Die klésa und avidyā
Der Klésa-Schuh drückt uns nicht, wenn wir philosophisch nachdenken, sondern wenn wir durch unser tägliches Leben gehen. Die Dinge, die Leiden verursachen – die klésa, sind gerade deshalb so erdrückend, weil sie in unserer normalen Alltagswelt stattfinden, vierundzwanzig Stunden am Tag. Deshalb versucht der Yoga, eine Strategie aufzuzeigen, wie unser Leben genossen und sinnvoll gestaltet werden kann, während wir durch die Welt gehen.
Patañjalis Yoga Sūtra hat vier Kapitel, in denen Yoga in seiner Wirkung auf den menschlichen Geist beschrieben wird. Ausgangspunkt im zweiten Kapitel ist ein Mensch, der sich entschlossen hat, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen, es zum Besseren zu verändern.
Ein solcher Mensch gerät immer wieder in schwierige Situationen, erlebt sich in seinem Verhalten als Gewohnheitstier, fühlt sich wiederholt unwohl, unglücklich und unfrei. Die Frage drängt sich auf:
- Warum ist das so?
- Was treibt ihn an, was bringt ihn in diese Situationen?
Bevor Patañjali eine differenzierte Antwort gibt, benennt er die Verantwortlichen: wir selbst. Mit der Erkenntnis – wir selbst – gibt sich Patañjali aber bisher nicht zufrieden, denn – wir selbst – sind es schließlich auch, die es besser machen können. Es ist also ein Aspekt von uns, der neben anderen existiert. Dass dieser Aspekt am Werk ist, wissen wir mit Sicherheit, wenn wir eines erfahren: die Erfahrung von Leid und Unglück. Das Leiden existiert, weil die klésa existieren.
Nun zu Patañjalis erster These: Alle klésa, so besonders, individuell und verschieden sie im Einzelnen auch erscheinen mögen, lassen sich auf ein Grundproblem zurückführen. Es besteht darin, dass ich eine falsche Wahrnehmung von dem entwickle, was um mich herum existiert oder mit mir geschieht.
Kurz gesagt, wenn ich mich in der Wahrnehmung meiner Umgebung oder meiner selbst täusche, dann ist klésa-Zeit. Patañjali behauptet, dass es die Fähigkeit – und der Drang – in uns ist, Situationen und die daran Beteiligten falsch wahrzunehmen, die uns letztlich Enge und Unzufriedenheit erfahren lässt. Er nennt dies avidyā.
A-vidyā ist das Gegenteil von vidyā, von richtigem Verstehen, von Wissen, das aus wirklichem Verstehen resultiert. Wie sonst ließen sich viele alltägliche Erfahrungen erklären?
- Warum nehmen wir etwa ein ernst gemeintes Kompliment oft mit Misstrauen auf?
- Warum interpretieren wir ein zufälliges Anrempeln in der U-Bahn als absichtlichen Angriff auf unsere Person und nicht als Ausdruck der Müdigkeit unseres Banknachbarn und nehmen die Entschuldigung dafür nicht mit dem Herzen an?
- Warum bin ich enttäuscht, wenn nach so viel Aufopferung meinerseits der Dank vergeblich auf sich warten lässt?
- Warum verstehen wir manchmal erst nach Jahren, warum eine Beziehung in die Brüche gegangen ist?
- Warum muss ein Mensch schmerzhafte Erfahrungen hundertmal machen, bis er begreift, dass sie alle in ein und derselben alten Struktur wurzeln?
- Warum wissen wir nach einem Konflikt meist besser, wie wir ihn produktiver hätten lösen können?
Weil wir befangen waren in einer falschen Sichtweise, in einem Missverständnis, in avidyā. Damit wir Patañjali hier nicht selbst missverstehen, sei kurz daran erinnert, dass er ein solches Missverstehen zwar für ganz normal hält und sogar davon ausgeht, dass wir in der Wahrnehmung unseres Handelns und des Handelns anderer avidyā geradezu allgegenwärtig ist. Damit will er aber keineswegs sagen, dass das, was wir wahrnehmen, in Wirklichkeit eine Illusion ist.
Ganz im Gegenteil. Gerade im Prinzip, im tiefsten Kern, hält Patañjali die Welt und alles auf und in ihr für real.
Ein Baum oder eine Beziehung sind real und sie existieren unabhängig davon, ob jemand sie betrachtet oder nicht. Mit dem Hinweis auf die große Kraft von avidyā soll gerade nicht behauptet werden, dass etwas, was wir wahrnehmen, eigentlich – im letzten Grund, in aller Tiefe betrachtet – gar nicht wirklich sei.
Avidyā ist kein Urteil über die Welt, den Mitmenschen, ein Ereignis. Avidyā ist nur das Urteil über eine Auffassung, die ich in diesem Augenblick habe. Avidyā sagt, dass diese Auffassung, diese Wahrnehmung mangelhaft ist. Sie könnte besser sein, sie könnte sogar richtig sein. Aber im Moment von avidyā ist in mir eine Unklarheit. Zum Beispiel führt avidyā dazu, dass wir das Vergängliche für ewig halten. Beispiele für ein solches Missverständnis gibt es mehr als genug:
- unsere Gesundheit
- unseren funktionierenden Körper für garantiert zu halten und ihm die Veränderungen, die zum Prozess des Alterns gehören, fast übelzunehmen oder zu ignorieren, ist ein Beispiel dafür.
Aber weder unser Körper noch unser Geist stehen uns unbegrenzt und immer gleich zur Verfügung, noch sind die Menschen um uns herum oder unsere berufliche Situation von Veränderungen ausgenommen. Und wie oft können wir uns dabei ertappen, dass wir das Jetzt ganz unverändert in die Zukunft hineingedacht haben, im Guten ebenso oft wie im Schlechten.
Im Zustand von avidyā verwechseln wir auch Unklarheit mit Klarheit, unterliegen also einer Täuschung über die Grundlage unseres Handelns. Wir fühlen uns klar, sind aber in Wirklichkeit sehr verwirrt. Oder umgekehrt. Wir trauen unserer Wahrnehmung nicht, aber am Ende erweist sie sich als richtig. Zwischenmenschliche Beziehungen sind voll von solchen Situationen. Ein gemeinsames Kind schien die Lösung einer Beziehungskrise zu sein. Doch die Zeit und mit ihr die größere innere Distanz zeigen, dass es eine Fehlentscheidung war und nur ein neues, zusätzliches Problem geschaffen hat.
Oder umgekehrt:
- Eine Mutter hält es für vollkommen unvorstellbar, ein Kind allein großzuziehen, und findet dann doch einen Weg, es auf schöne und befriedigende Weise zu tun.
- Jemand sagt angesichts einer Magenverstimmung – bei all dem Stress muss das wohl sein – bis er erfährt, dass der leckere Fischsalat verdorben ist.
- Ich gebe eine Yogastunde und finde sie so schlecht, dass ich hinterher nicht zu fragen wage, wie es war. Die Teilnehmer hingegen fühlen sich wohl und sind begeistert.
Beim nächsten Mal könnte es genau umgekehrt sein. Das Problem mit einem solchen Missverständnis ist, dass wir es in der entsprechenden Situation nie als solches erkennen. Wenn wir es erkennen, ist es kein Missverständnis mehr. Gott sei Dank gibt es aber auch indirektere Hinweise auf das Vorhandensein von avidyā. Patañjali beschreibt sie als die konkret erfahrbaren Gefühle, deren Gestalt avidyā annimmt. Das falsche Wissen nennt er den Acker, auf dem die anderen Strukturen wachsen, die uns ins Unglück laufen lassen. Die Blüten, die dieses Feld hervorbringt, sind uns vertraut, sie riechen nach etwas, sie fühlen sich an, wir können sie identifizieren. In unserem Geist tauchen sie als Gedanken oder Gefühle auf, in unserem Körper als Empfindungen, es sind:
- die Selbstbezogenheit – asmitā
- das Habenwollen und Anhaften – rāga
- die Abneigung und Ablehnung – dvesha
- die Angst – abhiniveśāḥ