln.

Über die Dynamik der klésa

Die klésa sind nicht immer in gleichem Maße aktiv, ihr Wirkungsgrad hängt von vielen Faktoren ab. In Patañjalis Yoga Sūtra geht der Beschreibung der einzelnen klésa eine Erklärung ihrer unterschiedlichen Intensität voraus.

Er versucht, uns ein Bild davon zu geben, wie schwach oder wie stark diese drängenden Kräfte in uns wirksam sein können.

  • Prasupta – Kleśa können tief schlafen. Das heißt, sie können gerade nicht aktiv sein. Das tut uns gut, denn so beeinflussen sie unser Handeln nicht mit ihren folgenschweren Auswirkungen. Klésa können sogar so wenig auffallen, dass wir sie für nicht existent halten können. Weniger guttut uns allerdings der Glaube, dass klésa tatsächlich endgültig tot sein könnten. So bin ich vielleicht schon lange nicht mehr dem Gefühl des Neides ausgeliefert, oder mein früherer Hang zur Eifersucht hat sich in Luft aufgelöst.
    Patañjali sagt dazu: Dein Neid und deine Eifersucht schlafen nur tief und fest. Und wie das Aufwecken eines schlafenden Hundes bedeutet, sich einem Biss auszusetzen, so bedeutet das Aufwecken eines wie auch immer gearteten klésa, sich plötzlich seiner ganzen alten Macht ausgeliefert zu sehen.
  • Tanu – Klésa können ganz harmlos erscheinen, sie können sehr sanft, suptil sein. Ihre Wirksamkeit ist dann nicht sehr ausgeprägt. Eine kleine Regung des Geizes zum Beispiel, ein leichtes Gefühl der Ablehnung, so zart, dass es sich schnell von selbst wieder legt. Während die mächtigen und heftigen Manifestationen der klésa kaum zu bremsen sind, lassen sie uns hier ein wenig mehr Freiheit in der Entscheidung. Diese sanfte Manifestation unserer unglücklich machenden Strukturen sind also für unser Handeln weniger bedeutsam. Dafür können wir uns hier häufiger in der falschen Sicherheit wiegen, mit solchen Strukturen nichts zu tun zu haben.
    Sanftmut ist keine besondere Eigenschaft des einen oder anderen klésa, sondern ein Phänomen, das jeden klésa in jedem von uns betreffen kann. Allerdings kann z. B. das unstillbare Verlangen – rāga – nach etwas, bei dem einen sehr stark und bei dem anderen sehr schwach ausgeprägt sein. Und selbst in ein und derselben Person kann ein klésa mal mehr, mal weniger dominant sein. So kann aus einem sehr ruhigen Menschen plötzlich Hass, Gier oder Angst mit ungeheurer Heftigkeit hervorbrechen. Einen Menschen, den wir in seinem Berufsleben als sehr selbstdarstellerisch erleben, können wir im persönlichen Gespräch als wunderbaren Zuhörer und Ratgeber kennenlernen.
  • Udāranam – Klésa können aber auch einen sehr starken Einfluss auf unser Handeln ausüben. Wenn dies geschieht, bringen sie uns Schwierigkeiten über Schwierigkeiten. Je stärker sie wirken, desto mehr sie mich zu einem Verhalten drängen, desto mehr trübt sich mein klarer Blick. Jemand, der gewohnheitsmäßig mit viel Ärger durch den Tag geht, wird jede Situation, in die er gerät, durch die Brille dieses Gefühls sehen und auch unter den besten Bedingungen wenig Freundliches erleben.
  • Vicchinna – Schließlich erwähnt Patañjali noch eine besondere Art und Weise, wie sich die verschiedenen klésa im Menschen zueinander verhalten können. Sie wird so beschrieben, dass eines der klésa so stark dominiert, dass die anderen dahinter verblassen.
    So kann z. B. die Panik vor Krankheit und Tod dazu führen, dass ein Mensch seine tiefe Abneigung gegen Ärzte in den Hintergrund stellt. Oder denken wir an die berühmte Geschichte des Schulmeisters im Film – Der blaue Engel –, dem es angesichts seiner verzehrenden Liebe immer gleichgültiger wird, wie dumm die anderen ihn finden. Sein asmitā verschwindet hinter seinem rāga.

Die Beschreibung der klésa, ihrer Manifestationen und wie sie in uns wirken können, die uns Patañjali im vierten Sūtra des zweiten Kapitels gibt, fragt noch nicht danach, welcher Umgang mit ihr wann wünschenswert, sinnvoll und hilfreich ist. Dazu kommt er erst einige Sūtra später.

Der Geist im Spiel der klésa

Ein Garten im Frühling: Im Herbst wurden die Blumen gepflanzt, das Unkraut aus den Beeten zum letzten Mal gejätet. Der Winter war lang und hart, alles ruhte, kein Stängel regte sich. Jetzt, mit den ersten warmen Sonnenstrahlen und dem milden Regen, fängt alles an zu sprießen. Der Gärtner entdeckt die ersten Triebe der Akelei, die Malven durchbrechen mit ihren grasgrünen Blättchen die dunkle Erde. Daneben aber auch andere bekannte Pflanzen in unübersehbarer Dichte, die dem Gärtner ebenso vertraut sind: das Gras, die Taubnessel, die ersten Brennnesseln und viele andere vertraute Gesellen, die jeden Tag mit ungeheurer Kraft wachsen – das Unkraut.
Unkraut jedenfalls für diesen Teil des Gartens. Schneller, kräftiger, Trockenperioden besser überstehend, breitet sich das Unkraut mächtig aus und bald sind die Blümchen nur noch auf den zweiten und dritten Blick zwischen den grünen Matten der Wildkräuter zu entdecken. Dem Unkraut ist es eigen, dass es keiner besonderen Pflege bedarf. Es kommt in jedem Garten in großer Zahl vor und erobert ihn, wenn man ein wenig nachlässig ist.
Die anderen Pflanzen dagegen, die zarten, die, deren sommerliche Schönheit man beim Pflanzen im Auge hatte, müssen gepflegt werden. Man muss den Boden lockern, man muss ihnen Luft und Licht geben, und man muss ihnen genügend Nahrung geben, indem man das konkurrierende Unkraut entfernt.

So ungefähr könnten wir uns die Situation in unserem Kopf vorstellen. Kräftig wie Unkraut wuchern die klésa darin. Sie benötigen keine besondere Pflege, um groß und allgegenwärtig zu werden.

Sich selbst überlassen, wird der Geist von den klésa geformt. Nur wenn wir uns besonders um sie kümmern, ist etwas anderes möglich.

So wie ein Gärtner im Laufe der Jahre lernt, mit dem Unkraut umzugehen, und so versteht, was er tun muss, um es zu schwächen, damit die Blumen besser wachsen, so müssen wir Experten für das werden, was unseren Geist sozusagen von Natur aus besetzt: die klésa.

Vyāsa, der große indische Gelehrte, der den ersten uns bekannten Kommentar zu Patañjalis Yoga Sūtra schrieb, hat uns ein anderes Beispiel gegeben, um uns eindrücklich vor Augen zu führen, nach welchen inneren Mustern wir funktionieren. Er beschrieb unseren Geist als einen Fluss, dessen Bett sich beispielsweise von Westen nach Osten erstreckt. Dieser Fluss kann zwei Richtungen einschlagen: Einmal fließt er nach Osten, ein anderes Mal nach Westen – ein ganz besonderer Fluss also. Normalerweise nimmt das Wasser die Richtung des geringsten Widerstands, seine natürliche Richtung. Unter anderen Bedingungen kann es aber auch die Richtung einschlagen, die es nicht gewohnt ist. Der Strom unseres Geistes – so Vyāsa – hat eine natürliche Richtung.
Er wird durch treibende und drängende Kräfte in eine Richtung gelenkt. Wir kennen diese Richtung nur zu gut, wir wissen, wohin uns diese Strömung führt. Die Ufer, die wir passieren, wenn unser Geist in diese Richtung fließt, heißen Unglück, Unzufriedenheit, Enge.

Wir haben aber auch die Möglichkeit, unseren Geist in eine andere Richtung fließen zu lassen, ihn umzulenken, in eine Richtung, an deren Ufern wir Klarheit, Gelassenheit und Zufriedenheit finden können.

Im Falle eines echten Flusses erfordert dies viel Arbeit in Form von Erdbewegungen, um ein neues Gefälle zu schaffen. Die Arbeit, die geleistet werden muss, um unseren Geist zu verändern, ist sicher nicht weniger – sie sieht nur anders aus.

Angesichts der Beschreibung dieser Strukturen unseres Geistes und der Art und Weise, wie wir sie erleben, können wir uns ein lebendiges Bild davon machen, wie schwierig es sein wird, einen guten Umgang damit zu finden. Wie könnte dieser aussehen? Die schlechte Nachricht des Yoga sagt uns, dass die klésa zu uns gehören, dass sie sozusagen die Ureinwohner unseres Geistes sind. Wir müssen mit ihnen leben. Aber – so die hoffnungsvolle Überzeugung des Yoga – wir können versuchen, ihren Einfluss auf das Funktionieren unseres Geistes zu begrenzen. Erinnern wir uns an das Bild von Vyāsa – Wir können den Fluss umleiten.

Hobeln lernen

Gleich zu Beginn des zweiten Kapitels, in der zweiten Sūtra, benutzt Patañjali ein sehr anschauliches Bild, um die richtige Vorgehensweise bei der Eindämmung der klésas zu beschreiben. Er verwendet das Bild eines Tischlers, der ein großes Stück Holz verkleinern will.

So wie der Tischler Schicht für Schicht dünne Späne von dem Holzblock abhobelt, so werden die klésa in unserem Geist durch die Praxis des Yogas bearbeitet. Schicht für Schicht werden sie abgetragen, bis nur noch ein Hauch von ihnen übrig bleibt.

Der Umgang mit den einengenden Strukturen in unserem Geist ist also ein mühsamer, ein arbeitsintensiver, der immer nur kleine Fortschritte bringt und diese Strukturen nie ganz beseitigen kann.

Ein Hauch, eine Spur bleibt. Aber in einem solchen Stadium sind die klésa nicht mehr Steine, über die wir immer wieder stolpern, sondern sie wirken auf unser Vorankommen wie kleine, dünne, schwache Grashalme.

Und was passiert dann?

Wenn die Strukturen, die Unklarheit und in der Folge Unglück und Leid verursachen, allmählich an Kraft verlieren, dann kann sich etwas anderes entfalten, das sonst immer wieder vom Sturm ihres Aufpralls in den Hintergrund gedrängt wird.

Wir haben eine Ahnung, oft eine kleine Erfahrung davon, was sich entfalten kann. Fast jeden Tag erleben wir glücklicherweise im Kleinen, dass wir die Fähigkeit zur Klarheit haben. Natürlich gibt es auch ohne Yoga klare Momente oder Phasen im Leben der Menschen. Was sie aber meist einschränkt, ist die Unzuverlässigkeit ihres Auftretens. Wenn wir Glück haben, sind sie da, wenn wir Pech haben, sind sie abwesend. Oft haben wir mehr Pech als Glück.

Yoga weist einen bewussten Weg zum Auftauchen von Klarheit, es will sich dabei nicht auf die Zufälligkeiten des Schicksals verlassen.

So entsteht in dem Maße, in dem die Macht der Verhinderer, der klésa, abnimmt, das, was Patañjali samādhi nennt – die Fähigkeit, das, was man erkennen will, mit vollkommener Klarheit zu erkennen.

samādhibhāvanārthaḥ kleśatanūkaranārthaśca
Yoga Sūtra, 2. Kapitel - Sūtra 2

samādhibhāvanārthaḥ - richtiges Erkennen erscheint

Zwei Äpfel fallen also von dem Baum, den man mit derselben Yogapraxis schüttelt:

Das, was uns einschränkt und behindert, wird weniger und im gleichen Maße wird etwas anderes, das, was uns klarer und damit zufriedener werden lässt, mehr.

Dieser Prozess des Abschleifens von klésa einerseits und der Entwicklung von mehr Klarheit andererseits geschieht jedoch nicht automatisch dadurch, dass wir Yogaübungen machen. Patañjali beschreibt die besonderen Bedingungen, unter denen die Praxis eine Chance auf Erfolg hat. Er begnügt sich nicht damit, uns auf eine ferne Zukunft zu vertrösten, in der die klésa nur noch ein schlafendes Dasein führen. Er nennt uns die Werkzeuge in diesem Prozess – die acht Glieder des Yoga – und gibt praktische Ratschläge für den unmittelbaren, mittelfristigen und langfristigen Umgang mit den klésa. ▼

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