Yoga und OM – Ein Missverständnis

In vielen Yogakursen begegnet einem immer wieder ein ganz besonderer Brauch: das Tönen der Silbe OM. Ob Yoga-DVD oder YouTube-Streamer; auch sie beginnen oder enden häufig ganz selbstverständlich mit dem Gesang von »OM Nama Shivaia«, und manche Yogaschulen schmücken sich mit dem Emblem des OM.

Zum richtigen Yoga üben, so scheint es, gehört das OM einfach dazu. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, wenn in den Medien Sätze wie – andächtig saßen sie auf ihren Matten und tönten OM – zu finden sind. So oder so ähnlich beginnt dann mancher Erfahrungsbericht aus dem Yogaunterricht in der Presse. Aber der Schein trügt: OM ist nicht Yoga, Yoga ist nicht OM.

Yoga und OM – Ein Missverständnis

In vielen Yogakursen begegnet einem immer wieder ein ganz besonderer Brauch: das Tönen der Silbe OM. Ob Yoga-DVD oder YouTube-Streamer; auch sie beginnen oder enden häufig ganz selbstverständlich mit dem Gesang von »OM Nama Shivaia«, und manche Yogaschulen schmücken sich mit dem Emblem des OM.

Zum richtigen Yoga üben, so scheint es, gehört das OM einfach dazu. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, wenn in den Medien Sätze wie – andächtig saßen sie auf ihren Matten und tönten OM – zu finden sind. So oder so ähnlich beginnt dann mancher Erfahrungsbericht aus dem Yogaunterricht in der Presse. Aber der Schein trügt: OM ist nicht Yoga, Yoga ist nicht OM.

Yoga und OM – Ein Missverständnis

In vielen Yogakursen begegnet einem immer wieder ein ganz besonderer Brauch: das Tönen der Silbe OM. Ob Yoga-DVD oder YouTube-Streamer; auch sie beginnen oder enden häufig ganz selbstverständlich mit dem Gesang von »OM Nama Shivaia«, und manche Yogaschulen schmücken sich mit dem Emblem des OM.

Zum richtigen Yoga üben, so scheint es, gehört das OM einfach dazu. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, wenn in den Medien Sätze wie – andächtig saßen sie auf ihren Matten und tönten OM – zu finden sind. So oder so ähnlich beginnt dann mancher Erfahrungsbericht aus dem Yogaunterricht in der Presse. Aber der Schein trügt: OM ist nicht Yoga, Yoga ist nicht OM.

Religion ist Religion – Yoga ist Yoga

So wie Menschen Sonntags in die Kirche gehen oder in christlichen Klöstern Kontemplation betreiben, so besuchen gläubige Hindus in Indien ihre Tempel und beten zu ihren Göttern. Dabei gibt es kaum ein Ritual, kein Gebet, kein Lied, das nicht die Silbe OM benutzt. OM kann dabei für alles Mögliche stehen, allerdings auf einer festen Grundlage. Wenn in Indien OM rezitiert wird, ist dies unauflöslich verbunden mit einem ganz be­stimmten religiösen Zusammen­hang, dem des Hinduismus.

Was aber hat der Yoga mit OM zu tun?

Der Yoga ist ebenso wie der Hinduismus auf dem indischen Subkontinent entstanden. Aber dort ist auch der Buddhismus entstanden, die Religion der Jains, dort entstanden Weltanschauungen, die von einem radikalen Materialismus geprägt waren. Es gab dort einflussreiche Systeme, die wie der sāṃkhya alles das, was ein normaler Hindu unter Gott versteht, einfach ignorieren.

Tatsächlich entwickelten sich Yoga und Hinduismus sowohl zeitlich als auch inhaltlich auf eigenen Wegen. Das Zustandekommen unterschiedlichster und vielfältiger Berührungspunkte stand dazu nie im Widerspruch. In Indien ist man es gewohnt, Unterschiedlichkeiten zu ertragen und damit recht unbefangen umzugehen. Yoga als Wort und Konzept findet sich bekanntlich schon in sehr alten vedischen Texten, in denen über die Welt, das Individuum und Gott spekuliert wird. Dort wird Yoga meist in seiner ursprünglichsten Bedeutung benutzt, also im Sinne von Verbindung, Anbindung. Wie überall im Altertum suchten auch die indischen Denker der vedischen und insbesondere der Upaniṣaden-Zeit vor mehr als 2000 Jahren die Verbindung mit dem anderen: den Kräften der Natur, den Kräften oder der einen Kraft, die größer und stärker waren als der einzelne Mensch. Eine solche Verbindung ergab sich für sie nicht spontan, sondern verlangte nach einem gerichteten Bemühen, nach einer besonderen und ausdauernden Anstrengung. Und in diesem Zusammenhang ist immer wieder von Yoga die Rede.

Es war aber wohl erst Patañjali (von dem als Autor kaum mehr als sein Name bekannt ist), der im Yoga Sūtra den Yoga als ein umfassendes und in diesem Sinne neues Konzept darlegte.

Was danach geschah, bleibt bis heute überraschend und ausgesprochen bemerkenswert. Offensichtlich strahlte dieser Text mit seinen Definitionen und Erklärungen des Yoga rasch eine Überzeugungskraft aus, welche nicht nur die Zeitgenossen überzeugte. Yoga wurde jetzt als eine eigenständige Lehre angesehen, wurde zu einem sogenannten darśana (wörtlich, die Schau, die Lehre). Ein besonderer Blick auf den Menschen, seine Probleme und Möglichkeiten.

Seit dieser Zeit (vor etwa 2000 Jahren) ist Yoga in Indien nur noch selten ohne einen Bezug auf die Konzepte des Yoga Sūtra gedacht worden. Das bedeutete natürlich nicht immer völlige Übereinstimmung der unterschiedlichen Strömungen des Yoga mit Patañjali. Es gab auch Widerspruch, Ergänzungen, das Setzen besonderer oder neuer Schwerpunkte und natürlich auch Ablehnung. Es gab wohl auch Zeiten, in denen das Yoga Sūtra für viele Yogapraktizierende an Bedeutung verlor und Zeiten, in denen diese Bedeutung wieder anwuchs. Aber für die Frage, was denn Yoga eigentlich sei, wurde das Yoga Sūtra schließlich immer wieder die wichtigste Referenz.

In diesem Text findet sich nirgends auch nur der Hauch einer Vorstellung, dass das Rezitieren der Silbe OM beim Yogaüben dazugehört.

Eine solche Vorstellung findet sich auch nicht dort, wo eineinhalbtausend Jahre später eine weitere wichtige Entwicklungsrichtung des Yoga das Wort ergreift: Die Haṭha Yoga Pradīpikā (kurz Haṭhapradīpikā), diese bekannteste Darlegung des Haṭhayoga erwähnt OM mit keiner Silbe.

Wenn nicht dort, wo dann kann man fündig werden auf der Suche nach der Allgegenwärtigkeit der Silbe OM? Kurz gesagt, in vielen der Welten, die Indien und seine Kultur ausmachen, und zwei davon sind in diesem Zusammenhang von besonderer Bedeutung.

OM Welt 1 – die Rituale des Hinduismus

Die Silbe OM wird in der Welt und den Ritualen des Hinduismus vielfältig verwendet. Er ist in Indien nicht nur gelebte und praktizierte Religion, sondern auch die Alltag prägende Kultur. Diese Welt ist extrem vielschichtig, vielfältig und mit knappen Worten noch viel weniger zu erklären als die Kultur des Christentums.

Mit OM kann ein Hindu ausdrücken, was ihm heilig ist.

Mit OM beginnt fast jedes Gebet, mit OM endet es. Die zu einem Symbol abgekürzte geschriebene Form der Silbe OM ist das Erkennungszeichen hinduistischer Orte und Organisationen; jeder hinduistische Taxifahrer schmückt seinen Wagen damit, so wie man heute in manchen Autos ein Kruzifix hängen sieht. Anders als das in Sanskrit geschriebene OM, (Abb. 1) ist es in seiner im Yoga oft verwendeten Form nur noch Symbol für den Hinduismus (Abb. 2).

Schriftzeichen OM
Abb. 1

Und so wie ein Kruzifix am Autorückspiegel wenig mit der Bedeutung der Leiden Christi zu tun hat, verhält es sich in Indien mit dem OM. Es gehört einfach dazu, es drückt das Zugehörigkeitsgefühl aus, es ist Teil der kulturellen Identität eines jeden Hindu.

Es ist diese Welt, aus der OM seinen Weg in den Westen gefunden hat. Dies begann schon vor über hundert Jahren, als der berühmte Vivekananda die Amerikaner unter anderem mit Yoga bekannt machte. Er tat dies zusammen mit den Praktiken und Konzepten, Ritualen und der Kultur seines hinduistischen Glaubens. Ihm und anderen war die Notwendigkeit, auf die Getrenntheit der beiden Systeme hinzuweisen, weder bewusst noch wichtig. Und so wuchs und wächst immer wieder etwas zusammen, was nicht zusammengehört, OM und Yoga. Im Reisegepäck von Indientouristen, über hinduistische Yogalehrer und heute natürlich auch über die vielen Bücher und Blogs zum Thema Yoga, die dem Yoga gerne ein wenig folkloristisches Kolorit beimengen oder ihren Anspruch auf spirituelle Kompetenz durch den Gebrauch der Silbe OM untermauern möchten.

Abb. 2

In die westliche Kultur übertragen ließe sich das etwa vergleichen mit dem Kreuz einerseits und Christus am Kreuz andererseits. Während das Kreuz allein als Symbol noch vieles bedeuten kann, ist Christus am Kreuz unauflösbar mit christlichen Konzepten und christlicher Symbolik verbunden. In Indien assoziiert kein Mensch weder die Silbe OM noch viel weniger dieses Zeichen von OM mit Yoga. OM in dieser besonderen Form drückt vielmehr die Zugehörigkeit zur hinduistischen Glaubensgemeinschaft aus.

Ein indischer Muslim, der in Indien Yoga praktiziert, käme nie auf die Idee, dabei OM zu rezitieren. Er würde auch kein Zeichen für OM an den Ort heften, an dem er seine Yogapraxis ausübt. Warum? Weil er als Inder weiß und täglich erfährt, dass OM etwas mit der Praxis der hinduistischen Religion zu tun hat, ist er aber Muslim und eben nicht Hindu. Einem indischen Christen ginge es genauso. Dass Touristen in Indien bisweilen mithilfe von OM-Aufklebern oder einem safrangelben und mit OM-Zeichen übersäten Schal ihre Zugehörigkeit zu dieser ihnen eigentlich fremden Welt dokumentieren möchten, löst vorwiegend bei religiös geprägten Indern Erstaunen, wenn nicht Befremden aus: Hindu kann man nicht werden, auch wenn man es wollte. Als Hindu wird man geboren.

OM Welt 2 – die Upaniṣaden

Eine andere Welt des OM ist mit der Ersten vielfältig verbunden, aber keineswegs deckungsgleich. Es ist die Welt jener Erfahrungen, Spekulationen und Konzepte, die sich in ihrer tiefgründigsten Ausprägung in einigen der berühmtesten Upaniṣaden finden lassen. Dort erleben wir ein Ringen um die Bedeutung des OM. Dort ist OM Teil des Schöpfungsmythos des Universums (zuerst war der Klang), dort verbindet sich OM mit einem komplexen Weltbild, manchmal steht OM dort auch für die Beschreibung persönlicher Erfahrungen.

Am bekanntesten ist sicher die Māṇḍūkya-Upaniṣad, die einzig davon handelt, wie die Silbe OM richtig zu verstehen ist, was OM wirklich bedeutet.

Diese Welt des OM ist in Indien (anders als in buddhistisch geprägten Nachbarländern) bestimmt von den Konzepten des sogenannten vedānta, dessen Weltbild den Hinduismus wesentlich beeinflusst. Sie handeln von dem Einen ohne Zweites, von der Einheit von Ātma und Brahma, von der vielschichtigen Götterwelt Indiens, vom ewigen Rad der Wiedergeburt und den Möglichkeiten, einem neuerlichen Erdendasein zu entkommen. Das OM dieser Welt ist nicht ein oberflächliches Ritual oder Gemeinschaftssymbol, sondern eng verbunden mit bestimmten Inhalten, mit bestimmten philosophischen, spirituellen Konzepten. Aber auch und gerade hier lässt sich OM und Yoga kaum miteinander verbinden. Im Gegenteil: Die Vorstellungen des Yoga Sūtra kreisen weder um das All-Eine noch ist dem Yoga Sūtra die Einheit von Ātma und Brahma auch nur einer Erwähnung wert. Genauso wenig folgt Patañjalis Text der Spekulation einer Māṇḍūkya-Upaniṣad, welche die einzelnen Buchstaben, aus denen sich OM zusammensetzt (A, U, M und ein Moment von Stille) mit verschiedenen Zuständen des Bewusstseins verbindet. Patañjalis Beschreibung unseres Geistes, unseres Bewusstseins und deren Möglichkeiten ist eine vollkommen andere. Auch das OM dieser Welt ist nicht Yoga und Yoga ist eben nicht dieses OM.

Hinduismus und Yoga – eine komplizierte Beziehung

Was ihre Weltanschauung angeht, war das Verhältnis von Hinduismus und Yoga in diesen alten Zeiten, als darüber noch diskutiert (und manchmal auch gestritten) wurde, wohl eher problematisch. Vor allem vonseiten des Vedānta gab es ein Bedürfnis nach deutlicher Abgrenzung. Das kann man in einer seiner wichtigsten Schriften, dem Brahma Sūtra nachlesen.

Was dem Yoga das Yoga Sūtra ist, ist einem Anhänger des Vedānta das Brahma Sūtra.

Der Yoga ist abzulehnen, heißt es da in erstaunlicher Klarheit. Warum? Weil Yoga die Notwendigkeit und Selbstverständlichkeit des hinduistischen Gottesbegriffs nicht teilt. Das hat im praktischen Leben jedoch viele Hindus nicht davon abgehalten, die Methoden des Yoga dort zu benutzen, wo sie sich konzentrieren, sammeln oder heilen wollten und wollen. Dass sie in diesem Zusammenhang die Techniken des Yoga für ihre Zwecke verwenden und Yoga hinduistisch lesen und verstehen, ist ihnen nicht vorzuwerfen, im Gegenteil:

Genau das ist es, was der Yoga anbietet. Er möchte von Nutzen sein für jeden Menschen, jeden Glauben, jede Weltanschauung.

Aber der Umkehrschluss, Yoga ist die Praxis des Vedānta, des Hinduismus, ist nicht nur falsch, sondern raubt dem Yoga eines seiner wunderbarsten Geschenke an uns Menschen: seine Offenheit und Toleranz.

Diese Offenheit wird im Westen dort zu Grabe getragen, wo der Yoga mit hinduistischen (oder vedantischen) Glaubensbekenntnissen so verbunden wird, dass sie nicht mehr voneinander zu unterscheiden sind. Was natürlich nicht heißt, dass jemand im Westen nicht dem vedāntischen oder hinduistischen Glauben folgen könnte. Aber dadurch ist er dem Yoga nicht näher oder ferner als ein Christ, Buddhist oder Atheist.

Yoga ist nicht OM

In der westlichen Welt gab es neben der dominierenden christlichen Religion immer schon nicht-religiöses philosophisches Denken. Und auch in Indien kannte man bereits vor mehr als zweitausend Jahren philosophische Denksysteme, die den Bezug auf eine höhere Kraft, auf die Existenz eines Gottes nicht zur Basis der Erklärung der Welt machten. Gott stand dabei nicht im Zentrum ihres Erkenntnisweges.

Yoga, jedenfalls der Yoga des Yoga Sūtra, ist eines dieser Systeme. Patañjali besteht darauf, dass es sehr viele Möglichkeiten für den Inhalt des Yogawegs gibt. Er lässt sich darüber hinaus auch nicht darauf ein, den möglichen Erfahrungen auf diesem Weg ein Korsett zu schnüren. Stattdessen finden wir dort eine offene Weite, die das Yoga Sūtra so besonders macht.

In dieser Offenheit eignet sich Yoga also auch für jene Menschen, die sich durch Meditation mit einer göttlichen Kraft verbinden möchten. Ihnen schlägt das Yoga Sūtra vor, in einer solchen Meditation mit einem Wort zu arbeiten, das diese Kraft auch wirklich repräsentiert. Patañjali beschreibt ein solches Wort mit dem Begriff praṇava. Hindus interpretieren dieses praṇava immer als OM. Aus ihrer Sicht völlig zu Recht, denn die für eine Meditation gewählte Silbe muss die entsprechende Kraft, muss Gott wirklich repräsentieren können. Sollen Hindus bei Gott etwa an Worte wie Jehova oder Allah, an Schalom, Amen oder Jesus denken?

Warum jedoch viele im Westen entstandene Übersetzungen das Yoga Sūtra auf diese Weise hinduistisch lesen, bleibt ein Geheimnis. Denn es ist nun einmal so: In diesen Sūtren (Kapitel 1 - Sūtra 23 - 28) geht es eindeutig um die Frage: Wie kann ich Gott einen Namen geben, der seine Bedeutung widerspiegelt? Es geht nicht darum, eine Silbe zu tönen, die meine Zugehörigkeit zum Hinduismus ausdrückt. Ansonsten lässt Patañjali keinen Zweifel daran, dass sich hier nur diejenigen angesprochen fühlen sollen, die eine Verbindung zu Gott suchen. Es geht ihm um eine persönliche Beziehung zu Gott, und die ist nun einmal auch kulturell geprägt. Ein Jude müsste praṇava (das Wort kommt von praṇu – murmeln, summen) vielleicht als das Wort Jehova lesen, ein Christ vielleicht als das Wort Jesus oder Amen, ein Moslem als Allah, aber sicherlich nicht als OM.

Das Yoga des Yoga Sūtra setzt den Glauben an einen Gott nicht voraus und sieht darin auch nicht sein Ziel. Es braucht Gott oder etwas anderes Höheres weder für die Erklärung der Schwierigkeiten, denen wir Menschen in der Welt begegnen, noch für deren Bewältigung. Der Glaube an Gott schleicht sich im Yoga Sūtra auch nicht durch eine Hintertür namens »Allerletzte Wahrheit« ein. Das Yoga Sūtra lehnt den Gottesglauben allerdings auch nicht ab. Wer Gott sucht oder etwas Höherem näherkommen möchte, dem kann Yoga beste Dienste leisten, sei er Christ, Hindu, Muslim, Jude oder Anhänger eines anderen Glaubens.

Und wir?

Was wir im Westen mit dem OM im Yoga anfangen können, ist also mehr als unklar.

  • Wofür soll das OM stehen? Was soll damit ausgedrückt werden?
  • Welche Assoziationen werden damit geweckt?
  • Sind wir Hindus, oder wären wir gerne welche?
  • Macht das Rezitieren von OM einen Āsanakurs spiritueller?
  • Oder soll OM für die Einheit von Ātman und Brahman, für das Weltbild der Upaniṣaden, des Vedānta stehen?
  • Wollen wir mit OM den Göttern Indiens näher kommen oder indische Kultur vermitteln?
  • Ist es das, was Menschen in einem Yogaunterricht suchen oder wollen Sie gar ihren Glauben oder ihre Kultur wechseln?

Natürlich ist OM eine schöne und klangvolle Silbe, so wie manche andere auch. Wer sie tönen möchte, muss sich nicht gleich mit dem ganzen Wust von Bedeutungen und kulturellen Inhalten verbinden, die damit in Indien verknüpft sind. Aber OM so zu benutzen und zu vermitteln, als ob diese Silbe dem Yoga näher läge als ein MAM oder ein O oder ein U oder zu SUMMEN, als ein JESUS oder AMEN – das macht den Anfang des Missverständnisses aus, von dem hier die Rede ist.

Interview mit T.K.V. De­sikachar – das Verhältnis von Yoga zum Hinduismus und seinen Symbolen

In der ersten Ausgabe von Viveka aus dem Jahr 1994 erschien ein Gespräch mit T.K.V. Desikachar, in dem es um das Verhältnis von Yoga zum Hinduismus und seinen Symbolen, wie OM, geht. Da der Inhalt des Interviews größtenteils noch immer aktuell ist, wird es hier, leicht gekürzt, noch einmal angefügt.

Viveka

Sie sind als Hindu geboren und in einer Brahmanenfamilie aufgewachsen, die der hinduistischen Tradition sehr verbunden war. Sie haben Yoga von Ihrem Vater gelernt. Heute kommen neben Hindus Menschen verschiedenster Traditionen, Moslems, Christen, Juden, Atheisten zu Ihnen, und Sie unterrichten sie in Yoga. Für die Lehrer und Lehrerinnen, die am Krishnamacharya Yoga Mandiram unterrichten, gilt das Gleiche. Wie ist das möglich?

T.K.V. Desikachar

Zunächst erscheint mir eine erste Präzisierung wichtig: Wir sollten niemals den Fehler machen, die Philosophie des Hinduismus mit der des Yoga zu verwechseln. Die Tradition in Indien kennt sechs darśana, sechs philosophische Systeme, sechs Arten, sich die Welt zu erklären. Eines davon ist der Yoga, ein anderes der Vedānta, die Philosophie, die der hinduistischen Religion zugrunde liegt. Vedānta (veda-anta) heißt diese Weltanschauung deshalb, weil man darin den Höhepunkt und Endpunkt (anta) der Entwicklung der Veden gesehen hat. Diese Lehre, die im Kern auch die der großen Upaniṣaden ist, wurde in alter Zeit in der Form eines Sūtra, des sogenannten Brahma Sūtra übermittelt: Der Text besteht aus vier Abschnitten mit jeweils vier Teilen. Diese sechzehn Kapitel kann man in zwei Sätzen zusammenfassen:

  • Gott existiert und alles, was man erfährt, ist Gott.
  • Gott hat die Welt erschaffen, alles kommt von ihm.

In vielen großen Texten unserer Tradition wird schon ganz zu Anfang, in den ersten Versen, gesagt, worum es dieser besonderen Lehre geht. Das Yoga Sūtra zum Beispiel macht gleich klar: Es geht ihm um unseren Geist. Und das Brahma Sūtra beginnt mit dem Satz: Nun beginnt die Erforschung der Natur des Brahman. Ihm geht es ausschließlich darum, Brahman, Gott zu realisieren. Für das Brahma Sūtra kommt alles von Gott und alles kehrt zu Gott zurück. Der Mensch kommt von Gott und kehrt zu ihm zurück wie das Wasser, das in Form von Regen die Flüsse anschwellen lässt, die sich wiederum im Ozean auflösen. Für das Brahma Sūtra sind wir die Flüsse.

Sie fragen, wie es möglich ist, dass ich, dass wir hier Moslems, Juden, Christen unterrichten? Nun, ganz einfach: weil ich nicht Hinduismus unterrichte, sondern Yoga. Würde ich Hinduismus unterrichten, so käme sicher nicht ein einziger Hindu zu mir, denn ich bin kein qualifizierter Lehrer für Hinduismus. Gleichzeitig bäte auch sicher niemand wie Sie mich um Unterricht.

Interesse an Yoga sehe ich bei den verschiedensten Menschen. In unserem Institut haben wir moslemische Lehrer und wie sie wissen, unterrichten in Europa Katholiken und Juden den Yoga. Das ist alles nur möglich, weil Yoga nicht Hinduismus predigt. Den Yoga beschäftigt die Frage: Wie können wir aus unserem Geist das Beste machen? Und wer sich diese Frage zu eigen gemacht hat, kommt zum Yoga. Ob ich jetzt Hindu bin oder nicht – was soll ich dazu sagen? Ich bin in eine Familie von Hindus hineingeboren worden, mein Vater ist Hindu, ich lebe in Indien … ich denke, niemand kann definieren, ob ich Hindu bin oder nicht. Wenn manche meiner Verwandten sähen, wie ich lebe, würden sie sicher sagen, ich sei kein Hindu; wenn Sie mich hier zu Hause bei mir sehen, sagen Sie sicher: klar ist er ein Hindu.

Viveka

Können Sie uns etwas mehr über die Unterschiede dieser beiden Traditionen sagen?

T.K.V. Desikachar

Ich denke, es herrscht Unklarheit über das, was Hinduismus einerseits und die Veden andererseits sind. Die Sache ist eigentlich einfach: Die Veden sind ein sehr alter Text und als solche Quelle vieler Lehren geworden. Auf die Veden beziehen sich jene Lehren, Weltanschauungen, von denen ich schon sprach; die verschiedenen darśana. Eines dieser darśana ist etwa die Schule des Sāṃkhya. Sie spricht über alles, nur nicht über Gott. Trotzdem: Sāṃkhya basiert auf den Veden. Wir kennen weitere Schulen, zum Beispiel die der Logiker, Nyāya. Die Veden sind das Quellenbuch für die verschiedensten Richtungen, einschließlich des Vedānta, die Weltschau des Hinduismus.

Auf der philosophischen Ebene also ist der Hinduismus eine Schule der Veden, der Yoga eine andere, der Sāṃkhya eine dritte.

Das Yoga Sūtra erwähnt den Namen Īśvara, was das Gleiche meint wie Gott. Aber es erwähnt nicht das Wort Brahman. Für das Yoga Sūtra ist Īśvara der ursprüngliche, der erste Lehrer, wissend und jenseits aller Dimensionen von Zeit. Der Yogatext spricht allerdings von Īśvara in keiner Zeile und in keinem Zusammenhang als dem Schöpfer. Nebenbei gesagt interessiert sich Patañjali überhaupt nicht für die Frage der Schöpfung der Welt. Für das Yoga Sūtra ist Īśvara das Wissen schlechthin, der Lehrer, unabhängig von Zeit und Raum. Und das Yoga Sūtra sagt: Er ist da für diejenigen, die ihn wollen oder sich für ihn interessieren; die anderen können, wenn sie wollen, sehr wohl ohne ihn auskommen.

Ganz anders geht es jemandem mit dem Brahma Sūtra. Für die Lehre dieses Textes ist Brahman absolut notwendig, denn er selbst ist das Ziel! Er ist alles: Lehrer, Vater, Mutter … Er ist die materielle wie die bewusste Ursache der Welt.

Wie sollte ein Hindu eine solche für ihn so mangelhafte Vorstellung von Gott akzeptieren können, wie sie das Yoga Sūtra beschreibt? Das ist der Hintergrund, auf dem der Hinduismus die Vorstellung von Gott ablehnt, die im Yoga Sūtra gegeben wird. Nebenbei ist es nicht nur die Gottesvorstellung des Yoga, die das Brahma Sūtra ablehnt, sondern auch das, was der Sāṃkhya und andere darśana über Gott sagen.

Was aber ein wichtiger Punkt ist: Der Hinduismus lehnt nicht die Praxis des Yoga ab, im Gegenteil. Sie erwähnten einmal in einem Gespräch mit mir die Aussage in einer deutschen Zeitschrift, Yoga sei die praktische Seite des Hinduismus. Man kann leicht zu dieser Meinung kommen, denn auch für die Sucher des Brahman sind die Klarheit und Stabilität des Geistes wesentliche Voraussetzungen für diese Suche. Und so interessieren sich viele Hindus für den praktischen Yogaweg und wenden ihn selbst an. Vegetarier, die immer wieder in einem Restaurant essen gehen müssen, welches keine vegetarischen Gerichte anbietet, können sich das sicher vorstellen: Man isst eben die Suppe und das Gemüse und lässt das Fleisch beiseite. So ähnlich machen es die Hindus mit dem Yoga Sūtra. Sie bedienen sich der Techniken, die ihnen hilfreich sind, wenn sie auf Gott, Brahman, meditieren wollen und lehnen jene Teile ab, welche sich auf die yogische Sicht von Īśvara als den Lehrer und die Quelle allen Wissens beziehen.

Man muss allerdings noch hinzufügen, dass es selbst innerhalb des Hinduismus verschiedene Schulen gibt. Die Anhänger des Advaita Vedānta zum Beispiel lehnen die Vorstellung ab, dass die Welt, in der wir leben, real ist; sie gehen davon aus, dass alles nur ein Traum, eine Illusion ist. Der Standpunkt des Yoga ist in dieser Frage genau entgegengesetzt: Für den Yoga ist alles, was wir wahrnehmen und denken, real und wirklich (sat-vāda).

Ich bin Hindu, ich bete zu meinem Gott, aber ich verwechsele nicht meine religiöse Praxis mit meiner Yogapraxis.

Wie zuvor erwähnt, ist der Bezug auf die Veden vielen Schulen gemeinsam, auch wenn sie sich in grundsätzlichen Fragen voneinander unterscheiden. Neben dem Hinduismus beruft sich unter anderem sogar auch die indische Heilkunst, der Āyurveda, auf die Veden. Aber Āyurveda ist offenkundig nicht das Gleiche wie Hinduismus und ebenso wenig sind Yoga und Hinduismus ein und dasselbe. Unglücklicherweise ist es immer so, dass alle Leute, die im Ausland einen Inder hören, denken, er spreche über Hinduismus. Uns Indern unterstellt man, dass wir alle Hindus sind und alles, was wir von uns geben, Hinduismus sei. Und wenn wir über Yoga sprechen, dann wird das im Westen eben unter Hinduismus subsumiert und wir Inder machen uns zugegebenermaßen nicht die Mühe, das richtigzustellen. Ich versuche zumindest immer und immer wieder, diesen Unterschied deutlich zu machen durch die Art und Weise, wie und was ich spreche, wie ich mich kleide, mich im Ausland verhalte. Manche meiner Landsleute geben sich im Ausland hinduistischer, als sie es in Indien sind. Das führt natürlich zu falschen Vereinfachungen.

Wenn man es mit einem Yogalehrer zu tun hat, der zufällig Buddhist ist, so sollte man ebenso wenig den Buddhismus mit dem Yoga verwechseln; das sind zwei verschiedene Dinge, ebenso wie ein christlicher Yogalehrer uns nicht dazu verleiten sollte, zu denken, Christentum und Yoga seien dasselbe.

Viveka

Aber manche Leute haben die Befürchtung, irgendwo hingezogen zu werden, wenn sie einmal den ersten Schritt auf dem Yogaweg getan haben.

T.K.V. Desikachar

Durch Yoga geht man nur auf sich selbst zu, nirgendwo anders hin kann es gehen. Wohin kommt man durch Yoga? Man hat sich von sich selbst entfernt und Yoga bringt einen zurück zu sich selbst. Das ist alles!

Nur kennt man sich selbst am Anfang wenig und man ist oft überrascht, wenn man merkt: »Das bin ich?«. Wenn man Vorbedingungen stellen würde, wäre dieser Weg zu sich selbst nicht möglich.

Viveka

Sie haben über die wichtigsten Unterschiede zwischen Yoga und Hinduismus gesprochen. Nun würden wir gerne etwas über ihre Verbindung erfahren – welche sind die wichtigsten Punkte, die den Hinduismus mit dem Yoga verbinden?

T.K.V. Desikachar

Die einzige Verbindung besteht darin, dass der Hinduismus als Philosophie die Bedeutung der Meditation betont. Im Brahma Sūtra finden sich Sūtren, die über Meditation sprechen: Wie sollten wir meditieren, wie sollten wir dabei sitzen …

Nun, die Mittel dafür finden wir im Yoga. So spricht der Hinduismus dort, wo er die Techniken für die Meditation meint, die Haltung, die Vorbereitung, über Yoga, denn das Yoga Patañjalis bereitet unseren Geist auf die Meditation vor. Zusammengefasst ist es etwa so: Du hast ein Problem mit dem Kochgeschirr, es hat ein Loch. Du gehst zum Kesselschmied, der es dir in Ordnung bringt. Wenn du nun Hinduismus in deinem Topf kochen willst, so kannst du das tun, denn es ist nun ein guter Topf. Willst du Zen kochen, geht das ganz genauso und ebenso kannst du dein Christentum mithilfe dieses Kessels zubereiten. Aber du brauchst eben einen guten Topf, der das aushält. Das ist die Aufgabe des Yoga. Yoga bereitet den Geist vor, wie der Kessel fürs Kochen vorbereitet werden muss. Das ist es auch, was Hindus benötigen, einen guten Topf, einen klaren Geist. Ich nehme an, andere Religionen bedürfen auch der Meditation – das ist die Verbindung, nach der Sie fragten, und keine andere. Wenn man genau hinsieht, kann es auch gar keine andere sein.

Viveka

Ist zum Beispiel die Silbe OM, die auch im Yoga benutzt wird, nicht etwas, welches uns, unbewusst oder bewusst, in die hinduistische Tradition einbindet?

T.K.V. Desikachar

OM ist in dieser Hinsicht sicherlich sehr problematisch. Ich weiß nicht, wie es dazu kam, dass OM den Yoga infiltriert hat. Es ist ein weiterer Fehler, den wir Hindus gemacht haben. Weil wir Hindus sind, beginnen wir unsere Gebete und unsere Rezitationen immer mit Hari OM, d. h. wir nennen den Namen Gottes. Und weil wir es immer so tun, wird es ganz mechanisch für uns, es gehört sozusagen dazu. Für uns Hindus ist das OM etwas, was wir mit größtem Ernst und Respekt betrachten, denn es repräsentiert für uns Brahman, das Höchste, Gott, der alles ist, der die Welt erschaffen hat, indem er die Silbe OM sprach. Für uns gehört es nicht auf ein T-Shirt, und wir würden unseren Hund niemals so nennen, wie ich es einmal auf dem europäischen Yogakongress in Zinal beobachtet habe. Genau dort musste ich auch erleben, wie mich ein muslimischer Yogalehrer zu Recht konsterniert fragte, was das von Hindus verwendete Symbol von OM, das sich ja von der normalen Sanskrit-Schreibweise des Wortes unterscheidet, auf einem Yogakongress zu suchen hat. Ich bat Gerard Blitz damals, dieses Symbol aus dem Kongressprogramm zu streichen. Patañjali erwähnt in seinem Yoga Sūtra dieses Wort nicht, stattdessen spricht er über praṇava, etwas, das eine höhere Kraft benennt. Wer also an eine höhere Kraft glaubt, sollte diese Kraft mit dem besten, dem passendsten (pra) Begriff nennen und verehren. Für die Hindus ist zweifellos OM das beste Wort. Für jemanden anderen kann es genauso gut ein anderes Wort sein. Auch da hat Patañjali uns nicht festgelegt. Für einen Hindu sind Praṇava und OM dasselbe. Das hat zu der gleichen Verwirrung geführt, wie die oben genannte Verwechslung von Hinduismus mit Yoga, und hat für uns Yogalehrer einige unnötige Probleme geschaffen.

Viveka

Aber arbeiten Sie denn nicht auch mit Mantren, wenn Sie jemanden chanten, das Rezitieren vedischer Texte oder das Tönen bestimmter Silben, auch des OM lehren?

T.K.V. Desikachar

Nein, was wir lehren, sind keine Mantras. Denn die Bedeutung des Wortes Mantra ist folgende: etwas, das die höchste Kraft beschreibt. Es ist somit etwas, das uns mit dieser höheren Kraft direkt oder indirekt verbindet. Wenn ich Rezitation unterrichte, stelle ich sehr klar, dass es kein Mantra ist, was ich lehre. Manchmal lehre ich jemandem auch ein Mantra, aber das geschieht nicht in dem Kontext, von dem Sie gerade sprachen. Und mit dem OM für Nicht-Hindus bin ich, wie Sie wissen, äußerst vorsichtig. Wie mit jeder Technik sollten wir auch mit dem Rezitieren von Sanskrit sehr sorgfältig umgehen.

Viveka

Noch einmal zurück zu der Verbindung von Yoga und Hinduismus. Wir im Westen kommen manchmal mit der Vorstellung nach Indien, dort würde fast jeder Yoga praktizieren. Stimmt das eigentlich?

T.K.V. Desikachar

Ich kenne nicht viele Leute in Indien, die Yoga praktizieren. In dieser ganzen Straße zum Beispiel, wo es dreißig, vierzig Häuser hat, übt niemand außer meiner Familie Yoga. In dem gesamten Viertel mit ungefähr dreihundert Wohnhäusern gibt es vielleicht zehn Leute, die Yoga praktizieren. Zufälligerweise gehören fünf davon meinem Haushalt an und die anderen kommen her, um hier Yoga zu üben. In ganz Madras mit seinen nun etwa acht Millionen Einwohnern werden es also nicht mehr als fünfzigtausend Yoga Übende sein – und das ist eine sehr optimistische Schätzung.

Viveka

Wie kommt es denn, dass Yoga so wenigen Menschen bekannt ist, dass es etwas so Besonderes zu sein scheint?

T.K.V. Desikachar

Die Antwort ist einfach. Es hat damit zu tun, wie Yoga bei uns in Indien in der Vergangenheit präsentiert wurde: Ein Yogalehrer hat einen flexiblen Körper, er kann die akrobatischsten Yogahaltungen einnehmen, er kann die Luft anhalten … Das ist es, was mit dem Yoga geschehen ist, er wurde in einer sensationssuchenden Weise auf seine körperlichen Aspekte reduziert und das war es dann. Das hat ihn billig gemacht. Bis vor Kurzem noch war es unmöglich, einen Artikel über Yoga in einer guten Zeitung hier in Indien unterzubringen. Lesen Sie bitte diese kleine Yogabroschüre und schon können Sie Yogalehrer werden. Lernen Sie bei mir und Sie werden in Kürze Ihr Geld mit Yoga verdienen können. Viele Yogalehrer machen heutzutage solche oder ähnliche Versprechungen. Kein Wunder, dass viele Leute Yogalehrer für Quacksalber halten, das Ganze für Bluff befinden. Selbst ich wäre zu keinem Yogalehrer gegangen, hätte ich nicht meinen Vater als Lehrer getroffen. ▼

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Der Yoga ist ebenso wie der Hinduismus auf dem indischen Subkontinent entstanden. Aber dort ist auch der Buddhismus entstanden, die Religion der Jains, dort entstanden Weltanschauungen, die von einem radikalen Materialismus geprägt waren. Es gab dort einflussreiche Systeme, die wie der sāṃkhya alles das, was ein normaler Hindu unter Gott versteht, einfach ignorieren.

Tatsächlich entwickelten sich Yoga und Hinduismus sowohl zeitlich als auch inhaltlich auf eigenen Wegen. Das Zustandekommen unterschiedlichster und vielfältiger Berührungspunkte stand dazu nie im Widerspruch. In Indien ist man es gewohnt, Unterschiedlichkeiten zu ertragen und damit recht unbefangen umzugehen. Yoga als Wort und Konzept findet sich bekanntlich schon in sehr alten vedischen Texten, in denen über die Welt, das Individuum und Gott spekuliert wird. Dort wird Yoga meist in seiner ursprünglichsten Bedeutung benutzt, also im Sinne von Verbindung, Anbindung. Wie überall im Altertum suchten auch die indischen Denker der vedischen und insbesondere der Upaniṣaden-Zeit vor mehr als 2000 Jahren die Verbindung mit dem anderen: den Kräften der Natur, den Kräften oder der einen Kraft, die größer und stärker waren als der einzelne Mensch. Eine solche Verbindung ergab sich für sie nicht spontan, sondern verlangte nach einem gerichteten Bemühen, nach einer besonderen und ausdauernden Anstrengung. Und in diesem Zusammenhang ist immer wieder von Yoga die Rede.

Es war aber wohl erst Patañjali (von dem als Autor kaum mehr als sein Name bekannt ist), der im Yoga Sūtra den Yoga als ein umfassendes und in diesem Sinne neues Konzept darlegte.

Was danach geschah, bleibt bis heute überraschend und ausgesprochen bemerkenswert. Offensichtlich strahlte dieser Text mit seinen Definitionen und Erklärungen des Yoga rasch eine Überzeugungskraft aus, welche nicht nur die Zeitgenossen überzeugte. Yoga wurde jetzt als eine eigenständige Lehre angesehen, wurde zu einem sogenannten darśana (wörtlich, die Schau, die Lehre). Ein besonderer Blick auf den Menschen, seine Probleme und Möglichkeiten.

Seit dieser Zeit (vor etwa 2000 Jahren) ist Yoga in Indien nur noch selten ohne einen Bezug auf die Konzepte des Yoga Sūtra gedacht worden. Das bedeutete natürlich nicht immer völlige Übereinstimmung der unterschiedlichen Strömungen des Yoga mit Patañjali. Es gab auch Widerspruch, Ergänzungen, das Setzen besonderer oder neuer Schwerpunkte und natürlich auch Ablehnung. Es gab wohl auch Zeiten, in denen das Yoga Sūtra für viele Yogapraktizierende an Bedeutung verlor und Zeiten, in denen diese Bedeutung wieder anwuchs. Aber für die Frage, was denn Yoga eigentlich sei, wurde das Yoga Sūtra schließlich immer wieder die wichtigste Referenz.

In diesem Text findet sich nirgends auch nur der Hauch einer Vorstellung, dass das Rezitieren der Silbe OM beim Yogaüben dazugehört.

Eine solche Vorstellung findet sich auch nicht dort, wo eineinhalbtausend Jahre später eine weitere wichtige Entwicklungsrichtung des Yoga das Wort ergreift: Die Haṭha Yoga Pradīpikā (kurz Haṭhapradīpikā), diese bekannteste Darlegung des Haṭhayoga erwähnt OM mit keiner Silbe.

Wenn nicht dort, wo dann kann man fündig werden auf der Suche nach der Allgegenwärtigkeit der Silbe OM? Kurz gesagt, in vielen der Welten, die Indien und seine Kultur ausmachen, und zwei davon sind in diesem Zusammenhang von besonderer Bedeutung.

OM Welt 1 – die Rituale des Hinduismus

Die Silbe OM wird in der Welt und den Ritualen des Hinduismus vielfältig verwendet. Er ist in Indien nicht nur gelebte und praktizierte Religion, sondern auch die Alltag prägende Kultur. Diese Welt ist extrem vielschichtig, vielfältig und mit knappen Worten noch viel weniger zu erklären als die Kultur des Christentums.

Mit OM kann ein Hindu ausdrücken, was ihm heilig ist.

Mit OM beginnt fast jedes Gebet, mit OM endet es. Die zu einem Symbol abgekürzte geschriebene Form der Silbe OM ist das Erkennungszeichen hinduistischer Orte und Organisationen; jeder hinduistische Taxifahrer schmückt seinen Wagen damit, so wie man heute in manchen Autos ein Kruzifix hängen sieht. Anders als das in Sanskrit geschriebene OM, (Abb. 1) ist es in seiner im Yoga oft verwendeten Form nur noch Symbol für den Hinduismus (Abb. 2).

Schriftzeichen OM
Abb. 1

Und so wie ein Kruzifix am Autorückspiegel wenig mit der Bedeutung der Leiden Christi zu tun hat, verhält es sich in Indien mit dem OM. Es gehört einfach dazu, es drückt das Zugehörigkeitsgefühl aus, es ist Teil der kulturellen Identität eines jeden Hindu.

Es ist diese Welt, aus der OM seinen Weg in den Westen gefunden hat. Dies begann schon vor über hundert Jahren, als der berühmte Vivekananda die Amerikaner unter anderem mit Yoga bekannt machte. Er tat dies zusammen mit den Praktiken und Konzepten, Ritualen und der Kultur seines hinduistischen Glaubens. Ihm und anderen war die Notwendigkeit, auf die Getrenntheit der beiden Systeme hinzuweisen, weder bewusst noch wichtig. Und so wuchs und wächst immer wieder etwas zusammen, was nicht zusammengehört, OM und Yoga. Im Reisegepäck von Indientouristen, über hinduistische Yogalehrer und heute natürlich auch über die vielen Bücher und Blogs zum Thema Yoga, die dem Yoga gerne ein wenig folkloristisches Kolorit beimengen oder ihren Anspruch auf spirituelle Kompetenz durch den Gebrauch der Silbe OM untermauern möchten.

Abb. 2

In die westliche Kultur übertragen ließe sich das etwa vergleichen mit dem Kreuz einerseits und Christus am Kreuz andererseits. Während das Kreuz allein als Symbol noch vieles bedeuten kann, ist Christus am Kreuz unauflösbar mit christlichen Konzepten und christlicher Symbolik verbunden. In Indien assoziiert kein Mensch weder die Silbe OM noch viel weniger dieses Zeichen von OM mit Yoga. OM in dieser besonderen Form drückt vielmehr die Zugehörigkeit zur hinduistischen Glaubensgemeinschaft aus.

Ein indischer Muslim, der in Indien Yoga praktiziert, käme nie auf die Idee, dabei OM zu rezitieren. Er würde auch kein Zeichen für OM an den Ort heften, an dem er seine Yogapraxis ausübt. Warum? Weil er als Inder weiß und täglich erfährt, dass OM etwas mit der Praxis der hinduistischen Religion zu tun hat, ist er aber Muslim und eben nicht Hindu. Einem indischen Christen ginge es genauso. Dass Touristen in Indien bisweilen mithilfe von OM-Aufklebern oder einem safrangelben und mit OM-Zeichen übersäten Schal ihre Zugehörigkeit zu dieser ihnen eigentlich fremden Welt dokumentieren möchten, löst vorwiegend bei religiös geprägten Indern Erstaunen, wenn nicht Befremden aus: Hindu kann man nicht werden, auch wenn man es wollte. Als Hindu wird man geboren.

OM Welt 2 – die Upaniṣaden

Eine andere Welt des OM ist mit der Ersten vielfältig verbunden, aber keineswegs deckungsgleich. Es ist die Welt jener Erfahrungen, Spekulationen und Konzepte, die sich in ihrer tiefgründigsten Ausprägung in einigen der berühmtesten Upaniṣaden finden lassen. Dort erleben wir ein Ringen um die Bedeutung des OM. Dort ist OM Teil des Schöpfungsmythos des Universums (zuerst war der Klang), dort verbindet sich OM mit einem komplexen Weltbild, manchmal steht OM dort auch für die Beschreibung persönlicher Erfahrungen.

Am bekanntesten ist sicher die Māṇḍūkya-Upaniṣad, die einzig davon handelt, wie die Silbe OM richtig zu verstehen ist, was OM wirklich bedeutet.

Diese Welt des OM ist in Indien (anders als in buddhistisch geprägten Nachbarländern) bestimmt von den Konzepten des sogenannten vedānta, dessen Weltbild den Hinduismus wesentlich beeinflusst. Sie handeln von dem Einen ohne Zweites, von der Einheit von Ātma und Brahma, von der vielschichtigen Götterwelt Indiens, vom ewigen Rad der Wiedergeburt und den Möglichkeiten, einem neuerlichen Erdendasein zu entkommen. Das OM dieser Welt ist nicht ein oberflächliches Ritual oder Gemeinschaftssymbol, sondern eng verbunden mit bestimmten Inhalten, mit bestimmten philosophischen, spirituellen Konzepten. Aber auch und gerade hier lässt sich OM und Yoga kaum miteinander verbinden. Im Gegenteil: Die Vorstellungen des Yoga Sūtra kreisen weder um das All-Eine noch ist dem Yoga Sūtra die Einheit von Ātma und Brahma auch nur einer Erwähnung wert. Genauso wenig folgt Patañjalis Text der Spekulation einer Māṇḍūkya-Upaniṣad, welche die einzelnen Buchstaben, aus denen sich OM zusammensetzt (A, U, M und ein Moment von Stille) mit verschiedenen Zuständen des Bewusstseins verbindet. Patañjalis Beschreibung unseres Geistes, unseres Bewusstseins und deren Möglichkeiten ist eine vollkommen andere. Auch das OM dieser Welt ist nicht Yoga und Yoga ist eben nicht dieses OM.

Hinduismus und Yoga – eine komplizierte Beziehung

Was ihre Weltanschauung angeht, war das Verhältnis von Hinduismus und Yoga in diesen alten Zeiten, als darüber noch diskutiert (und manchmal auch gestritten) wurde, wohl eher problematisch. Vor allem vonseiten des Vedānta gab es ein Bedürfnis nach deutlicher Abgrenzung. Das kann man in einer seiner wichtigsten Schriften, dem Brahma Sūtra nachlesen.

Was dem Yoga das Yoga Sūtra ist, ist einem Anhänger des Vedānta das Brahma Sūtra.

Der Yoga ist abzulehnen, heißt es da in erstaunlicher Klarheit. Warum? Weil Yoga die Notwendigkeit und Selbstverständlichkeit des hinduistischen Gottesbegriffs nicht teilt. Das hat im praktischen Leben jedoch viele Hindus nicht davon abgehalten, die Methoden des Yoga dort zu benutzen, wo sie sich konzentrieren, sammeln oder heilen wollten und wollen. Dass sie in diesem Zusammenhang die Techniken des Yoga für ihre Zwecke verwenden und Yoga hinduistisch lesen und verstehen, ist ihnen nicht vorzuwerfen, im Gegenteil:

Genau das ist es, was der Yoga anbietet. Er möchte von Nutzen sein für jeden Menschen, jeden Glauben, jede Weltanschauung.

Aber der Umkehrschluss, Yoga ist die Praxis des Vedānta, des Hinduismus, ist nicht nur falsch, sondern raubt dem Yoga eines seiner wunderbarsten Geschenke an uns Menschen: seine Offenheit und Toleranz.

Diese Offenheit wird im Westen dort zu Grabe getragen, wo der Yoga mit hinduistischen (oder vedantischen) Glaubensbekenntnissen so verbunden wird, dass sie nicht mehr voneinander zu unterscheiden sind. Was natürlich nicht heißt, dass jemand im Westen nicht dem vedāntischen oder hinduistischen Glauben folgen könnte. Aber dadurch ist er dem Yoga nicht näher oder ferner als ein Christ, Buddhist oder Atheist.

Yoga ist nicht OM

In der westlichen Welt gab es neben der dominierenden christlichen Religion immer schon nicht-religiöses philosophisches Denken. Und auch in Indien kannte man bereits vor mehr als zweitausend Jahren philosophische Denksysteme, die den Bezug auf eine höhere Kraft, auf die Existenz eines Gottes nicht zur Basis der Erklärung der Welt machten. Gott stand dabei nicht im Zentrum ihres Erkenntnisweges.

Yoga, jedenfalls der Yoga des Yoga Sūtra, ist eines dieser Systeme. Patañjali besteht darauf, dass es sehr viele Möglichkeiten für den Inhalt des Yogawegs gibt. Er lässt sich darüber hinaus auch nicht darauf ein, den möglichen Erfahrungen auf diesem Weg ein Korsett zu schnüren. Stattdessen finden wir dort eine offene Weite, die das Yoga Sūtra so besonders macht.

In dieser Offenheit eignet sich Yoga also auch für jene Menschen, die sich durch Meditation mit einer göttlichen Kraft verbinden möchten. Ihnen schlägt das Yoga Sūtra vor, in einer solchen Meditation mit einem Wort zu arbeiten, das diese Kraft auch wirklich repräsentiert. Patañjali beschreibt ein solches Wort mit dem Begriff praṇava. Hindus interpretieren dieses praṇava immer als OM. Aus ihrer Sicht völlig zu Recht, denn die für eine Meditation gewählte Silbe muss die entsprechende Kraft, muss Gott wirklich repräsentieren können. Sollen Hindus bei Gott etwa an Worte wie Jehova oder Allah, an Schalom, Amen oder Jesus denken?

Warum jedoch viele im Westen entstandene Übersetzungen das Yoga Sūtra auf diese Weise hinduistisch lesen, bleibt ein Geheimnis. Denn es ist nun einmal so: In diesen Sūtren (Kapitel 1 - Sūtra 23 - 28) geht es eindeutig um die Frage: Wie kann ich Gott einen Namen geben, der seine Bedeutung widerspiegelt? Es geht nicht darum, eine Silbe zu tönen, die meine Zugehörigkeit zum Hinduismus ausdrückt. Ansonsten lässt Patañjali keinen Zweifel daran, dass sich hier nur diejenigen angesprochen fühlen sollen, die eine Verbindung zu Gott suchen. Es geht ihm um eine persönliche Beziehung zu Gott, und die ist nun einmal auch kulturell geprägt. Ein Jude müsste praṇava (das Wort kommt von praṇu – murmeln, summen) vielleicht als das Wort Jehova lesen, ein Christ vielleicht als das Wort Jesus oder Amen, ein Moslem als Allah, aber sicherlich nicht als OM.

Das Yoga des Yoga Sūtra setzt den Glauben an einen Gott nicht voraus und sieht darin auch nicht sein Ziel. Es braucht Gott oder etwas anderes Höheres weder für die Erklärung der Schwierigkeiten, denen wir Menschen in der Welt begegnen, noch für deren Bewältigung. Der Glaube an Gott schleicht sich im Yoga Sūtra auch nicht durch eine Hintertür namens »Allerletzte Wahrheit« ein. Das Yoga Sūtra lehnt den Gottesglauben allerdings auch nicht ab. Wer Gott sucht oder etwas Höherem näherkommen möchte, dem kann Yoga beste Dienste leisten, sei er Christ, Hindu, Muslim, Jude oder Anhänger eines anderen Glaubens.

Und wir?

Was wir im Westen mit dem OM im Yoga anfangen können, ist also mehr als unklar.

  • Wofür soll das OM stehen? Was soll damit ausgedrückt werden?
  • Welche Assoziationen werden damit geweckt?
  • Sind wir Hindus, oder wären wir gerne welche?
  • Macht das Rezitieren von OM einen Āsanakurs spiritueller?
  • Oder soll OM für die Einheit von Ātman und Brahman, für das Weltbild der Upaniṣaden, des Vedānta stehen?
  • Wollen wir mit OM den Göttern Indiens näher kommen oder indische Kultur vermitteln?
  • Ist es das, was Menschen in einem Yogaunterricht suchen oder wollen Sie gar ihren Glauben oder ihre Kultur wechseln?

Natürlich ist OM eine schöne und klangvolle Silbe, so wie manche andere auch. Wer sie tönen möchte, muss sich nicht gleich mit dem ganzen Wust von Bedeutungen und kulturellen Inhalten verbinden, die damit in Indien verknüpft sind. Aber OM so zu benutzen und zu vermitteln, als ob diese Silbe dem Yoga näher läge als ein MAM oder ein O oder ein U oder zu SUMMEN, als ein JESUS oder AMEN – das macht den Anfang des Missverständnisses aus, von dem hier die Rede ist.

Interview mit T.K.V. De­sikachar – das Verhältnis von Yoga zum Hinduismus und seinen Symbolen

In der ersten Ausgabe von Viveka aus dem Jahr 1994 erschien ein Gespräch mit T.K.V. Desikachar, in dem es um das Verhältnis von Yoga zum Hinduismus und seinen Symbolen, wie OM, geht. Da der Inhalt des Interviews größtenteils noch immer aktuell ist, wird es hier, leicht gekürzt, noch einmal angefügt.

Viveka

Sie sind als Hindu geboren und in einer Brahmanenfamilie aufgewachsen, die der hinduistischen Tradition sehr verbunden war. Sie haben Yoga von Ihrem Vater gelernt. Heute kommen neben Hindus Menschen verschiedenster Traditionen, Moslems, Christen, Juden, Atheisten zu Ihnen, und Sie unterrichten sie in Yoga. Für die Lehrer und Lehrerinnen, die am Krishnamacharya Yoga Mandiram unterrichten, gilt das Gleiche. Wie ist das möglich?

T.K.V. Desikachar

Zunächst erscheint mir eine erste Präzisierung wichtig: Wir sollten niemals den Fehler machen, die Philosophie des Hinduismus mit der des Yoga zu verwechseln. Die Tradition in Indien kennt sechs darśana, sechs philosophische Systeme, sechs Arten, sich die Welt zu erklären. Eines davon ist der Yoga, ein anderes der Vedānta, die Philosophie, die der hinduistischen Religion zugrunde liegt. Vedānta (veda-anta) heißt diese Weltanschauung deshalb, weil man darin den Höhepunkt und Endpunkt (anta) der Entwicklung der Veden gesehen hat. Diese Lehre, die im Kern auch die der großen Upaniṣaden ist, wurde in alter Zeit in der Form eines Sūtra, des sogenannten Brahma Sūtra übermittelt: Der Text besteht aus vier Abschnitten mit jeweils vier Teilen. Diese sechzehn Kapitel kann man in zwei Sätzen zusammenfassen:

  • Gott existiert und alles, was man erfährt, ist Gott.
  • Gott hat die Welt erschaffen, alles kommt von ihm.

In vielen großen Texten unserer Tradition wird schon ganz zu Anfang, in den ersten Versen, gesagt, worum es dieser besonderen Lehre geht. Das Yoga Sūtra zum Beispiel macht gleich klar: Es geht ihm um unseren Geist. Und das Brahma Sūtra beginnt mit dem Satz: Nun beginnt die Erforschung der Natur des Brahman. Ihm geht es ausschließlich darum, Brahman, Gott zu realisieren. Für das Brahma Sūtra kommt alles von Gott und alles kehrt zu Gott zurück. Der Mensch kommt von Gott und kehrt zu ihm zurück wie das Wasser, das in Form von Regen die Flüsse anschwellen lässt, die sich wiederum im Ozean auflösen. Für das Brahma Sūtra sind wir die Flüsse.

Sie fragen, wie es möglich ist, dass ich, dass wir hier Moslems, Juden, Christen unterrichten? Nun, ganz einfach: weil ich nicht Hinduismus unterrichte, sondern Yoga. Würde ich Hinduismus unterrichten, so käme sicher nicht ein einziger Hindu zu mir, denn ich bin kein qualifizierter Lehrer für Hinduismus. Gleichzeitig bäte auch sicher niemand wie Sie mich um Unterricht.

Interesse an Yoga sehe ich bei den verschiedensten Menschen. In unserem Institut haben wir moslemische Lehrer und wie sie wissen, unterrichten in Europa Katholiken und Juden den Yoga. Das ist alles nur möglich, weil Yoga nicht Hinduismus predigt. Den Yoga beschäftigt die Frage: Wie können wir aus unserem Geist das Beste machen? Und wer sich diese Frage zu eigen gemacht hat, kommt zum Yoga. Ob ich jetzt Hindu bin oder nicht – was soll ich dazu sagen? Ich bin in eine Familie von Hindus hineingeboren worden, mein Vater ist Hindu, ich lebe in Indien … ich denke, niemand kann definieren, ob ich Hindu bin oder nicht. Wenn manche meiner Verwandten sähen, wie ich lebe, würden sie sicher sagen, ich sei kein Hindu; wenn Sie mich hier zu Hause bei mir sehen, sagen Sie sicher: klar ist er ein Hindu.

Viveka

Können Sie uns etwas mehr über die Unterschiede dieser beiden Traditionen sagen?

T.K.V. Desikachar

Ich denke, es herrscht Unklarheit über das, was Hinduismus einerseits und die Veden andererseits sind. Die Sache ist eigentlich einfach: Die Veden sind ein sehr alter Text und als solche Quelle vieler Lehren geworden. Auf die Veden beziehen sich jene Lehren, Weltanschauungen, von denen ich schon sprach; die verschiedenen darśana. Eines dieser darśana ist etwa die Schule des Sāṃkhya. Sie spricht über alles, nur nicht über Gott. Trotzdem: Sāṃkhya basiert auf den Veden. Wir kennen weitere Schulen, zum Beispiel die der Logiker, Nyāya. Die Veden sind das Quellenbuch für die verschiedensten Richtungen, einschließlich des Vedānta, die Weltschau des Hinduismus.

Auf der philosophischen Ebene also ist der Hinduismus eine Schule der Veden, der Yoga eine andere, der Sāṃkhya eine dritte.

Das Yoga Sūtra erwähnt den Namen Īśvara, was das Gleiche meint wie Gott. Aber es erwähnt nicht das Wort Brahman. Für das Yoga Sūtra ist Īśvara der ursprüngliche, der erste Lehrer, wissend und jenseits aller Dimensionen von Zeit. Der Yogatext spricht allerdings von Īśvara in keiner Zeile und in keinem Zusammenhang als dem Schöpfer. Nebenbei gesagt interessiert sich Patañjali überhaupt nicht für die Frage der Schöpfung der Welt. Für das Yoga Sūtra ist Īśvara das Wissen schlechthin, der Lehrer, unabhängig von Zeit und Raum. Und das Yoga Sūtra sagt: Er ist da für diejenigen, die ihn wollen oder sich für ihn interessieren; die anderen können, wenn sie wollen, sehr wohl ohne ihn auskommen.

Ganz anders geht es jemandem mit dem Brahma Sūtra. Für die Lehre dieses Textes ist Brahman absolut notwendig, denn er selbst ist das Ziel! Er ist alles: Lehrer, Vater, Mutter … Er ist die materielle wie die bewusste Ursache der Welt.

Wie sollte ein Hindu eine solche für ihn so mangelhafte Vorstellung von Gott akzeptieren können, wie sie das Yoga Sūtra beschreibt? Das ist der Hintergrund, auf dem der Hinduismus die Vorstellung von Gott ablehnt, die im Yoga Sūtra gegeben wird. Nebenbei ist es nicht nur die Gottesvorstellung des Yoga, die das Brahma Sūtra ablehnt, sondern auch das, was der Sāṃkhya und andere darśana über Gott sagen.

Was aber ein wichtiger Punkt ist: Der Hinduismus lehnt nicht die Praxis des Yoga ab, im Gegenteil. Sie erwähnten einmal in einem Gespräch mit mir die Aussage in einer deutschen Zeitschrift, Yoga sei die praktische Seite des Hinduismus. Man kann leicht zu dieser Meinung kommen, denn auch für die Sucher des Brahman sind die Klarheit und Stabilität des Geistes wesentliche Voraussetzungen für diese Suche. Und so interessieren sich viele Hindus für den praktischen Yogaweg und wenden ihn selbst an. Vegetarier, die immer wieder in einem Restaurant essen gehen müssen, welches keine vegetarischen Gerichte anbietet, können sich das sicher vorstellen: Man isst eben die Suppe und das Gemüse und lässt das Fleisch beiseite. So ähnlich machen es die Hindus mit dem Yoga Sūtra. Sie bedienen sich der Techniken, die ihnen hilfreich sind, wenn sie auf Gott, Brahman, meditieren wollen und lehnen jene Teile ab, welche sich auf die yogische Sicht von Īśvara als den Lehrer und die Quelle allen Wissens beziehen.

Man muss allerdings noch hinzufügen, dass es selbst innerhalb des Hinduismus verschiedene Schulen gibt. Die Anhänger des Advaita Vedānta zum Beispiel lehnen die Vorstellung ab, dass die Welt, in der wir leben, real ist; sie gehen davon aus, dass alles nur ein Traum, eine Illusion ist. Der Standpunkt des Yoga ist in dieser Frage genau entgegengesetzt: Für den Yoga ist alles, was wir wahrnehmen und denken, real und wirklich (sat-vāda).

Ich bin Hindu, ich bete zu meinem Gott, aber ich verwechsele nicht meine religiöse Praxis mit meiner Yogapraxis.

Wie zuvor erwähnt, ist der Bezug auf die Veden vielen Schulen gemeinsam, auch wenn sie sich in grundsätzlichen Fragen voneinander unterscheiden. Neben dem Hinduismus beruft sich unter anderem sogar auch die indische Heilkunst, der Āyurveda, auf die Veden. Aber Āyurveda ist offenkundig nicht das Gleiche wie Hinduismus und ebenso wenig sind Yoga und Hinduismus ein und dasselbe. Unglücklicherweise ist es immer so, dass alle Leute, die im Ausland einen Inder hören, denken, er spreche über Hinduismus. Uns Indern unterstellt man, dass wir alle Hindus sind und alles, was wir von uns geben, Hinduismus sei. Und wenn wir über Yoga sprechen, dann wird das im Westen eben unter Hinduismus subsumiert und wir Inder machen uns zugegebenermaßen nicht die Mühe, das richtigzustellen. Ich versuche zumindest immer und immer wieder, diesen Unterschied deutlich zu machen durch die Art und Weise, wie und was ich spreche, wie ich mich kleide, mich im Ausland verhalte. Manche meiner Landsleute geben sich im Ausland hinduistischer, als sie es in Indien sind. Das führt natürlich zu falschen Vereinfachungen.

Wenn man es mit einem Yogalehrer zu tun hat, der zufällig Buddhist ist, so sollte man ebenso wenig den Buddhismus mit dem Yoga verwechseln; das sind zwei verschiedene Dinge, ebenso wie ein christlicher Yogalehrer uns nicht dazu verleiten sollte, zu denken, Christentum und Yoga seien dasselbe.

Viveka

Aber manche Leute haben die Befürchtung, irgendwo hingezogen zu werden, wenn sie einmal den ersten Schritt auf dem Yogaweg getan haben.

T.K.V. Desikachar

Durch Yoga geht man nur auf sich selbst zu, nirgendwo anders hin kann es gehen. Wohin kommt man durch Yoga? Man hat sich von sich selbst entfernt und Yoga bringt einen zurück zu sich selbst. Das ist alles!

Nur kennt man sich selbst am Anfang wenig und man ist oft überrascht, wenn man merkt: »Das bin ich?«. Wenn man Vorbedingungen stellen würde, wäre dieser Weg zu sich selbst nicht möglich.

Viveka

Sie haben über die wichtigsten Unterschiede zwischen Yoga und Hinduismus gesprochen. Nun würden wir gerne etwas über ihre Verbindung erfahren – welche sind die wichtigsten Punkte, die den Hinduismus mit dem Yoga verbinden?

T.K.V. Desikachar

Die einzige Verbindung besteht darin, dass der Hinduismus als Philosophie die Bedeutung der Meditation betont. Im Brahma Sūtra finden sich Sūtren, die über Meditation sprechen: Wie sollten wir meditieren, wie sollten wir dabei sitzen …

Nun, die Mittel dafür finden wir im Yoga. So spricht der Hinduismus dort, wo er die Techniken für die Meditation meint, die Haltung, die Vorbereitung, über Yoga, denn das Yoga Patañjalis bereitet unseren Geist auf die Meditation vor. Zusammengefasst ist es etwa so: Du hast ein Problem mit dem Kochgeschirr, es hat ein Loch. Du gehst zum Kesselschmied, der es dir in Ordnung bringt. Wenn du nun Hinduismus in deinem Topf kochen willst, so kannst du das tun, denn es ist nun ein guter Topf. Willst du Zen kochen, geht das ganz genauso und ebenso kannst du dein Christentum mithilfe dieses Kessels zubereiten. Aber du brauchst eben einen guten Topf, der das aushält. Das ist die Aufgabe des Yoga. Yoga bereitet den Geist vor, wie der Kessel fürs Kochen vorbereitet werden muss. Das ist es auch, was Hindus benötigen, einen guten Topf, einen klaren Geist. Ich nehme an, andere Religionen bedürfen auch der Meditation – das ist die Verbindung, nach der Sie fragten, und keine andere. Wenn man genau hinsieht, kann es auch gar keine andere sein.

Viveka

Ist zum Beispiel die Silbe OM, die auch im Yoga benutzt wird, nicht etwas, welches uns, unbewusst oder bewusst, in die hinduistische Tradition einbindet?

T.K.V. Desikachar

OM ist in dieser Hinsicht sicherlich sehr problematisch. Ich weiß nicht, wie es dazu kam, dass OM den Yoga infiltriert hat. Es ist ein weiterer Fehler, den wir Hindus gemacht haben. Weil wir Hindus sind, beginnen wir unsere Gebete und unsere Rezitationen immer mit Hari OM, d. h. wir nennen den Namen Gottes. Und weil wir es immer so tun, wird es ganz mechanisch für uns, es gehört sozusagen dazu. Für uns Hindus ist das OM etwas, was wir mit größtem Ernst und Respekt betrachten, denn es repräsentiert für uns Brahman, das Höchste, Gott, der alles ist, der die Welt erschaffen hat, indem er die Silbe OM sprach. Für uns gehört es nicht auf ein T-Shirt, und wir würden unseren Hund niemals so nennen, wie ich es einmal auf dem europäischen Yogakongress in Zinal beobachtet habe. Genau dort musste ich auch erleben, wie mich ein muslimischer Yogalehrer zu Recht konsterniert fragte, was das von Hindus verwendete Symbol von OM, das sich ja von der normalen Sanskrit-Schreibweise des Wortes unterscheidet, auf einem Yogakongress zu suchen hat. Ich bat Gerard Blitz damals, dieses Symbol aus dem Kongressprogramm zu streichen. Patañjali erwähnt in seinem Yoga Sūtra dieses Wort nicht, stattdessen spricht er über praṇava, etwas, das eine höhere Kraft benennt. Wer also an eine höhere Kraft glaubt, sollte diese Kraft mit dem besten, dem passendsten (pra) Begriff nennen und verehren. Für die Hindus ist zweifellos OM das beste Wort. Für jemanden anderen kann es genauso gut ein anderes Wort sein. Auch da hat Patañjali uns nicht festgelegt. Für einen Hindu sind Praṇava und OM dasselbe. Das hat zu der gleichen Verwirrung geführt, wie die oben genannte Verwechslung von Hinduismus mit Yoga, und hat für uns Yogalehrer einige unnötige Probleme geschaffen.

Viveka

Aber arbeiten Sie denn nicht auch mit Mantren, wenn Sie jemanden chanten, das Rezitieren vedischer Texte oder das Tönen bestimmter Silben, auch des OM lehren?

T.K.V. Desikachar

Nein, was wir lehren, sind keine Mantras. Denn die Bedeutung des Wortes Mantra ist folgende: etwas, das die höchste Kraft beschreibt. Es ist somit etwas, das uns mit dieser höheren Kraft direkt oder indirekt verbindet. Wenn ich Rezitation unterrichte, stelle ich sehr klar, dass es kein Mantra ist, was ich lehre. Manchmal lehre ich jemandem auch ein Mantra, aber das geschieht nicht in dem Kontext, von dem Sie gerade sprachen. Und mit dem OM für Nicht-Hindus bin ich, wie Sie wissen, äußerst vorsichtig. Wie mit jeder Technik sollten wir auch mit dem Rezitieren von Sanskrit sehr sorgfältig umgehen.

Viveka

Noch einmal zurück zu der Verbindung von Yoga und Hinduismus. Wir im Westen kommen manchmal mit der Vorstellung nach Indien, dort würde fast jeder Yoga praktizieren. Stimmt das eigentlich?

T.K.V. Desikachar

Ich kenne nicht viele Leute in Indien, die Yoga praktizieren. In dieser ganzen Straße zum Beispiel, wo es dreißig, vierzig Häuser hat, übt niemand außer meiner Familie Yoga. In dem gesamten Viertel mit ungefähr dreihundert Wohnhäusern gibt es vielleicht zehn Leute, die Yoga praktizieren. Zufälligerweise gehören fünf davon meinem Haushalt an und die anderen kommen her, um hier Yoga zu üben. In ganz Madras mit seinen nun etwa acht Millionen Einwohnern werden es also nicht mehr als fünfzigtausend Yoga Übende sein – und das ist eine sehr optimistische Schätzung.

Viveka

Wie kommt es denn, dass Yoga so wenigen Menschen bekannt ist, dass es etwas so Besonderes zu sein scheint?

T.K.V. Desikachar

Die Antwort ist einfach. Es hat damit zu tun, wie Yoga bei uns in Indien in der Vergangenheit präsentiert wurde: Ein Yogalehrer hat einen flexiblen Körper, er kann die akrobatischsten Yogahaltungen einnehmen, er kann die Luft anhalten … Das ist es, was mit dem Yoga geschehen ist, er wurde in einer sensationssuchenden Weise auf seine körperlichen Aspekte reduziert und das war es dann. Das hat ihn billig gemacht. Bis vor Kurzem noch war es unmöglich, einen Artikel über Yoga in einer guten Zeitung hier in Indien unterzubringen. Lesen Sie bitte diese kleine Yogabroschüre und schon können Sie Yogalehrer werden. Lernen Sie bei mir und Sie werden in Kürze Ihr Geld mit Yoga verdienen können. Viele Yogalehrer machen heutzutage solche oder ähnliche Versprechungen. Kein Wunder, dass viele Leute Yogalehrer für Quacksalber halten, das Ganze für Bluff befinden. Selbst ich wäre zu keinem Yogalehrer gegangen, hätte ich nicht meinen Vater als Lehrer getroffen. ▼

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