Über cakra

Kaum ein Aspekt des Yoga musste sich mehr Missverständnisse gefallen lassen als das Konzept der cakra. Viveka hat dafür T. K. V. Desikachar nach der Bedeutung der cakra für den Yoga befragt und seine Antworten zusammengefasst.

Ein Blick in die unüberschaubar gewordene Literatur über cakra offenbart ein buntes Disneyland von atemberaubender Beliebigkeit. Wen dabei das Gefühl beschleicht, dass mit dem Konzept der cakra ursprünglich vielleicht doch etwas anderes gemeint sein könnte als ein Cocktail aus hinduistischer Symbolik, Trivialpsychologie und esoterischen Märchenwelten, findet im Artikel spannende Denkanstöße.

Über cakra

Kaum ein Aspekt des Yoga musste sich mehr Missverständnisse gefallen lassen als das Konzept der cakra. Viveka hat dafür T. K. V. Desikachar nach der Bedeutung der cakra für den Yoga befragt und seine Antworten zusammengefasst.

Ein Blick in die unüberschaubar gewordene Literatur über cakra offenbart ein buntes Disneyland von atemberaubender Beliebigkeit. Wen dabei das Gefühl beschleicht, dass mit dem Konzept der cakra ursprünglich vielleicht doch etwas anderes gemeint sein könnte als ein Cocktail aus hinduistischer Symbolik, Trivialpsychologie und esoterischen Märchenwelten, findet im Artikel spannende Denkanstöße.

Über cakra

Kaum ein Aspekt des Yoga musste sich mehr Missverständnisse gefallen lassen als das Konzept der cakra. Viveka hat dafür T. K. V. Desikachar nach der Bedeutung der cakra für den Yoga befragt und seine Antworten zusammengefasst.

Ein Blick in die unüberschaubar gewordene Literatur über cakra offenbart ein buntes Disneyland von atemberaubender Beliebigkeit. Wen dabei das Gefühl beschleicht, dass mit dem Konzept der cakra ursprünglich vielleicht doch etwas anderes gemeint sein könnte als ein Cocktail aus hinduistischer Symbolik, Trivialpsychologie und esoterischen Märchenwelten, findet im Artikel spannende Denkanstöße.

Einleitung

Immer wenn man ein System, gleich welcher Art, verstehen möchte, bedarf es einer Struktur, einer Strukturierung. Was für jede moderne Wissenschaft gilt, galt auch für die alten Weisen des Yoga dort, wo sie sich mit dem menschlichen System befassten. Ihr Weg des Ver­stehens bestand darin, darüber zu reflektieren, zu meditieren und sich so um Antworten auf ihre Fragen zu bemühen. Dem, was sie verstehen wollten und was sie verstanden, versuchten sie, eine Gestalt zu geben. In diesem Vorgehen unterschieden sie sich dabei nicht von den Weisen der alten indischen Heil­kunde, der Āyurveda, die das mensch­liche System ebenfalls auf eine bestimmte Weise zu erfassen suchten, und auch nicht von den philosophischen Ärzten des alten China.

Und natürlich haben auch die modernen Wissenschaften, wie die westliche Medizin nach Möglichkeiten der Strukturierung des menschlichen Systems gesucht und sie auf ihre Weise gefunden. Aus der Vielzahl der Ideen, die die Yogis zum menschlichen System entwickelten, wurden einige grundlegend für alle weiteren Betrach­tungen.

Unter allen Weisen weitverbreitet war die Sicht, dass das Leben in all seinen Aspekten von einer besonderen Kraft getragen wird. Sie nannten diese Lebens­kraft prāṇa. Wenn prāṇa in uns fließt, leben wir, wenn es uns verlässt, verlässt uns das Leben. Prāṇa ist somit verantwortlich für die verschiedenen Funktionen unseres Körpers. In allem, was Leben ausmacht, drückt sich dieses prāṇa aus. Wie aber – das war eine wichtige Frage – erreicht es die unterschiedlichen Bereiche des menschlichen Systems?

Wie bewegt sich Energie – ein Konzept

Im alten Indien hatte sich die Vorstellung entwickelt, dass prāṇa über besondere Wege, Kanäle verfügen müsse, durch die es fließen kann und sich diese Wege zu einem System fügen, das den ganzen Körper durchzieht. Solche Kanäle oder Bahnen nannten sie nāḍī. Und weil prāṇa von elementarer Wichtigkeit für ihr Leben war, kam diesem Geflecht von nāḍī eine ganz besondere Bedeutung zu.

Die Reflexionen und Meditationen der Weisen schlugen sich in einer besonderen Wissenschaft nieder, der Wissenschaft von den nāḍī – nāḍī vijñāna. Darin wurde ein Kon­zept des komplexen Systems der nāḍī in unserem Körper entwickelt, um zu verstehen, wie prāṇa jeden Ort des Körpers erreicht. Sie fanden dabei heraus, dass einige Teile dieses nāḍī-Systems von größerer Bedeu­tung waren als andere. Wollte man eine Analogie benutzen, so könnte man auf ein Beispiel aus der Medizin zurückgreifen.

In der Bedeutung, welche der naturwissenschaftliche Ansatz den Blutgefäßen gibt, wird ebenfalls eine Hierarchisierung vorgenommen. Die Aorta wird etwa eindeutig wichtiger eingeschätzt als die kleinen Arterien in den Fingern, obgleich durch beide das Gleiche fließt – in diesem Falle Blut.

Zurück zu den Gefäßen, in denen man sich die Energie vorstellte. Die Weisen jener Tage bezogen sich in der Hierarchisierung der nāḍī auf die Erfahrungen und Konzepte des Yoga selbst. Für den Yoga war die Wirbelsäule als zentrale Achse des Körpers schon immer von herausragender Wichtigkeit. Entsprechend verbanden sich die wichtigsten nāḍī dann auch mit dem Verlauf der Wirbelsäule. Diese zentralen Bahnen für den Fluss des prāṇa nannten die Weisen iḍā, piṅgala und suśumna. Die suśumna-Bahn verläuft entlang der Wirbelsäule. Von ida und pingala heißt es, dass sie an der Basis des Körpers beginnen und um die Wirbelsäule herum sich kreuzend entlang nach oben bewegen, um schließlich an der Nase zu enden.

Das System der wichtigsten nāḍī sah also so aus, dass man sich einen vertikalen Energie­weg entlang der Wirbelsäule vorstellte und daneben zwei andere, in der gleichen Richtung verlaufende, die sich an bestimmten Punkten kreuzten. Diese Vorstellung findet man heute in vielen Abhandlungen zu diesem Thema dargestellt. Woran hier aber noch einmal erinnert werden soll: Es ging darum, sich ein Bild davon zu machen, auf welche Weise sich prāṇa in unserem Körper bewegt und das Konzept der nāḍī war das Ergebnis bei dieser Suche.

Wichtige Bereiche des Körpers – eine Erfahrung

Neben den nāḍī wurden noch andere Gewichtungen und Differenzierungen der Struk­tur und des Systems des Körpers vorgenommen. So wurde etwa der untere Bereich des Rumpfes als ein wichtiger, ein besonderer Bereich erlebt. Aus ihm heraus entwickeln der Mensch etwa die Kraft, fest gegründet zu sitzen. Ein weiterer Bereich des Körpers, in dem eine wichtige Funktion ihren Ort hat, ist der Kehlbereich. Dort artikuliert sich die Sprache, die Kommunikation erst ermöglicht. Dann der Herzraum, der Ort an dem wir »fühlen«, Empfin­dun­gen erleben. Wo die Nahrung verwertet, in Energie gewandelt wird, dazu stellte man sich etwas in der Art eines Feuers vor und ordnete dieses »Verdauungsfeuers« dem oberen Bauchraum zu. Der Kopf, wo die Sinnesorgane, die Organe der Wahrnehmung, angesiedelt sind, wurde als bedeutend erachtet und immer wieder auf besondere Art und Weise beschrieben. Dabei gab man oft dem Raum zwischen den Augenbrauen eine besondere Rolle. Nahe bei den Augen gelegen wurde er mit der Fähigkeit der »Schau« in Verbindung gebracht. Es entwickelten sich also Vor­stellungen von besonderen Berei­chen im Körper, denen vielfältige Eigenschaften und Funktionen zugeschrieben wurden.

Energie begegnet sich und wird neu geordnet – eine Überlegung

Die Funktionsbeschreibung und Kartografie des Körpers wurde auf einfache Weise mit dem Konzept des Flusses von prāṇa und dessen zentralen Bahnen – den drei nāḍī: suśumnā, iḍā und piṅgalā – verknüpft. Dabei wurde angenommen, dass sich die Kreuzungspunkte von iḍā und piṅgalā jeweils ungefähr in jenen zuvor beschriebenen wichtigen Körperbereichen befinden, denen besondere Funktionen im menschlichen System zugeschrieben wurden.

Mit diesen Kreuzungspunkten wurde eine besondere Bedeutung verbunden. Sie wurden als Orte gedacht, an denen sich Energie innerhalb der mittleren Bahn, der suśumnā, begegnet – ein Zusammentreffen, durch das Bewegung und Aktivität entstehen. Das Kreuzen der Bahnen wurde jedoch nicht im Sinne eines Verschmelzens verstanden. Vielmehr wurde davon ausgegangen, dass sich die nāḍī an bestimmten Punkten einander stark annähern und sich dort wechselseitig beeinflussen. An diesen Orten, an denen sich der Energiefluss des prāṇa auf besondere Weise begegnet, wurde eine Neuordnung angenommen.

Um diese Neuordnung zu ermöglichen, bedurfte es eines regulierenden Elements. Dieses wurde als eine dynamische Struktur vorgestellt und cakra genannt.

Der Begriff cakra bedeutet „Rad“ und bezeichnet etwas, das leicht und schnell in Bewegung versetzt werden kann. Dieses strukturierende Energiekonzept ist heute als das cakra-System bekannt, das vom Beckenboden bis zum höchsten Punkt des Kopfes reicht.

Darstellung der cakra und nāḍī, gezeichnet im 19. Jahrhundert im Norden Indiens in Bihar
Abb. 1

Eine beispielhafte Darstellung der cakra und nāḍī zeigt Abb. 1. Die Grafik stammt sehr wahrscheinlich aus einem manuskriptbasierten Yoga‑/Tantra‑Werk aus dem 19. Jahrhundert, speziell aus einer 1899 datierten Handschrift mit dem Titel Sapta Cakra. Sie gehört in die Tradition der Patna School of Painting (auch Patna Qalaam) aus Bihar – eine regionale Stilrichtung des 18.–19. Jh., die sakrale Körperdiagramme inklusive Cakren und Nadis in klaren Linien und ohne aufwendige Hintergründe darstellte.

Das Bild der cakra – eine Vision

Räumlich stellte man sich in man­chen Traditionen die cakra in einer horizontalen Ebene vor, andere sahen sie vertikal aufgerichtet und man verband sie mit bestimmten Eigenschaften. Der Ort zum Beispiel, in dem die Kraft für das Sitzen gesehen wurde, die Kraft für die Aufrichtung, der ganze Beckenraum, muss solide und stabil sein. Daher assoziierte man den Regulations­punkt der Energie dort mit der Qualität der Erde und nannte ihn das Erd- oder Wurzelchakra, mūlādhāra cakra. Ein anderer Ort dagegen, dort wo die meisten der Wahr­nehmungen stattfinden, ist der Kopf. So wurde das cakra dort, das ajña cakra, mit der Wahrnehmung verbunden, manchmal sogar auch mit unserem Geist, der ja ein Feld der Wahrnehmung ist, manchmal stellte man es sich auch wie ein drittes Auge vor.

Über die Zeit verbanden sich mit diesen Konzepten viele andere. Selbst Vorstellungen darüber, was mit einem Menschen im Augenblick des Todes geschieht, wurden mit dem System der cakra verknüpft. In Texten, wie dem des berühmten Yogi Yajñavalkya verband sich eine besondere Vor­stellung mit dem Konzept der nāḍī und cakra. Meine Vorfahren – wie auch heute noch viele Menschen in Indien –, glaubten fest daran, dass man im Moment des Todes auf das universale Bewusstsein trifft, eine Kraft, die sie brahmā nannten. Die Energie, die uns Menschen am Leben erhalten hat, prāṇa, taucht nach diesem Glauben dann in das universale Bewusstsein ein.

Dazu muss die Lebensenergie nicht irgendeinen, sondern einen bestimmten Weg aus dem Körper heraus nehmen, den Weg durch die suśumnā, die mittlere Energiebahn entlang der Wirbelsäule.

Nur wenn die Lebens­energie im Moment des Todes durch die suśumnā über den höchsten Punkt am Scheitel hinaus geht, öffnet sich der sterbende Mensch zum universalen, höchsten Bewusstsein hin. Der Punkt dieser Öffnung wird das cakra der »tausend (sahasra) Speichen« genannt. Dieses Bei­spiel soll verdeutlichen, wie vielfältig die Vorstellungen und Ideen sind, die sich mit den Konzepten der nāḍī und cakra verbunden haben.

Wie viele cakra gibt es, wie sehen sie aus?

Auch was die Anzahl der cakra angeht, finden wir die unterschiedlichsten Vor­stellungen. Am weitesten verbreitet ist die Vorstellung von sieben cakra, den höchsten Punkt des Kopfes eingeschlossen. Mein Vater T. Krishna­macharya wiederum hat in seinem Buch »Yogamakaranda« von zehn cakra gesprochen – nicht von sieben. Ansonsten gibt es jedoch noch andere, deutlich davon abweichende Vorstellun­gen bezüglich der Anzahl der cakra.

Darstellung unterschiedlicher Anzahl an cakra
Abb. 2

Die linke Seite in Abb. 2 zeigt eine Darstellung aus Tanjore, Südindien, entstanden im neunzehnten Jahrhundert, auf der sieben cakra dargestellt sind. Auf rechten Seite eine Darstellung im Kontext des Mahayanabuddhismus, die sechs cakra zeigt.

Die Anzahl der cakra ebenso wie ihre Namen fallen in den verschiedenen Traditionen des Yogas sehr unterschiedlich aus. Eine wichtige Schrift des Tantra stammt von dem schon oft im Zusammenhang mit der Haṭha Yoga Pradīpikā auch als Haṭhapradīpikā genannten Yogi Goraknāth – sie heißt siddha siddhānta paddhati. Über die Anzahl und die Bezeichnung der verschiedenen cakra in diesem Text schreibt der Gelehrte Akasa Kumar Folgendes: »Yogiguru Goraknāth erwähnt in siddha siddhānta paddhati neun cakra. Yoga-shāstras und Tantra-shāstras shāstras sind Lehrtexte sind in Bezug auf die Anzahl der cakra nicht dogmatisch. Im Allgemeinen werden sechs cakra aufgezählt; in einigen Fällen sind es sieben, acht oder neun. Dies zeigt wohl, dass der genauen Anzahl keine übertriebene Bedeutung beigemessen werden muss. Die Erfahrungen der Yogis können sich an solchen unbedeutenden Punkten unterscheiden. Während Yogi-Gurus (Yogalehrer) Unterweisungen an ihre Schüler geben und ihre Methoden der Kontemplation und Meditation anleiten, geschieht es häufig, dass sie bestimmte Stufen auslassen und die Bedeutung auf andere legen. Die ältere Yogaliteratur spricht allerdings häufig von neun cakra«.

Auch die Form, in der man die cakra visualisierte, wird in der Tradi­tion unterschiedlich beschrieben. Viele stellten sich die cakra als Kreise oder Räder vor, ruhend oder in Bewegung; an anderen Stellen finden wir sie beschrieben als Lotosblüten mit einer unterschiedlichen Anzahl von Blütenblättern. Im Vergleich mit dem Bild des Rades, welches mehr die Rotation, der Be­wegung meint, betont die Lotosblüte mehr den Aspekt der Schöpfung.

Auch in der spirituellen Tradition des mittelalterlichen Europa wurden wichtige Körperbereiche als Räder oder Kreise beschrieben. Abb. 3 zeigt eine solche bekannte Darstellung aus der Theosphia practica von Georg Gichtel (1638 – 1710).

Bekannte Darstellung aus der Theosphia practica von Georg Gichtel (1638 – 1710).
Abb. 3

Wenn man das alles nun wirklich ernst nimmt, dann zeigt sich gerade am Thema cakra ganz offensichtlich, dass Menschen, die meditieren, nicht immer die gleichen Erfah­rungen machen und keineswegs immer identische Visionen haben. Da gibt es nichts zu streiten oder zu disputieren, denn da geht es um die persönliche Erfahrung der einzelnen Seher. Aber es ist wichtig, sich dieser Unterschiede bewusst zu sein und sich Gedanken darüber zu machen, welche Konsequenzen das für den Umgang mit diesen Erfah­rungen und Konzepten hat.

Der Reinigungsprozess – ein dynamisches Modell

Wie verbindet sich nun das bisher über nāḍī und cakra Gesagte mit Yoga­praxis? Welchen Sinn ergibt Yoga­pra­xis überhaupt in diesem Zusam­men­hang? Die Antwort ist überall eindeutig und lautet folgender­maßen:

Weil der Fluss des prāṇa nicht immer frei ist, sondern durch Blockaden behindert wird, müssen wir den Körper mithilfe einer Praxis von diesen Blockierungen befreien.

In den alten Konzepten wurde auch den Blockierungen ein Ort im Kör­per zugewiesen, wo sie für die Reinigungspraxis erreichbar und damit lösbar wären. Gemeinhin wird in diesem Zusammenhang dann nur von »der Blockierung« gesprochen. Man stellte sie sich als am unteren Ende des mittleren nāḍī, der suśumna liegend vor. Wie kann sie erreicht werden, wie gelöst werden?

Die wichtigste Praxis für die Rei­nigung dieser Blockierung ist das Üben von Prāṇāyāma zusammen mit den bandha. Texte wie die Yoga­yajña­valkya beschreiben es so: Wenn jemand unter der Anleitung eines Lehrers in der richtigen Weise und intensiv Prāṇāyāma praktiziert, die Praxis von bandha eingeschlossen, bringt diese Praxis das prāṇa in Kontakt mit einem inneren »Feuer«, agni genannt. Agni beschreibt eine Kraft, die imstande ist, Schlacken, Blockaden, Unreinheiten im Körper zu beseitigen, gleichsam zu »verbrennen«. Unter Schlacke oder Unreinheit – die Texte benutzen den Begriff mala – wird alles verstanden, was den Körper unnötigerweise »beschwert«, also sein System in dessen freiem Fluss behindert und blockiert.

Wo und wann immer solche Blockie­rungen abgebaut werden, wird dies der Kraft dieses Feuers, des agni zugeschrieben. Bei Yajñavalkya heißt es nun, dass sich durch intensive Praxis von Prāṇāyāma dieses agni mit prāṇa verbindet und die Blockierung am unteren Ende der suśumna langsam verbrennt, also beseitigt. Yajña­valkya nennt diese Blockierung nicht mala, sondern kuṇḍalinī. Sie wird bei ihm verstanden als etwas, das den Zugang zu der zentralen Energiebahn, der suśumna versperrt. Was dann geschieht ist, dass das prāṇa in die mittlere Energiebahn eintritt und sich aufwärts bewegt. Soweit die genaueste Beschreibung dieser Vorstellung, die uns bekannt ist. Sie ist daneben auch die klarste und eindeutigste.

Die Haṭha Yoga Pradīpikā ist in Bezug auf dieses Konzept etwas unklar und widersprüchlich. Einmal wird wie bei Yajñavalkya beschrieben, dass das prāṇa in der suśumna aufsteigt, wenn die Blockie­rung beseitigt ist, ein andermal heißt es in dem gleichen Text, dass es kuṇḍalinī sei, die den Weg nach oben nimmt. Trotzdem sind sich beide Texte in vielem We­sent­lichen einig. So zum Beispiel darin, dass der Zugang zur suśumna an deren unterem Ende liegt und auch darin, dass genau dort etwas den Eingang zu diesem zentralen nāḍī versperrt. Auch taucht in keinem der Texte der Gedanke auf, dass die nach oben steigende Energie (wie immer sie nun genannt wird) in einem der cakra »feststecken« könnte. Je mehr und intensiver das Üben, desto höher steigt sie in der jeweiligen Praxis.

Yajñavalkya beschreibt das sehr klar: Prāṇa findet seinen Weg nur durch die suśumna, wenn diese Energie­bahn ganz frei ist. Der einzige Ort, an dem es eine Blockierung gibt, ist die Basis der suśumna. Wenn diese Blockierung überwunden ist, steigt die Energie nach oben. Und wenn während einer intensiven Prāṇāyāma-Praxis tatsächlich prāṇa durch die suśumna fließt, so wird es dies nicht mehr tun, wenn diese Praxis weniger regelmäßig, weniger intensiv wird.

Der Gedanke aber, dass die Lebens­energie »steckenbleibt« hat nichts mit den Kon­zepten des Yoga zu tun. Die Idee des Yoga diesbezüglich geht vielmehr dahin, dass die Energie, das prāṇa sich normalerweise zerstreut, eher ungeordnet fließt, aber eben nicht in der mittleren Energiebahn.

Schauen wir uns einmal die Vorstellungen genauer an, die die Haṭha Yoga Pradīpikā zur Idee der cakra formuliert. Die Haṭha Yoga Pradīpikā, ein Text, der tief in die Ein­zelheiten des Übens geht, ist – wie schon gesagt – in manchem widersprüchlich. In einem ist er aber sehr eindeutig und äußert dies an vielen Stellen: Wenn der Geist ruhig ist, wird prāṇa den »mittleren Weg« einschlagen, wenn prāṇa diesem Weg folgt, ist der Geist ruhig. Um dies zu erreichen, bedarf es der Praxis des Prāṇāyāma. Für die Haṭhapradīpikā geht also der Fluss des prāṇa, sein Aufstieg durch die suśumna und seine Bewegung im Bereich der cakra untrennbar einher mit dem, was in diesem Text rājayoga, also Stabilität des Geistes, genannt wird. Diese Tatsache wird oft viel zu wenig berücksichtigt.

Der Text sagt, dass wir die Bewegung des prāṇa in der suśumna als gleichbedeutend verstehen können mit einem Zustand, in dem der Geist größ­te Klarheit und Ruhe erreicht, also samādhi. Wenn eines geschieht, ist das andere geschehen.

Die Haṭhapradīpikā kann sich keine samādhi-Situation ohne den Fluss des prāṇa in der suśumna vorstellen. Das gilt auch in der Umkehrung: Die Tatsache, dass der Geist ausgeglichen ist, kann als ein Beweis für das Fließen des prāṇa in der suśumna gelten. Worüber die Haṭhapradīpikā nicht spricht, ist der von Yajñavalkya dargestellte Zusammen­hang zwischen dem endgültigen Aufsteigen des prāṇa bis in den Scheitel und dem Auflösen der individuellen Lebensenergie im Moment des Todes.

Cakra sind Konzentrationspunkte für den Geist

Es ist mir wichtig zu betonen – und die große Vielfalt an unterschiedlichen Ideen und Bildern bestätigt dies –, dass es sich bei allem bisher Beschriebenen um Vorstellungen handelt. Dies gilt selbstverständlich auch für das Konzept der cakra. Die Konzepte malen Bilder, deren Rolle darin besteht, dem Geist eine Vorgabe zu machen, auf die er sich ausrichten kann. Dieser Punkt ist entscheidend für die Diskussion über cakra und nāḍī. Solche Vorstellungen dienten und dienen als Objekt der Reflexion, der Meditation, der Konzentration für den Geist. Wir können sie mit dem Begriff bhāvana bezeichnen. Bhāvana bedeutet, dass ich mir einen Ort, ein Konzept, ein Bild, eine Vision schaffe und darauf meine Aufmerksamkeit richte.

Ein bhāvana ist nie davon abhängig, wie real der Inhalt meiner Ausrichtung ist. Ich kann mein bhāvana auf eine reale Wahrnehmung wie den Kontakt meiner Füße zum Boden richten. Ich kann in einem bhāvana aber auch mich als gesund vorstellen, obwohl ich in Wirklichkeit krank bin.

Wenn nun ein bhāvana allein aus meiner Vorstellungskraft heraus entsteht, heißt das keineswegs, dass dieses bhāvana keine Wirkung oder weniger zeigen würde, als wenn es sich auf etwas real Vorhandenes bezöge. Der Yoga kennt zahllose Techniken – und setzt sie oft und erfolgreich ein – in denen mit der Kraft der Vorstellung, der Imagination gearbeitet wird. Auch cakra sind solche bhāvanas, solche Konzentrations- und Meditationsvisionen.

Selbstverständlich werden wir beim Durchsuchen des Körpers die cakra nicht finden. Das wussten schon die alten Weisen und auch mein Vater wurde nie müde, es zu betonen. Die cakra waren eine Vision der Yogis, sie entsprachen ihrer individuellen Erfahrung. Aus diesem Grund finden sich verschiedene Beschreibungen von cakra. Wenn wir uns heute mit den cakra beschäftigen wollen, so müssen wir sie zunächst so annehmen und anerkennen. Deshalb bringt es nichts, sich darüber zu streiten – wie es zuweilen immer noch geschieht -, ob dieses oder jenes cakra zwei Zentimeter weiter oben oder weiter unten ist. Liegt es vertikal oder horizontal? Ist es blau oder grün? Wir sollten aufpassen, dass das Sprechen und Schreiben über die cakra nicht zu etwas Lächerlichem gerät.

Es geht vielmehr darum, klarzumachen, dass wir dabei nur bestimmten Vorstellungen folgen.

Wir sprechen über ein bhāvana der alten Yogis und weder über eine wissenschaftliche Realität noch eine von uns gemachte Erfahrung.

Diese bhāvana sind zu Beginn unseres Übens oft hilfreich, aber sie machen nur Sinn im Zusammenhang unserer eigenen Praxis. Ohne diese werden sie schnell Gegenstand aller möglichen Spekulationen, Ausschmückungen und Fantasien. Wir müssen selbst Erfahrungen sammeln. Vielleicht führt dies schließlich dazu, besser zu verstehen, was mit der als bhāvana gegebenen Vorstellung gemeint war.

Wie nützlich ist das Konzept der Cakra für die Praxis?

Wie weit die Vorstellung im Zusammenhang der Praxis von Āsana oder Prāṇāyāma sinnvoll sein könnte, bedarf einer gründlichen, klaren und leidenschaftslosen Reflexion. Einige Beispiele: Üben wir etwa die Vorbeuge aus dem Langsitz, paścimatānāsana richtig und im Zusammenhang mit einem geführten Atem, so können wir fühlen, dass die Bewegung der Vorbeuge im unteren Rücken beginnt und ihren Schwerpunkt im unteren Bereich des Rumpfes hat. Selbstverständlich können wir das so ausdrücken, dass dieses Āsana seinen Fokus auf dem untersten cakra, dem mūlādhāra cakra hat.

Haben wir im sarvāṇgāsana, dem Schulterstand, aufgrund der Dehnung und des Atmens vielleicht eine besondere Empfindung im Bereich des Halses, so können wir entsprechend sagen, dass das Āsana seinen Fokus im Bereich der Kehlgrube, des viśuddhi cakra hat. Damit ist der Ort beschrieben, wo das Āsana seinen Schwerpunkt hat, aber auch nicht mehr. Im Unterrichten kann man das natürlich auch in einen Hinweis für den oder die Übende umsetzen: Fühle hin zu deinem mūlādhāra, zu deinem manipūra cakra … Wenn ein solcher Vorschlag dazu beiträgt, dass es jemandem dabei besser geht oder er oder sie weiterkommt, sehe ich nichts Schlechtes darin. Führen wir beim Üben eines bestimmten Āsana ein bhāvana ein, deutlich und durchschaubar, so kann sich ein solcher Vorschlag auf die Qualität der Praxis positiv auswirken.

Meist ist es jedoch nicht so eine gute Idee, sich beim Üben von Āsana zu weit in eine Vorstellungswelt hineinzubegeben. Achtsamkeit für das, was man beim Üben gerade tut und empfindet, bewirkt wesentlich mehr.

Aber was bedeutet es schon, wenn jemand sagt: »Mein viśuddhi cakra ist in Ordnung« oder »mein ajña cakra ist erwacht …«? Im Kontext des oben Gesagten könnte das doch nur eines heißen: »Mein prāṇa fließt durch die suśumna«.

Nach der Beschreibung dieses Zustandes in allen alten Texten müsste solch ein Mensch also vor allem anderen über einen hochgradig gelassenen Geisteszustand verfügen. Einen Geisteszustand, in dem es wirklich keinerlei Ablenkung oder Verwirrung mehr gibt.

Woran wir erkennen könnten, ob das geschehen ist, wäre zum Beispiel, wie sich solch ein Mensch in der Welt bewegt, wie er mit anderen Lebewesen umgeht, wie viel Klarheit sein Handeln ausdrückt. Und daran, dass solch ein Mensch sich mit seiner Erfahrung sicher nicht brüsten würde.

Um was es wirklich geht

Die Theorie im Yoga ist sehr klar: Unser Atem und unser Geist sind eng miteinander verbunden – Prāṇa und unser Geist sind verbunden. Wenn der Geist gestört ist, ist der Atem gestört; wird der Atem reguliert, klärt sich der Geist. Durch das regulierte Atmen können wir das prāṇa in unserem System indirekt beeinflussen. Die so erreichte Reinigung der nāḍī macht es dem prāṇa möglich, tiefer und feiner zu fließen.

Eine der wichtigsten Unreinheiten des Geistes ist seine Unruhe, hervorgerufen durch Gier, Ärger, Angst – was immer es davon sein mag. Deshalb müssen sich Veränderungen in der Qualität des prāṇa in Veränderungen der Qualität unseres Geistes widerspiegeln.

Wenn unser Geist besondere feine Qualitäten hat, dann zeigt sich das darin, dass uns verschiedenste Möglichkeiten offenstehen.

Wir können etwa Dinge verstehen, die ein anderer Mensch nicht durchschauen kann. Wenn man diese Fähigkeiten »übernatürliche Kräfte« nennen möchte – okay. Jemand, der allerdings mit seinen »Kräften« hausieren geht, hat sich in eine schwierige Situation hinein manövriert. Dass er so laut über seine Erfahrung spricht, zeigt seine Fixiertheit darauf, wie bewegt sein Geist ist. Und wenn sein Geist bewegt und gestört ist, fließt sein prāṇa nicht ruhig. Und wenn das geschieht, kann man den Bezug von prāṇa und den cakra vollständig vergessen. Mit anderen Worten: ein solcher Mensch straft sich selbst Lügen.

Noch etwas anderes: Immer wieder machen Menschen, die Yoga praktizieren, unangenehme Erfahrungen in ihrer Āsana- oder Prāṇāyāma-Praxis. Bestimmte Körperempfindungen in einem besonderen Bereich des Körpers werden da erfahren, die sich kaum oder gar nicht kontrollieren lassen. Häufig werden solche Erfahrungen dann schöngeredet als Aufsteigen der kuṇḍalinī oder Ähnliches. Solche Situationen, oft genug sehr beunruhigend, können wir mit Sicherheit nicht mit dem Fluss von prāṇa in dem einen oder anderen cakra in Zusammenhang bringen. Denn wenn etwas unseren Geist derart drängt, ihn eng macht oder stört, dann muss die Ursache in etwas anderem liegen. Zu einer Erfahrung getrieben werden und leiden auf der einen Seite und der Fluss von prāṇa in der suśumna auf der anderen sind zwei Dinge, die nicht zusammen auftreten können.

Fehldeutungen

Das menschliche energetische System ist kompliziert. Und noch schwieriger ist es, unseren Geist zu verstehen, seine Struktur, seine Beschränkungen und Möglichkeiten, seine Beziehungen zum Körper und umgekehrt. Dagegen kann man einem anderen Menschen so einfach erklären, dass es sieben cakra gibt, dass sie so und so aussehen, da und da im Körper lokalisiert sind usw.

Dass damit aber noch nicht viel gesagt und noch weniger verstanden ist, zeigt sich daran, dass oft versucht wird, das Modell der cakra naturwissenschaftlich zu untermauern oder das naturwissenschaftliche Wissen zu »spiritualisieren«. Da wird etwa das mūlādhāra cakra gleichgesetzt mit den Nieren oder dem Solarplexus oder das viśuddhi cakra mit der Schilddrüse oder einem Nervengeflecht.

Wir sollten uns nichts vormachen: Mit dem Modell der nāḍī und cakra werden wir nie in der Lage sein, irgendwelche physiologischen Prozesse, die mit der Yogapraxis einhergehen, erklären zu können. Der Versuch, ein System wie das der cakra und das der naturwissenschaftlichen Physiologie miteinander zu vermischen, bringt nur mehr Verwirrung.

Tun wir es aber dennoch, so laufen wir Gefahr, uns lächerlich zu machen. Alle bisherigen Versuche, Verbindungen zwischen diesen verschiedenen Systemen herzustellen, sind von der naturwissenschaftlichen Seite her gesehen voller Oberflächlichkeiten und falscher Vereinfachungen. Gleichzeitig werden sie der wirklichen Bedeutung dieser alten Systeme überhaupt nicht gerecht und verstellen den Blick auf deren eigentliches Anliegen. Wir nehmen uns damit alle Möglichkeiten, aus diesen Konzepten das zu lernen, was dem Umgang mit ihnen auch heute noch einen Sinn und einen Wert geben kann.

Eine Orientierung: Das Yoga Sūtra

Yoga ist offen für alles, was den Menschen voranbringt, und er akzeptiert jedes Modell, solange dies nur geschieht. Beim Umgang mit verschiedenen Modellen des Yoga müssen wir uns also fragen, wie wir eine Orientierung finden können, die es ermöglicht, deren Ergebnisse zu reflektieren und zu entscheiden, ob sie hilfreich sind oder nicht. Ohne eine solche Orientierung tun wir heute dieses so und morgen jenes so, ohne uns je mit den daraus entstehenden Konsequenzen auseinandersetzen zu müssen.

Yoga wird in der indischen Tradition sāstra genannt. Sāstra ist etwas wie eine Wissenschaft: Ein sāstra hat nichts Beliebiges, sondern es ist in sich stimmig, durchschaubar, bei entsprechender Erklärung nachvollziehbar. Das Yoga Sūtra von Patañjali ist das maßgebliche Werk über Yoga und wenn von Yoga-sāstra die Rede ist, so ist diese Schrift gemeint.

Patañjalis Werk gibt die Orientierung, von der oben die Rede war. So wichtig und hilfreich andere Konzepte und Texte sind, der maßgebliche Prüfstein für Yoga ist Patañjalis Yoga Sūtra.

Betrachten wir zum Abschluss die häufig ausgesprochene Vorstellung, den cakra würden besondere Kräfte oder Bewusstseinsebenen innewohnen, im Lichte des Yoga Sūtra. Patañjalis Position zu dieser Vorstellung ist eine deutlich andere. Jede Fähigkeit, Kraft oder Erkenntnis, die ein Mensch entwickelt, wird im Yoga-sāstra Patañjalis ausschließlich in den Zusammenhang mit unserem Geist gebracht und in einen Zusammenhang mit etwas, was noch mächtiger ist als der Geist, dem Bewusstsein. Im Rahmen dieses Yoga-sāstra können wir Erkenntnisse, Gefühle oder Bewusstseinsebenen nicht einem Bereich des Körpers zuschreiben und sei er noch so subtil gefasst oder gemeint. Der Geist ist das, was gebündelt und gesammelt werden muss; mit einem solchen Geist können Wunder bewirkt werden, das ist alles. ▼

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Einleitung

Immer wenn man ein System, gleich welcher Art, verstehen möchte, bedarf es einer Struktur, einer Strukturierung. Was für jede moderne Wissenschaft gilt, galt auch für die alten Weisen des Yoga dort, wo sie sich mit dem menschlichen System befassten. Ihr Weg des Ver­stehens bestand darin, darüber zu reflektieren, zu meditieren und sich so um Antworten auf ihre Fragen zu bemühen. Dem, was sie verstehen wollten und was sie verstanden, versuchten sie, eine Gestalt zu geben. In diesem Vorgehen unterschieden sie sich dabei nicht von den Weisen der alten indischen Heil­kunde, der Āyurveda, die das mensch­liche System ebenfalls auf eine bestimmte Weise zu erfassen suchten, und auch nicht von den philosophischen Ärzten des alten China.

Und natürlich haben auch die modernen Wissenschaften, wie die westliche Medizin nach Möglichkeiten der Strukturierung des menschlichen Systems gesucht und sie auf ihre Weise gefunden. Aus der Vielzahl der Ideen, die die Yogis zum menschlichen System entwickelten, wurden einige grundlegend für alle weiteren Betrach­tungen.

Unter allen Weisen weitverbreitet war die Sicht, dass das Leben in all seinen Aspekten von einer besonderen Kraft getragen wird. Sie nannten diese Lebens­kraft prāṇa. Wenn prāṇa in uns fließt, leben wir, wenn es uns verlässt, verlässt uns das Leben. Prāṇa ist somit verantwortlich für die verschiedenen Funktionen unseres Körpers. In allem, was Leben ausmacht, drückt sich dieses prāṇa aus. Wie aber – das war eine wichtige Frage – erreicht es die unterschiedlichen Bereiche des menschlichen Systems?

Wie bewegt sich Energie – ein Konzept

Im alten Indien hatte sich die Vorstellung entwickelt, dass prāṇa über besondere Wege, Kanäle verfügen müsse, durch die es fließen kann und sich diese Wege zu einem System fügen, das den ganzen Körper durchzieht. Solche Kanäle oder Bahnen nannten sie nāḍī. Und weil prāṇa von elementarer Wichtigkeit für ihr Leben war, kam diesem Geflecht von nāḍī eine ganz besondere Bedeutung zu.

Die Reflexionen und Meditationen der Weisen schlugen sich in einer besonderen Wissenschaft nieder, der Wissenschaft von den nāḍī – nāḍī vijñāna. Darin wurde ein Kon­zept des komplexen Systems der nāḍī in unserem Körper entwickelt, um zu verstehen, wie prāṇa jeden Ort des Körpers erreicht. Sie fanden dabei heraus, dass einige Teile dieses nāḍī-Systems von größerer Bedeu­tung waren als andere. Wollte man eine Analogie benutzen, so könnte man auf ein Beispiel aus der Medizin zurückgreifen.

In der Bedeutung, welche der naturwissenschaftliche Ansatz den Blutgefäßen gibt, wird ebenfalls eine Hierarchisierung vorgenommen. Die Aorta wird etwa eindeutig wichtiger eingeschätzt als die kleinen Arterien in den Fingern, obgleich durch beide das Gleiche fließt – in diesem Falle Blut.

Zurück zu den Gefäßen, in denen man sich die Energie vorstellte. Die Weisen jener Tage bezogen sich in der Hierarchisierung der nāḍī auf die Erfahrungen und Konzepte des Yoga selbst. Für den Yoga war die Wirbelsäule als zentrale Achse des Körpers schon immer von herausragender Wichtigkeit. Entsprechend verbanden sich die wichtigsten nāḍī dann auch mit dem Verlauf der Wirbelsäule. Diese zentralen Bahnen für den Fluss des prāṇa nannten die Weisen iḍā, piṅgala und suśumna. Die suśumna-Bahn verläuft entlang der Wirbelsäule. Von ida und pingala heißt es, dass sie an der Basis des Körpers beginnen und um die Wirbelsäule herum sich kreuzend entlang nach oben bewegen, um schließlich an der Nase zu enden.

Das System der wichtigsten nāḍī sah also so aus, dass man sich einen vertikalen Energie­weg entlang der Wirbelsäule vorstellte und daneben zwei andere, in der gleichen Richtung verlaufende, die sich an bestimmten Punkten kreuzten. Diese Vorstellung findet man heute in vielen Abhandlungen zu diesem Thema dargestellt. Woran hier aber noch einmal erinnert werden soll: Es ging darum, sich ein Bild davon zu machen, auf welche Weise sich prāṇa in unserem Körper bewegt und das Konzept der nāḍī war das Ergebnis bei dieser Suche.

Wichtige Bereiche des Körpers – eine Erfahrung

Neben den nāḍī wurden noch andere Gewichtungen und Differenzierungen der Struk­tur und des Systems des Körpers vorgenommen. So wurde etwa der untere Bereich des Rumpfes als ein wichtiger, ein besonderer Bereich erlebt. Aus ihm heraus entwickeln der Mensch etwa die Kraft, fest gegründet zu sitzen. Ein weiterer Bereich des Körpers, in dem eine wichtige Funktion ihren Ort hat, ist der Kehlbereich. Dort artikuliert sich die Sprache, die Kommunikation erst ermöglicht. Dann der Herzraum, der Ort an dem wir »fühlen«, Empfin­dun­gen erleben. Wo die Nahrung verwertet, in Energie gewandelt wird, dazu stellte man sich etwas in der Art eines Feuers vor und ordnete dieses »Verdauungsfeuers« dem oberen Bauchraum zu. Der Kopf, wo die Sinnesorgane, die Organe der Wahrnehmung, angesiedelt sind, wurde als bedeutend erachtet und immer wieder auf besondere Art und Weise beschrieben. Dabei gab man oft dem Raum zwischen den Augenbrauen eine besondere Rolle. Nahe bei den Augen gelegen wurde er mit der Fähigkeit der »Schau« in Verbindung gebracht. Es entwickelten sich also Vor­stellungen von besonderen Berei­chen im Körper, denen vielfältige Eigenschaften und Funktionen zugeschrieben wurden.

Energie begegnet sich und wird neu geordnet – eine Überlegung

Die Funktionsbeschreibung und Kartografie des Körpers wurde auf einfache Weise mit dem Konzept des Flusses von prāṇa und dessen zentralen Bahnen – den drei nāḍī: suśumnā, iḍā und piṅgalā – verknüpft. Dabei wurde angenommen, dass sich die Kreuzungspunkte von iḍā und piṅgalā jeweils ungefähr in jenen zuvor beschriebenen wichtigen Körperbereichen befinden, denen besondere Funktionen im menschlichen System zugeschrieben wurden.

Mit diesen Kreuzungspunkten wurde eine besondere Bedeutung verbunden. Sie wurden als Orte gedacht, an denen sich Energie innerhalb der mittleren Bahn, der suśumnā, begegnet – ein Zusammentreffen, durch das Bewegung und Aktivität entstehen. Das Kreuzen der Bahnen wurde jedoch nicht im Sinne eines Verschmelzens verstanden. Vielmehr wurde davon ausgegangen, dass sich die nāḍī an bestimmten Punkten einander stark annähern und sich dort wechselseitig beeinflussen. An diesen Orten, an denen sich der Energiefluss des prāṇa auf besondere Weise begegnet, wurde eine Neuordnung angenommen.

Um diese Neuordnung zu ermöglichen, bedurfte es eines regulierenden Elements. Dieses wurde als eine dynamische Struktur vorgestellt und cakra genannt.

Der Begriff cakra bedeutet „Rad“ und bezeichnet etwas, das leicht und schnell in Bewegung versetzt werden kann. Dieses strukturierende Energiekonzept ist heute als das cakra-System bekannt, das vom Beckenboden bis zum höchsten Punkt des Kopfes reicht.

Darstellung der cakra und nāḍī, gezeichnet im 19. Jahrhundert im Norden Indiens in Bihar
Abb. 1

Eine beispielhafte Darstellung der cakra und nāḍī zeigt Abb. 1. Die Grafik stammt sehr wahrscheinlich aus einem manuskriptbasierten Yoga‑/Tantra‑Werk aus dem 19. Jahrhundert, speziell aus einer 1899 datierten Handschrift mit dem Titel Sapta Cakra. Sie gehört in die Tradition der Patna School of Painting (auch Patna Qalaam) aus Bihar – eine regionale Stilrichtung des 18.–19. Jh., die sakrale Körperdiagramme inklusive Cakren und Nadis in klaren Linien und ohne aufwendige Hintergründe darstellte.

Das Bild der cakra – eine Vision

Räumlich stellte man sich in man­chen Traditionen die cakra in einer horizontalen Ebene vor, andere sahen sie vertikal aufgerichtet und man verband sie mit bestimmten Eigenschaften. Der Ort zum Beispiel, in dem die Kraft für das Sitzen gesehen wurde, die Kraft für die Aufrichtung, der ganze Beckenraum, muss solide und stabil sein. Daher assoziierte man den Regulations­punkt der Energie dort mit der Qualität der Erde und nannte ihn das Erd- oder Wurzelchakra, mūlādhāra cakra. Ein anderer Ort dagegen, dort wo die meisten der Wahr­nehmungen stattfinden, ist der Kopf. So wurde das cakra dort, das ajña cakra, mit der Wahrnehmung verbunden, manchmal sogar auch mit unserem Geist, der ja ein Feld der Wahrnehmung ist, manchmal stellte man es sich auch wie ein drittes Auge vor.

Über die Zeit verbanden sich mit diesen Konzepten viele andere. Selbst Vorstellungen darüber, was mit einem Menschen im Augenblick des Todes geschieht, wurden mit dem System der cakra verknüpft. In Texten, wie dem des berühmten Yogi Yajñavalkya verband sich eine besondere Vor­stellung mit dem Konzept der nāḍī und cakra. Meine Vorfahren – wie auch heute noch viele Menschen in Indien –, glaubten fest daran, dass man im Moment des Todes auf das universale Bewusstsein trifft, eine Kraft, die sie brahmā nannten. Die Energie, die uns Menschen am Leben erhalten hat, prāṇa, taucht nach diesem Glauben dann in das universale Bewusstsein ein.

Dazu muss die Lebensenergie nicht irgendeinen, sondern einen bestimmten Weg aus dem Körper heraus nehmen, den Weg durch die suśumnā, die mittlere Energiebahn entlang der Wirbelsäule.

Nur wenn die Lebens­energie im Moment des Todes durch die suśumnā über den höchsten Punkt am Scheitel hinaus geht, öffnet sich der sterbende Mensch zum universalen, höchsten Bewusstsein hin. Der Punkt dieser Öffnung wird das cakra der »tausend (sahasra) Speichen« genannt. Dieses Bei­spiel soll verdeutlichen, wie vielfältig die Vorstellungen und Ideen sind, die sich mit den Konzepten der nāḍī und cakra verbunden haben.

Wie viele cakra gibt es, wie sehen sie aus?

Auch was die Anzahl der cakra angeht, finden wir die unterschiedlichsten Vor­stellungen. Am weitesten verbreitet ist die Vorstellung von sieben cakra, den höchsten Punkt des Kopfes eingeschlossen. Mein Vater T. Krishna­macharya wiederum hat in seinem Buch »Yogamakaranda« von zehn cakra gesprochen – nicht von sieben. Ansonsten gibt es jedoch noch andere, deutlich davon abweichende Vorstellun­gen bezüglich der Anzahl der cakra.

Darstellung unterschiedlicher Anzahl an cakra
Abb. 2

Die linke Seite in Abb. 2 zeigt eine Darstellung aus Tanjore, Südindien, entstanden im neunzehnten Jahrhundert, auf der sieben cakra dargestellt sind. Auf rechten Seite eine Darstellung im Kontext des Mahayanabuddhismus, die sechs cakra zeigt.

Die Anzahl der cakra ebenso wie ihre Namen fallen in den verschiedenen Traditionen des Yogas sehr unterschiedlich aus. Eine wichtige Schrift des Tantra stammt von dem schon oft im Zusammenhang mit der Haṭha Yoga Pradīpikā auch als Haṭhapradīpikā genannten Yogi Goraknāth – sie heißt siddha siddhānta paddhati. Über die Anzahl und die Bezeichnung der verschiedenen cakra in diesem Text schreibt der Gelehrte Akasa Kumar Folgendes: »Yogiguru Goraknāth erwähnt in siddha siddhānta paddhati neun cakra. Yoga-shāstras und Tantra-shāstras shāstras sind Lehrtexte sind in Bezug auf die Anzahl der cakra nicht dogmatisch. Im Allgemeinen werden sechs cakra aufgezählt; in einigen Fällen sind es sieben, acht oder neun. Dies zeigt wohl, dass der genauen Anzahl keine übertriebene Bedeutung beigemessen werden muss. Die Erfahrungen der Yogis können sich an solchen unbedeutenden Punkten unterscheiden. Während Yogi-Gurus (Yogalehrer) Unterweisungen an ihre Schüler geben und ihre Methoden der Kontemplation und Meditation anleiten, geschieht es häufig, dass sie bestimmte Stufen auslassen und die Bedeutung auf andere legen. Die ältere Yogaliteratur spricht allerdings häufig von neun cakra«.

Auch die Form, in der man die cakra visualisierte, wird in der Tradi­tion unterschiedlich beschrieben. Viele stellten sich die cakra als Kreise oder Räder vor, ruhend oder in Bewegung; an anderen Stellen finden wir sie beschrieben als Lotosblüten mit einer unterschiedlichen Anzahl von Blütenblättern. Im Vergleich mit dem Bild des Rades, welches mehr die Rotation, der Be­wegung meint, betont die Lotosblüte mehr den Aspekt der Schöpfung.

Auch in der spirituellen Tradition des mittelalterlichen Europa wurden wichtige Körperbereiche als Räder oder Kreise beschrieben. Abb. 3 zeigt eine solche bekannte Darstellung aus der Theosphia practica von Georg Gichtel (1638 – 1710).

Bekannte Darstellung aus der Theosphia practica von Georg Gichtel (1638 – 1710).
Abb. 3

Wenn man das alles nun wirklich ernst nimmt, dann zeigt sich gerade am Thema cakra ganz offensichtlich, dass Menschen, die meditieren, nicht immer die gleichen Erfah­rungen machen und keineswegs immer identische Visionen haben. Da gibt es nichts zu streiten oder zu disputieren, denn da geht es um die persönliche Erfahrung der einzelnen Seher. Aber es ist wichtig, sich dieser Unterschiede bewusst zu sein und sich Gedanken darüber zu machen, welche Konsequenzen das für den Umgang mit diesen Erfah­rungen und Konzepten hat.

Der Reinigungsprozess – ein dynamisches Modell

Wie verbindet sich nun das bisher über nāḍī und cakra Gesagte mit Yoga­praxis? Welchen Sinn ergibt Yoga­pra­xis überhaupt in diesem Zusam­men­hang? Die Antwort ist überall eindeutig und lautet folgender­maßen:

Weil der Fluss des prāṇa nicht immer frei ist, sondern durch Blockaden behindert wird, müssen wir den Körper mithilfe einer Praxis von diesen Blockierungen befreien.

In den alten Konzepten wurde auch den Blockierungen ein Ort im Kör­per zugewiesen, wo sie für die Reinigungspraxis erreichbar und damit lösbar wären. Gemeinhin wird in diesem Zusammenhang dann nur von »der Blockierung« gesprochen. Man stellte sie sich als am unteren Ende des mittleren nāḍī, der suśumna liegend vor. Wie kann sie erreicht werden, wie gelöst werden?

Die wichtigste Praxis für die Rei­nigung dieser Blockierung ist das Üben von Prāṇāyāma zusammen mit den bandha. Texte wie die Yoga­yajña­valkya beschreiben es so: Wenn jemand unter der Anleitung eines Lehrers in der richtigen Weise und intensiv Prāṇāyāma praktiziert, die Praxis von bandha eingeschlossen, bringt diese Praxis das prāṇa in Kontakt mit einem inneren »Feuer«, agni genannt. Agni beschreibt eine Kraft, die imstande ist, Schlacken, Blockaden, Unreinheiten im Körper zu beseitigen, gleichsam zu »verbrennen«. Unter Schlacke oder Unreinheit – die Texte benutzen den Begriff mala – wird alles verstanden, was den Körper unnötigerweise »beschwert«, also sein System in dessen freiem Fluss behindert und blockiert.

Wo und wann immer solche Blockie­rungen abgebaut werden, wird dies der Kraft dieses Feuers, des agni zugeschrieben. Bei Yajñavalkya heißt es nun, dass sich durch intensive Praxis von Prāṇāyāma dieses agni mit prāṇa verbindet und die Blockierung am unteren Ende der suśumna langsam verbrennt, also beseitigt. Yajña­valkya nennt diese Blockierung nicht mala, sondern kuṇḍalinī. Sie wird bei ihm verstanden als etwas, das den Zugang zu der zentralen Energiebahn, der suśumna versperrt. Was dann geschieht ist, dass das prāṇa in die mittlere Energiebahn eintritt und sich aufwärts bewegt. Soweit die genaueste Beschreibung dieser Vorstellung, die uns bekannt ist. Sie ist daneben auch die klarste und eindeutigste.

Die Haṭha Yoga Pradīpikā ist in Bezug auf dieses Konzept etwas unklar und widersprüchlich. Einmal wird wie bei Yajñavalkya beschrieben, dass das prāṇa in der suśumna aufsteigt, wenn die Blockie­rung beseitigt ist, ein andermal heißt es in dem gleichen Text, dass es kuṇḍalinī sei, die den Weg nach oben nimmt. Trotzdem sind sich beide Texte in vielem We­sent­lichen einig. So zum Beispiel darin, dass der Zugang zur suśumna an deren unterem Ende liegt und auch darin, dass genau dort etwas den Eingang zu diesem zentralen nāḍī versperrt. Auch taucht in keinem der Texte der Gedanke auf, dass die nach oben steigende Energie (wie immer sie nun genannt wird) in einem der cakra »feststecken« könnte. Je mehr und intensiver das Üben, desto höher steigt sie in der jeweiligen Praxis.

Yajñavalkya beschreibt das sehr klar: Prāṇa findet seinen Weg nur durch die suśumna, wenn diese Energie­bahn ganz frei ist. Der einzige Ort, an dem es eine Blockierung gibt, ist die Basis der suśumna. Wenn diese Blockierung überwunden ist, steigt die Energie nach oben. Und wenn während einer intensiven Prāṇāyāma-Praxis tatsächlich prāṇa durch die suśumna fließt, so wird es dies nicht mehr tun, wenn diese Praxis weniger regelmäßig, weniger intensiv wird.

Der Gedanke aber, dass die Lebens­energie »steckenbleibt« hat nichts mit den Kon­zepten des Yoga zu tun. Die Idee des Yoga diesbezüglich geht vielmehr dahin, dass die Energie, das prāṇa sich normalerweise zerstreut, eher ungeordnet fließt, aber eben nicht in der mittleren Energiebahn.

Schauen wir uns einmal die Vorstellungen genauer an, die die Haṭha Yoga Pradīpikā zur Idee der cakra formuliert. Die Haṭha Yoga Pradīpikā, ein Text, der tief in die Ein­zelheiten des Übens geht, ist – wie schon gesagt – in manchem widersprüchlich. In einem ist er aber sehr eindeutig und äußert dies an vielen Stellen: Wenn der Geist ruhig ist, wird prāṇa den »mittleren Weg« einschlagen, wenn prāṇa diesem Weg folgt, ist der Geist ruhig. Um dies zu erreichen, bedarf es der Praxis des Prāṇāyāma. Für die Haṭhapradīpikā geht also der Fluss des prāṇa, sein Aufstieg durch die suśumna und seine Bewegung im Bereich der cakra untrennbar einher mit dem, was in diesem Text rājayoga, also Stabilität des Geistes, genannt wird. Diese Tatsache wird oft viel zu wenig berücksichtigt.

Der Text sagt, dass wir die Bewegung des prāṇa in der suśumna als gleichbedeutend verstehen können mit einem Zustand, in dem der Geist größ­te Klarheit und Ruhe erreicht, also samādhi. Wenn eines geschieht, ist das andere geschehen.

Die Haṭhapradīpikā kann sich keine samādhi-Situation ohne den Fluss des prāṇa in der suśumna vorstellen. Das gilt auch in der Umkehrung: Die Tatsache, dass der Geist ausgeglichen ist, kann als ein Beweis für das Fließen des prāṇa in der suśumna gelten. Worüber die Haṭhapradīpikā nicht spricht, ist der von Yajñavalkya dargestellte Zusammen­hang zwischen dem endgültigen Aufsteigen des prāṇa bis in den Scheitel und dem Auflösen der individuellen Lebensenergie im Moment des Todes.

Cakra sind Konzentrationspunkte für den Geist

Es ist mir wichtig zu betonen – und die große Vielfalt an unterschiedlichen Ideen und Bildern bestätigt dies –, dass es sich bei allem bisher Beschriebenen um Vorstellungen handelt. Dies gilt selbstverständlich auch für das Konzept der cakra. Die Konzepte malen Bilder, deren Rolle darin besteht, dem Geist eine Vorgabe zu machen, auf die er sich ausrichten kann. Dieser Punkt ist entscheidend für die Diskussion über cakra und nāḍī. Solche Vorstellungen dienten und dienen als Objekt der Reflexion, der Meditation, der Konzentration für den Geist. Wir können sie mit dem Begriff bhāvana bezeichnen. Bhāvana bedeutet, dass ich mir einen Ort, ein Konzept, ein Bild, eine Vision schaffe und darauf meine Aufmerksamkeit richte.

Ein bhāvana ist nie davon abhängig, wie real der Inhalt meiner Ausrichtung ist. Ich kann mein bhāvana auf eine reale Wahrnehmung wie den Kontakt meiner Füße zum Boden richten. Ich kann in einem bhāvana aber auch mich als gesund vorstellen, obwohl ich in Wirklichkeit krank bin.

Wenn nun ein bhāvana allein aus meiner Vorstellungskraft heraus entsteht, heißt das keineswegs, dass dieses bhāvana keine Wirkung oder weniger zeigen würde, als wenn es sich auf etwas real Vorhandenes bezöge. Der Yoga kennt zahllose Techniken – und setzt sie oft und erfolgreich ein – in denen mit der Kraft der Vorstellung, der Imagination gearbeitet wird. Auch cakra sind solche bhāvanas, solche Konzentrations- und Meditationsvisionen.

Selbstverständlich werden wir beim Durchsuchen des Körpers die cakra nicht finden. Das wussten schon die alten Weisen und auch mein Vater wurde nie müde, es zu betonen. Die cakra waren eine Vision der Yogis, sie entsprachen ihrer individuellen Erfahrung. Aus diesem Grund finden sich verschiedene Beschreibungen von cakra. Wenn wir uns heute mit den cakra beschäftigen wollen, so müssen wir sie zunächst so annehmen und anerkennen. Deshalb bringt es nichts, sich darüber zu streiten – wie es zuweilen immer noch geschieht -, ob dieses oder jenes cakra zwei Zentimeter weiter oben oder weiter unten ist. Liegt es vertikal oder horizontal? Ist es blau oder grün? Wir sollten aufpassen, dass das Sprechen und Schreiben über die cakra nicht zu etwas Lächerlichem gerät.

Es geht vielmehr darum, klarzumachen, dass wir dabei nur bestimmten Vorstellungen folgen.

Wir sprechen über ein bhāvana der alten Yogis und weder über eine wissenschaftliche Realität noch eine von uns gemachte Erfahrung.

Diese bhāvana sind zu Beginn unseres Übens oft hilfreich, aber sie machen nur Sinn im Zusammenhang unserer eigenen Praxis. Ohne diese werden sie schnell Gegenstand aller möglichen Spekulationen, Ausschmückungen und Fantasien. Wir müssen selbst Erfahrungen sammeln. Vielleicht führt dies schließlich dazu, besser zu verstehen, was mit der als bhāvana gegebenen Vorstellung gemeint war.

Wie nützlich ist das Konzept der Cakra für die Praxis?

Wie weit die Vorstellung im Zusammenhang der Praxis von Āsana oder Prāṇāyāma sinnvoll sein könnte, bedarf einer gründlichen, klaren und leidenschaftslosen Reflexion. Einige Beispiele: Üben wir etwa die Vorbeuge aus dem Langsitz, paścimatānāsana richtig und im Zusammenhang mit einem geführten Atem, so können wir fühlen, dass die Bewegung der Vorbeuge im unteren Rücken beginnt und ihren Schwerpunkt im unteren Bereich des Rumpfes hat. Selbstverständlich können wir das so ausdrücken, dass dieses Āsana seinen Fokus auf dem untersten cakra, dem mūlādhāra cakra hat.

Haben wir im sarvāṇgāsana, dem Schulterstand, aufgrund der Dehnung und des Atmens vielleicht eine besondere Empfindung im Bereich des Halses, so können wir entsprechend sagen, dass das Āsana seinen Fokus im Bereich der Kehlgrube, des viśuddhi cakra hat. Damit ist der Ort beschrieben, wo das Āsana seinen Schwerpunkt hat, aber auch nicht mehr. Im Unterrichten kann man das natürlich auch in einen Hinweis für den oder die Übende umsetzen: Fühle hin zu deinem mūlādhāra, zu deinem manipūra cakra … Wenn ein solcher Vorschlag dazu beiträgt, dass es jemandem dabei besser geht oder er oder sie weiterkommt, sehe ich nichts Schlechtes darin. Führen wir beim Üben eines bestimmten Āsana ein bhāvana ein, deutlich und durchschaubar, so kann sich ein solcher Vorschlag auf die Qualität der Praxis positiv auswirken.

Meist ist es jedoch nicht so eine gute Idee, sich beim Üben von Āsana zu weit in eine Vorstellungswelt hineinzubegeben. Achtsamkeit für das, was man beim Üben gerade tut und empfindet, bewirkt wesentlich mehr.

Aber was bedeutet es schon, wenn jemand sagt: »Mein viśuddhi cakra ist in Ordnung« oder »mein ajña cakra ist erwacht …«? Im Kontext des oben Gesagten könnte das doch nur eines heißen: »Mein prāṇa fließt durch die suśumna«.

Nach der Beschreibung dieses Zustandes in allen alten Texten müsste solch ein Mensch also vor allem anderen über einen hochgradig gelassenen Geisteszustand verfügen. Einen Geisteszustand, in dem es wirklich keinerlei Ablenkung oder Verwirrung mehr gibt.

Woran wir erkennen könnten, ob das geschehen ist, wäre zum Beispiel, wie sich solch ein Mensch in der Welt bewegt, wie er mit anderen Lebewesen umgeht, wie viel Klarheit sein Handeln ausdrückt. Und daran, dass solch ein Mensch sich mit seiner Erfahrung sicher nicht brüsten würde.

Um was es wirklich geht

Die Theorie im Yoga ist sehr klar: Unser Atem und unser Geist sind eng miteinander verbunden – Prāṇa und unser Geist sind verbunden. Wenn der Geist gestört ist, ist der Atem gestört; wird der Atem reguliert, klärt sich der Geist. Durch das regulierte Atmen können wir das prāṇa in unserem System indirekt beeinflussen. Die so erreichte Reinigung der nāḍī macht es dem prāṇa möglich, tiefer und feiner zu fließen.

Eine der wichtigsten Unreinheiten des Geistes ist seine Unruhe, hervorgerufen durch Gier, Ärger, Angst – was immer es davon sein mag. Deshalb müssen sich Veränderungen in der Qualität des prāṇa in Veränderungen der Qualität unseres Geistes widerspiegeln.

Wenn unser Geist besondere feine Qualitäten hat, dann zeigt sich das darin, dass uns verschiedenste Möglichkeiten offenstehen.

Wir können etwa Dinge verstehen, die ein anderer Mensch nicht durchschauen kann. Wenn man diese Fähigkeiten »übernatürliche Kräfte« nennen möchte – okay. Jemand, der allerdings mit seinen »Kräften« hausieren geht, hat sich in eine schwierige Situation hinein manövriert. Dass er so laut über seine Erfahrung spricht, zeigt seine Fixiertheit darauf, wie bewegt sein Geist ist. Und wenn sein Geist bewegt und gestört ist, fließt sein prāṇa nicht ruhig. Und wenn das geschieht, kann man den Bezug von prāṇa und den cakra vollständig vergessen. Mit anderen Worten: ein solcher Mensch straft sich selbst Lügen.

Noch etwas anderes: Immer wieder machen Menschen, die Yoga praktizieren, unangenehme Erfahrungen in ihrer Āsana- oder Prāṇāyāma-Praxis. Bestimmte Körperempfindungen in einem besonderen Bereich des Körpers werden da erfahren, die sich kaum oder gar nicht kontrollieren lassen. Häufig werden solche Erfahrungen dann schöngeredet als Aufsteigen der kuṇḍalinī oder Ähnliches. Solche Situationen, oft genug sehr beunruhigend, können wir mit Sicherheit nicht mit dem Fluss von prāṇa in dem einen oder anderen cakra in Zusammenhang bringen. Denn wenn etwas unseren Geist derart drängt, ihn eng macht oder stört, dann muss die Ursache in etwas anderem liegen. Zu einer Erfahrung getrieben werden und leiden auf der einen Seite und der Fluss von prāṇa in der suśumna auf der anderen sind zwei Dinge, die nicht zusammen auftreten können.

Fehldeutungen

Das menschliche energetische System ist kompliziert. Und noch schwieriger ist es, unseren Geist zu verstehen, seine Struktur, seine Beschränkungen und Möglichkeiten, seine Beziehungen zum Körper und umgekehrt. Dagegen kann man einem anderen Menschen so einfach erklären, dass es sieben cakra gibt, dass sie so und so aussehen, da und da im Körper lokalisiert sind usw.

Dass damit aber noch nicht viel gesagt und noch weniger verstanden ist, zeigt sich daran, dass oft versucht wird, das Modell der cakra naturwissenschaftlich zu untermauern oder das naturwissenschaftliche Wissen zu »spiritualisieren«. Da wird etwa das mūlādhāra cakra gleichgesetzt mit den Nieren oder dem Solarplexus oder das viśuddhi cakra mit der Schilddrüse oder einem Nervengeflecht.

Wir sollten uns nichts vormachen: Mit dem Modell der nāḍī und cakra werden wir nie in der Lage sein, irgendwelche physiologischen Prozesse, die mit der Yogapraxis einhergehen, erklären zu können. Der Versuch, ein System wie das der cakra und das der naturwissenschaftlichen Physiologie miteinander zu vermischen, bringt nur mehr Verwirrung.

Tun wir es aber dennoch, so laufen wir Gefahr, uns lächerlich zu machen. Alle bisherigen Versuche, Verbindungen zwischen diesen verschiedenen Systemen herzustellen, sind von der naturwissenschaftlichen Seite her gesehen voller Oberflächlichkeiten und falscher Vereinfachungen. Gleichzeitig werden sie der wirklichen Bedeutung dieser alten Systeme überhaupt nicht gerecht und verstellen den Blick auf deren eigentliches Anliegen. Wir nehmen uns damit alle Möglichkeiten, aus diesen Konzepten das zu lernen, was dem Umgang mit ihnen auch heute noch einen Sinn und einen Wert geben kann.

Eine Orientierung: Das Yoga Sūtra

Yoga ist offen für alles, was den Menschen voranbringt, und er akzeptiert jedes Modell, solange dies nur geschieht. Beim Umgang mit verschiedenen Modellen des Yoga müssen wir uns also fragen, wie wir eine Orientierung finden können, die es ermöglicht, deren Ergebnisse zu reflektieren und zu entscheiden, ob sie hilfreich sind oder nicht. Ohne eine solche Orientierung tun wir heute dieses so und morgen jenes so, ohne uns je mit den daraus entstehenden Konsequenzen auseinandersetzen zu müssen.

Yoga wird in der indischen Tradition sāstra genannt. Sāstra ist etwas wie eine Wissenschaft: Ein sāstra hat nichts Beliebiges, sondern es ist in sich stimmig, durchschaubar, bei entsprechender Erklärung nachvollziehbar. Das Yoga Sūtra von Patañjali ist das maßgebliche Werk über Yoga und wenn von Yoga-sāstra die Rede ist, so ist diese Schrift gemeint.

Patañjalis Werk gibt die Orientierung, von der oben die Rede war. So wichtig und hilfreich andere Konzepte und Texte sind, der maßgebliche Prüfstein für Yoga ist Patañjalis Yoga Sūtra.

Betrachten wir zum Abschluss die häufig ausgesprochene Vorstellung, den cakra würden besondere Kräfte oder Bewusstseinsebenen innewohnen, im Lichte des Yoga Sūtra. Patañjalis Position zu dieser Vorstellung ist eine deutlich andere. Jede Fähigkeit, Kraft oder Erkenntnis, die ein Mensch entwickelt, wird im Yoga-sāstra Patañjalis ausschließlich in den Zusammenhang mit unserem Geist gebracht und in einen Zusammenhang mit etwas, was noch mächtiger ist als der Geist, dem Bewusstsein. Im Rahmen dieses Yoga-sāstra können wir Erkenntnisse, Gefühle oder Bewusstseinsebenen nicht einem Bereich des Körpers zuschreiben und sei er noch so subtil gefasst oder gemeint. Der Geist ist das, was gebündelt und gesammelt werden muss; mit einem solchen Geist können Wunder bewirkt werden, das ist alles. ▼

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