Interview mit T.K.V. Desikachar – das Verhältnis von Yoga zum Hinduismus und seinen Symbolen
In der ersten Ausgabe von Viveka aus dem Jahr 1994 erschien ein Gespräch mit T.K.V. Desikachar, in dem es um das Verhältnis von Yoga zum Hinduismus und seinen Symbolen, wie OM, geht. Da der Inhalt des Interviews größtenteils noch immer aktuell ist, wird es hier, leicht gekürzt, noch einmal angefügt.
Viveka
Sie sind als Hindu geboren und in einer Brahmanenfamilie aufgewachsen, die der hinduistischen Tradition sehr verbunden war. Sie haben Yoga von Ihrem Vater gelernt. Heute kommen neben Hindus Menschen verschiedenster Traditionen, Moslems, Christen, Juden, Atheisten zu Ihnen, und Sie unterrichten sie in Yoga. Für die Lehrer und Lehrerinnen, die am Krishnamacharya Yoga Mandiram unterrichten, gilt das Gleiche. Wie ist das möglich?
T.K.V. Desikachar
Zunächst erscheint mir eine erste Präzisierung wichtig: Wir sollten niemals den Fehler machen, die Philosophie des Hinduismus mit der des Yoga zu verwechseln. Die Tradition in Indien kennt sechs darśana, sechs philosophische Systeme, sechs Arten, sich die Welt zu erklären. Eines davon ist der Yoga, ein anderes der Vedānta, die Philosophie, die der hinduistischen Religion zugrunde liegt. Vedānta (veda-anta) heißt diese Weltanschauung deshalb, weil man darin den Höhepunkt und Endpunkt (anta) der Entwicklung der Veden gesehen hat. Diese Lehre, die im Kern auch die der großen Upaniṣaden ist, wurde in alter Zeit in der Form eines Sūtra, des sogenannten Brahma Sūtra übermittelt: Der Text besteht aus vier Abschnitten mit jeweils vier Teilen. Diese sechzehn Kapitel kann man in zwei Sätzen zusammenfassen:
- Gott existiert und alles, was man erfährt, ist Gott.
- Gott hat die Welt erschaffen, alles kommt von ihm.
In vielen großen Texten unserer Tradition wird schon ganz zu Anfang, in den ersten Versen, gesagt, worum es dieser besonderen Lehre geht. Das Yoga Sūtra zum Beispiel macht gleich klar: Es geht ihm um unseren Geist. Und das Brahma Sūtra beginnt mit dem Satz: Nun beginnt die Erforschung der Natur des Brahman. Ihm geht es ausschließlich darum, Brahman, Gott zu realisieren. Für das Brahma Sūtra kommt alles von Gott und alles kehrt zu Gott zurück. Der Mensch kommt von Gott und kehrt zu ihm zurück wie das Wasser, das in Form von Regen die Flüsse anschwellen lässt, die sich wiederum im Ozean auflösen. Für das Brahma Sūtra sind wir die Flüsse.
Sie fragen, wie es möglich ist, dass ich, dass wir hier Moslems, Juden, Christen unterrichten? Nun, ganz einfach: weil ich nicht Hinduismus unterrichte, sondern Yoga. Würde ich Hinduismus unterrichten, so käme sicher nicht ein einziger Hindu zu mir, denn ich bin kein qualifizierter Lehrer für Hinduismus. Gleichzeitig bäte auch sicher niemand wie Sie mich um Unterricht.
Interesse an Yoga sehe ich bei den verschiedensten Menschen. In unserem Institut haben wir moslemische Lehrer und wie sie wissen, unterrichten in Europa Katholiken und Juden den Yoga. Das ist alles nur möglich, weil Yoga nicht Hinduismus predigt. Den Yoga beschäftigt die Frage: Wie können wir aus unserem Geist das Beste machen? Und wer sich diese Frage zu eigen gemacht hat, kommt zum Yoga. Ob ich jetzt Hindu bin oder nicht – was soll ich dazu sagen? Ich bin in eine Familie von Hindus hineingeboren worden, mein Vater ist Hindu, ich lebe in Indien … ich denke, niemand kann definieren, ob ich Hindu bin oder nicht. Wenn manche meiner Verwandten sähen, wie ich lebe, würden sie sicher sagen, ich sei kein Hindu; wenn Sie mich hier zu Hause bei mir sehen, sagen Sie sicher: klar ist er ein Hindu.
Viveka
Können Sie uns etwas mehr über die Unterschiede dieser beiden Traditionen sagen?
T.K.V. Desikachar
Ich denke, es herrscht Unklarheit über das, was Hinduismus einerseits und die Veden andererseits sind. Die Sache ist eigentlich einfach: Die Veden sind ein sehr alter Text und als solche Quelle vieler Lehren geworden. Auf die Veden beziehen sich jene Lehren, Weltanschauungen, von denen ich schon sprach; die verschiedenen darśana. Eines dieser darśana ist etwa die Schule des Sāṃkhya. Sie spricht über alles, nur nicht über Gott. Trotzdem: Sāṃkhya basiert auf den Veden. Wir kennen weitere Schulen, zum Beispiel die der Logiker, Nyāya. Die Veden sind das Quellenbuch für die verschiedensten Richtungen, einschließlich des Vedānta, die Weltschau des Hinduismus.
Auf der philosophischen Ebene also ist der Hinduismus eine Schule der Veden, der Yoga eine andere, der Sāṃkhya eine dritte.
Das Yoga Sūtra erwähnt den Namen Īśvara, was das Gleiche meint wie Gott. Aber es erwähnt nicht das Wort Brahman. Für das Yoga Sūtra ist Īśvara der ursprüngliche, der erste Lehrer, wissend und jenseits aller Dimensionen von Zeit. Der Yogatext spricht allerdings von Īśvara in keiner Zeile und in keinem Zusammenhang als dem Schöpfer. Nebenbei gesagt interessiert sich Patañjali überhaupt nicht für die Frage der Schöpfung der Welt. Für das Yoga Sūtra ist Īśvara das Wissen schlechthin, der Lehrer, unabhängig von Zeit und Raum. Und das Yoga Sūtra sagt: Er ist da für diejenigen, die ihn wollen oder sich für ihn interessieren; die anderen können, wenn sie wollen, sehr wohl ohne ihn auskommen.
Ganz anders geht es jemandem mit dem Brahma Sūtra. Für die Lehre dieses Textes ist Brahman absolut notwendig, denn er selbst ist das Ziel! Er ist alles: Lehrer, Vater, Mutter … Er ist die materielle wie die bewusste Ursache der Welt.
Wie sollte ein Hindu eine solche für ihn so mangelhafte Vorstellung von Gott akzeptieren können, wie sie das Yoga Sūtra beschreibt? Das ist der Hintergrund, auf dem der Hinduismus die Vorstellung von Gott ablehnt, die im Yoga Sūtra gegeben wird. Nebenbei ist es nicht nur die Gottesvorstellung des Yoga, die das Brahma Sūtra ablehnt, sondern auch das, was der Sāṃkhya und andere darśana über Gott sagen.
Was aber ein wichtiger Punkt ist: Der Hinduismus lehnt nicht die Praxis des Yoga ab, im Gegenteil. Sie erwähnten einmal in einem Gespräch mit mir die Aussage in einer deutschen Zeitschrift, Yoga sei die praktische Seite des Hinduismus. Man kann leicht zu dieser Meinung kommen, denn auch für die Sucher des Brahman sind die Klarheit und Stabilität des Geistes wesentliche Voraussetzungen für diese Suche. Und so interessieren sich viele Hindus für den praktischen Yogaweg und wenden ihn selbst an. Vegetarier, die immer wieder in einem Restaurant essen gehen müssen, welches keine vegetarischen Gerichte anbietet, können sich das sicher vorstellen: Man isst eben die Suppe und das Gemüse und lässt das Fleisch beiseite. So ähnlich machen es die Hindus mit dem Yoga Sūtra. Sie bedienen sich der Techniken, die ihnen hilfreich sind, wenn sie auf Gott, Brahman, meditieren wollen und lehnen jene Teile ab, welche sich auf die yogische Sicht von Īśvara als den Lehrer und die Quelle allen Wissens beziehen.
Man muss allerdings noch hinzufügen, dass es selbst innerhalb des Hinduismus verschiedene Schulen gibt. Die Anhänger des Advaita Vedānta zum Beispiel lehnen die Vorstellung ab, dass die Welt, in der wir leben, real ist; sie gehen davon aus, dass alles nur ein Traum, eine Illusion ist. Der Standpunkt des Yoga ist in dieser Frage genau entgegengesetzt: Für den Yoga ist alles, was wir wahrnehmen und denken, real und wirklich (sat-vāda).
Ich bin Hindu, ich bete zu meinem Gott, aber ich verwechsele nicht meine religiöse Praxis mit meiner Yogapraxis.
Wie zuvor erwähnt, ist der Bezug auf die Veden vielen Schulen gemeinsam, auch wenn sie sich in grundsätzlichen Fragen voneinander unterscheiden. Neben dem Hinduismus beruft sich unter anderem sogar auch die indische Heilkunst, der Āyurveda, auf die Veden. Aber Āyurveda ist offenkundig nicht das Gleiche wie Hinduismus und ebenso wenig sind Yoga und Hinduismus ein und dasselbe. Unglücklicherweise ist es immer so, dass alle Leute, die im Ausland einen Inder hören, denken, er spreche über Hinduismus. Uns Indern unterstellt man, dass wir alle Hindus sind und alles, was wir von uns geben, Hinduismus sei. Und wenn wir über Yoga sprechen, dann wird das im Westen eben unter Hinduismus subsumiert und wir Inder machen uns zugegebenermaßen nicht die Mühe, das richtigzustellen. Ich versuche zumindest immer und immer wieder, diesen Unterschied deutlich zu machen durch die Art und Weise, wie und was ich spreche, wie ich mich kleide, mich im Ausland verhalte. Manche meiner Landsleute geben sich im Ausland hinduistischer, als sie es in Indien sind. Das führt natürlich zu falschen Vereinfachungen.
Wenn man es mit einem Yogalehrer zu tun hat, der zufällig Buddhist ist, so sollte man ebenso wenig den Buddhismus mit dem Yoga verwechseln; das sind zwei verschiedene Dinge, ebenso wie ein christlicher Yogalehrer uns nicht dazu verleiten sollte, zu denken, Christentum und Yoga seien dasselbe.
Viveka
Aber manche Leute haben die Befürchtung, irgendwo hingezogen zu werden, wenn sie einmal den ersten Schritt auf dem Yogaweg getan haben.
T.K.V. Desikachar
Durch Yoga geht man nur auf sich selbst zu, nirgendwo anders hin kann es gehen. Wohin kommt man durch Yoga? Man hat sich von sich selbst entfernt und Yoga bringt einen zurück zu sich selbst. Das ist alles!
Nur kennt man sich selbst am Anfang wenig und man ist oft überrascht, wenn man merkt: »Das bin ich?«. Wenn man Vorbedingungen stellen würde, wäre dieser Weg zu sich selbst nicht möglich.
Viveka
Sie haben über die wichtigsten Unterschiede zwischen Yoga und Hinduismus gesprochen. Nun würden wir gerne etwas über ihre Verbindung erfahren – welche sind die wichtigsten Punkte, die den Hinduismus mit dem Yoga verbinden?
T.K.V. Desikachar
Die einzige Verbindung besteht darin, dass der Hinduismus als Philosophie die Bedeutung der Meditation betont. Im Brahma Sūtra finden sich Sūtren, die über Meditation sprechen: Wie sollten wir meditieren, wie sollten wir dabei sitzen …
Nun, die Mittel dafür finden wir im Yoga. So spricht der Hinduismus dort, wo er die Techniken für die Meditation meint, die Haltung, die Vorbereitung, über Yoga, denn das Yoga Patañjalis bereitet unseren Geist auf die Meditation vor. Zusammengefasst ist es etwa so: Du hast ein Problem mit dem Kochgeschirr, es hat ein Loch. Du gehst zum Kesselschmied, der es dir in Ordnung bringt. Wenn du nun Hinduismus in deinem Topf kochen willst, so kannst du das tun, denn es ist nun ein guter Topf. Willst du Zen kochen, geht das ganz genauso und ebenso kannst du dein Christentum mithilfe dieses Kessels zubereiten. Aber du brauchst eben einen guten Topf, der das aushält. Das ist die Aufgabe des Yoga. Yoga bereitet den Geist vor, wie der Kessel fürs Kochen vorbereitet werden muss. Das ist es auch, was Hindus benötigen, einen guten Topf, einen klaren Geist. Ich nehme an, andere Religionen bedürfen auch der Meditation – das ist die Verbindung, nach der Sie fragten, und keine andere. Wenn man genau hinsieht, kann es auch gar keine andere sein.
Viveka
Ist zum Beispiel die Silbe OM, die auch im Yoga benutzt wird, nicht etwas, welches uns, unbewusst oder bewusst, in die hinduistische Tradition einbindet?
T.K.V. Desikachar
OM ist in dieser Hinsicht sicherlich sehr problematisch. Ich weiß nicht, wie es dazu kam, dass OM den Yoga infiltriert hat. Es ist ein weiterer Fehler, den wir Hindus gemacht haben. Weil wir Hindus sind, beginnen wir unsere Gebete und unsere Rezitationen immer mit Hari OM, d. h. wir nennen den Namen Gottes. Und weil wir es immer so tun, wird es ganz mechanisch für uns, es gehört sozusagen dazu. Für uns Hindus ist das OM etwas, was wir mit größtem Ernst und Respekt betrachten, denn es repräsentiert für uns Brahman, das Höchste, Gott, der alles ist, der die Welt erschaffen hat, indem er die Silbe OM sprach. Für uns gehört es nicht auf ein T-Shirt, und wir würden unseren Hund niemals so nennen, wie ich es einmal auf dem europäischen Yogakongress in Zinal beobachtet habe. Genau dort musste ich auch erleben, wie mich ein muslimischer Yogalehrer zu Recht konsterniert fragte, was das von Hindus verwendete Symbol von OM, das sich ja von der normalen Sanskrit-Schreibweise des Wortes unterscheidet, auf einem Yogakongress zu suchen hat. Ich bat Gerard Blitz damals, dieses Symbol aus dem Kongressprogramm zu streichen. Patañjali erwähnt in seinem Yoga Sūtra dieses Wort nicht, stattdessen spricht er über praṇava, etwas, das eine höhere Kraft benennt. Wer also an eine höhere Kraft glaubt, sollte diese Kraft mit dem besten, dem passendsten (pra) Begriff nennen und verehren. Für die Hindus ist zweifellos OM das beste Wort. Für jemanden anderen kann es genauso gut ein anderes Wort sein. Auch da hat Patañjali uns nicht festgelegt. Für einen Hindu sind Praṇava und OM dasselbe. Das hat zu der gleichen Verwirrung geführt, wie die oben genannte Verwechslung von Hinduismus mit Yoga, und hat für uns Yogalehrer einige unnötige Probleme geschaffen.
Viveka
Aber arbeiten Sie denn nicht auch mit Mantren, wenn Sie jemanden chanten, das Rezitieren vedischer Texte oder das Tönen bestimmter Silben, auch des OM lehren?
T.K.V. Desikachar
Nein, was wir lehren, sind keine Mantras. Denn die Bedeutung des Wortes Mantra ist folgende: etwas, das die höchste Kraft beschreibt. Es ist somit etwas, das uns mit dieser höheren Kraft direkt oder indirekt verbindet. Wenn ich Rezitation unterrichte, stelle ich sehr klar, dass es kein Mantra ist, was ich lehre. Manchmal lehre ich jemandem auch ein Mantra, aber das geschieht nicht in dem Kontext, von dem Sie gerade sprachen. Und mit dem OM für Nicht-Hindus bin ich, wie Sie wissen, äußerst vorsichtig. Wie mit jeder Technik sollten wir auch mit dem Rezitieren von Sanskrit sehr sorgfältig umgehen.
Viveka
Noch einmal zurück zu der Verbindung von Yoga und Hinduismus. Wir im Westen kommen manchmal mit der Vorstellung nach Indien, dort würde fast jeder Yoga praktizieren. Stimmt das eigentlich?
T.K.V. Desikachar
Ich kenne nicht viele Leute in Indien, die Yoga praktizieren. In dieser ganzen Straße zum Beispiel, wo es dreißig, vierzig Häuser hat, übt niemand außer meiner Familie Yoga. In dem gesamten Viertel mit ungefähr dreihundert Wohnhäusern gibt es vielleicht zehn Leute, die Yoga praktizieren. Zufälligerweise gehören fünf davon meinem Haushalt an und die anderen kommen her, um hier Yoga zu üben. In ganz Madras mit seinen nun etwa acht Millionen Einwohnern werden es also nicht mehr als fünfzigtausend Yoga Übende sein – und das ist eine sehr optimistische Schätzung.
Viveka
Wie kommt es denn, dass Yoga so wenigen Menschen bekannt ist, dass es etwas so Besonderes zu sein scheint?
T.K.V. Desikachar
Die Antwort ist einfach. Es hat damit zu tun, wie Yoga bei uns in Indien in der Vergangenheit präsentiert wurde: Ein Yogalehrer hat einen flexiblen Körper, er kann die akrobatischsten Yogahaltungen einnehmen, er kann die Luft anhalten … Das ist es, was mit dem Yoga geschehen ist, er wurde in einer sensationssuchenden Weise auf seine körperlichen Aspekte reduziert und das war es dann. Das hat ihn billig gemacht. Bis vor Kurzem noch war es unmöglich, einen Artikel über Yoga in einer guten Zeitung hier in Indien unterzubringen. Lesen Sie bitte diese kleine Yogabroschüre und schon können Sie Yogalehrer werden. Lernen Sie bei mir und Sie werden in Kürze Ihr Geld mit Yoga verdienen können. Viele Yogalehrer machen heutzutage solche oder ähnliche Versprechungen. Kein Wunder, dass viele Leute Yogalehrer für Quacksalber halten, das Ganze für Bluff befinden. Selbst ich wäre zu keinem Yogalehrer gegangen, hätte ich nicht meinen Vater als Lehrer getroffen. ▼