Yoga – die Menschlichkeit in uns entwickeln

Unter diesem Titel hielt Martin Soder im Mai 2008 in der Urania in Berlin einen Vortrag, eingeladen hatte ihn die Humanistische Union Berlin, in der Vorankündigung hieß es:

Yoga wird oft nur wahrgenommen als ein System zum Erlernen bestimmter Körper- und Entspannungsübungen. Tatsächlich aber entstanden diese Übungen eingebettet in ein Konzept, in dem es vor allem um die Entwicklung positiver menschlicher Potenziale geht. Das berührt Fragen nach den Bedingungen richtigen Handelns, nach den Möglichkeiten von Verstehen und der Suche nach Freiheit und innerer Zufriedenheit. Auch wer sich einem modernen, dogmatischen und humanistisch geprägten Menschenbild verpflichtet fühlt, kann im alten Übungssystem des Yoga anregende Inspirationen finden.

Der Vortrag wurde durch Fragen und Antworten ergänzt, die sich in der anschließenden Diskussion ergaben.

Yoga – die Menschlichkeit in uns entwickeln

Unter diesem Titel hielt Martin Soder im Mai 2008 in der Urania in Berlin einen Vortrag, eingeladen hatte ihn die Humanistische Union Berlin, in der Vorankündigung hieß es:

Yoga wird oft nur wahrgenommen als ein System zum Erlernen bestimmter Körper- und Entspannungsübungen. Tatsächlich aber entstanden diese Übungen eingebettet in ein Konzept, in dem es vor allem um die Entwicklung positiver menschlicher Potenziale geht. Das berührt Fragen nach den Bedingungen richtigen Handelns, nach den Möglichkeiten von Verstehen und der Suche nach Freiheit und innerer Zufriedenheit. Auch wer sich einem modernen, dogmatischen und humanistisch geprägten Menschenbild verpflichtet fühlt, kann im alten Übungssystem des Yoga anregende Inspirationen finden.

Der Vortrag wurde durch Fragen und Antworten ergänzt, die sich in der anschließenden Diskussion ergaben.

Yoga – die Menschlichkeit in uns entwickeln

Unter diesem Titel hielt Martin Soder im Mai 2008 in der Urania in Berlin einen Vortrag, eingeladen hatte ihn die Humanistische Union Berlin, in der Vorankündigung hieß es:

Yoga wird oft nur wahrgenommen als ein System zum Erlernen bestimmter Körper- und Entspannungsübungen. Tatsächlich aber entstanden diese Übungen eingebettet in ein Konzept, in dem es vor allem um die Entwicklung positiver menschlicher Potenziale geht. Das berührt Fragen nach den Bedingungen richtigen Handelns, nach den Möglichkeiten von Verstehen und der Suche nach Freiheit und innerer Zufriedenheit. Auch wer sich einem modernen, dogmatischen und humanistisch geprägten Menschenbild verpflichtet fühlt, kann im alten Übungssystem des Yoga anregende Inspirationen finden.

Der Vortrag wurde durch Fragen und Antworten ergänzt, die sich in der anschließenden Diskussion ergaben.

Die Menschlichkeit in uns entwickeln

Mehr Menschlichkeit in unserem Miteinander, das wünschen wir uns alle. Was kann ein Übungsweg wie Yoga, der sehr alt ist und in einer fernen Kultur entstanden ist, dazu beitragen?

Zuerst möchte ich kurz darlegen, worauf ich mich beziehe, wenn ich von Yoga spreche. Das ist nötig, weil man unter Yoga ganz unterschiedliche Dinge verstehen kann, nicht nur hier im Westen, sondern auch in der indischen Tradition, wo Yoga seine Wurzeln hat.

Bei uns verbindet sich mit Yoga normalerweise der Gedanke an bestimmte Übungen, hauptsächlich Körperübungen und als Wirkung von Yoga gilt vorwiegend mehr Gesundheit, bessere Beweglichkeit, besseres Körperbewusstsein, Entspannung.

Was daran richtig ist: Yoga hat tatsächlich mit Üben zu tun, mit der Vorstellung, dass Üben eine wirksame Methode ist, um in einem Menschen positive Veränderungen in Gang zu bringen.

Was an dieser Vorstellung von Yoga allerdings zu kurz gegriffen ist: Yoga ist weit mehr als die Praxis einiger Körperhaltungen, mehr auch als die Praxis von Meditation oder bestimmter Atemübungen.

Tatsächlich sind die Übungen des Yogas in ein komplexes Konzept eingebettet, das den Menschen in seinem Erleben, Verstehen und Handeln im Blick hat. Gesundheit oder die Fähigkeit zur Entspannung spielen dabei eine Rolle, sind aber anderen Zielen untergeordnet.

Vielmehr steht die Frage im Mittelpunkt: Wie kann ich als Mensch meine Potenziale entwickeln?

Und als unser wertvollstes Potenzial gilt dem Yoga unsere Fähigkeit, zu verstehen, die Fähigkeit, unserem Erleben der Wirklichkeit in uns und um uns herum näherzukommen.

Eine wichtige These, über die ich heute mit Ihnen diskutieren möchte, lautet:

Wenn wir einen Menschen wirklich verstehen, dann verhalten wir uns ihm gegenüber menschlich. Die sicherste Grundlage für humanes Handeln ist ein Erleben meines Gegenübers, das mich für dessen Wirklichkeit geöffnet hat. Sich der Wirklichkeit zu öffnen ist das zentrale Anliegen des Yoga.

Dieses Verständnis von Yoga bezieht sich auf einen Text, der vor etwa 2000 Jahren in Indien entstand, das Yoga Sūtra. Dazu ein paar kurze Worte.

Das Yoga Sūtra

Das Yoga Sūtra ist eine Sammlung von fast 200 Aphorismen, sehr knapp, auf das Nötigste beschränkt. Diese Aphorismen dienten und dienen noch, wie eben mir heute, als ein Leitfaden für die Erklärung von Yoga. Das ist auch die Bedeutung des Sanskritwortes Sūtra: ein Faden.

An diesem Leitfaden, so wie er mir vermittelt wurde und wie ich ihn verstanden habe, orientiere ich mich, wenn ich hier über Yoga spreche.

Vom Autor kennen wir nur den Namen: Patañjali. Die Wahrnehmung dieses Textes im Rahmen der indischen Tradition ist auf eine besondere Weise zwiespältig.

Einerseits wurde das Yoga Sūtra nie Teil des Textkanons einer religiösen Bewegung. Es gibt keine Tempel für Patañjali. Kein heiliger Baum, unter dem er Erleuchtung fand. Keine Anhänger, die sich darum gestritten haben, was er wirklich gemeint hat (wohl aber gelehrte Kommentare, die sich um sein Verständnis bemühten). Keine Klöster, die für die Verbreitung seine Lehre sorgten.

Gleichzeitig finden sich viele der im Yoga Sūtra entwickelten Konzepte in unterschiedlichen Traditionen wieder. Meist lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, welchen Weg sie genommen haben: War das Yoga Sūtra (oder das Umfeld, aus dem es stammt) die Quelle der Inspiration für andere Traditionen oder ließen sich Patañjali und sein Umfeld ihrerseits von anderen Traditionen inspirieren?

Als eine autoritative Darstellung des Yoga hochgeschätzt, wurde die Sicht des Yoga Sūtra trotzdem nie zu einer dominierenden Quelle indischen Denkens, das in weiten Teilen, ganz anders als das Yoga Sūtra, zutiefst religiös geprägt ist.

Mit westlichen Augen gesehen mischen sich im Yoga Sūtra ganz unterschiedliche Ebenen miteinander: Es argumentiert bisweilen philosophisch. Etwa dort, wo über die Frage der Zeit und die Momente, die sie teilen, spekuliert wird. Es argumentiert in weiten Teilen psychologisch. So etwa, wenn mentale Prozesse, wenn Bedingungen der Wahrnehmung, oder wenn die Grundlagen von Zufriedenheit analysiert werden. Und vor allem: Es argumentiert oft ganz praktisch. Wie ein Ratgeber liest es sich dort, wo eine Vielzahl von Übungskonzepten vorgestellt und ihre Wirkung diskutiert wird. Und er enthält natürlich auch Vorstellung und Spekulationen, die den damaligen Welt- und Menschenbildern entsprechen und für uns nur von historischer Bedeutung sind.

Unser wertvollstes Potenzial entwickeln

Was nun sind die Grundideen des Yoga Sūtra? Ich sagte es schon: Es geht darum, wie wir als Menschen unsere Potenziale entwickeln können. Von allen das wertvollste Potenzial ist unsere Fähigkeit, sich der Wirklichkeit der Welt zu öffnen. Wir wissen heute: Sich der Wirklichkeit meines Gegenübers zu öffnen, ist die sicherste Grundlage für humanes Handeln. Genau das berührt das große Thema des Yoga:

  • Wie kann es mir immer besser gelingen, mich der Wirklichkeit anzunähern?
  • Was hindert mich daran, diese Wirklichkeit zu erleben?
  • Wie wir die Wirklichkeit erleben, bestimmt und formt unser jeweiliges Handeln: Ob ich einen Menschen verachte oder ihn respektiere, hängt davon ab, wie ich ihn erlebe.

Tatsächlich machen wir jeden Tag die Erfahrung, dass unser Erleben der Wirklichkeit mehr oder weniger angemessen sein kann. Wir erfahren eine Situation, einen Menschen und stellen später fest, dass unser Eindruck oberflächlich, ja manchmal vollkommen falsch war. Unser Empfinden hatte offensichtlich nur sehr bedingt etwas zu tun mit der Wirklichkeit dieser Situation, dieses Menschen. Unsere Wahrnehmung erweist sich immer wieder als der Wirklichkeit nicht angemessen.

Aber wir sind auch vertraut mit der Möglichkeit, dass wir einer Wirklichkeit näher kommen können. Eine Täuschung löst sich auf, ein Verständnis vertieft sich, eine Frage findet eine Antwort, jemand erlebt sich von uns verstanden, die Reaktion auf unser Handeln zeigt, dass unser Erleben der Wirklichkeit angemessen war.

Was ist verantwortlich für diese unterschiedlichen Möglichkeiten der Annäherung an die Wirklichkeit? Wovon hängt ab, ob wir etwas verstehen, wie wir etwas erleben? Ganz modern sagt das Yoga Sūtra: Von der Art und Weise, in der unser Geist arbeitet.

Unser Geist kann in einer Stimmung sein, welche die Annäherung an die Wirklichkeit fördert. Dann ist er ausgerichtet und zugewandt, ruhig und klar. Unser Geist kann auch in einer Stimmung sein, in der er sich dieser Annäherung verweigert: Er ist abgewandt, zerstreut, unklar.

Die Eigendynamik unseres Geistes

Der Zustand der Verweigerung gegenüber der Wirklichkeit erscheint auf den ersten Blick paradox. Scheinbar findet eine Verdrehung statt, wir täuschen uns und halten diese Täuschung für die Wirklichkeit. Es scheint, als hätten wir in diesem Moment gar keine andere Möglichkeit. Wir sind in Kontakt mit einem Gegenüber, aber unser Empfinden ist ihm gar nicht angemessen. Für uns stimmt alles so, wie wir es erleben. In Wirklichkeit sind wir jedoch einer Täuschung aufgesessen. Verantwortlich für diese Fähigkeit zur Täuschung gilt dem Yoga die Möglichkeit, ja die Fähigkeit des Geistes, in eine besondere Art der Eigendynamik zu verfallen. Der Begriff Eigendynamik beschreibt diese Art der Aktivität unseres Geistes sehr gut.

Was diesen Geisteszustand nämlich charakterisiert, ist einerseits eine hohe Dynamik. Gleichzeitig ist diese Dynamik vor allem von bestimmten eingefahrenen Mustern des Geistes dominiert. Sehr wenig gefärbt ist diese Dynamik dagegen von der Wirklichkeit.

Der Geist koppelt sich ab von der Wirklichkeit um ihn herum und speist seine Aktivität auf eine besondere Weise aus sich selbst. Die Wirklichkeit ist nur noch Impuls für diese besondere Eigendynamik, kein Korrektiv. Fremdenhass ist ein gutes Beispiel für die Funktionsweise dieser Eigendynamik. Der Geist findet keinen Zugang mehr zur Wirklichkeit und er braucht für sein Erleben diesen Zugang auch gar nicht mehr, weil er sich in dieser Eigendynamik genug ist.

Im Yoga geht es nun darum, dass unsere innere Dynamik weniger von dieser Art von Eigendynamik des Geistes als viel mehr von der Wirklichkeit geformt wird. Je mehr dies der Fall ist, umso mehr ist unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit angemessen.

Falsche Gewissheiten

Natürlich gibt es viele und andere Möglichkeiten, unseren Geist zu beschreiben und zu verstehen. Für den Yoga stehen aber genau diese zwei unterschiedlichen Arten innerer Bewegung im Mittelpunkt des Interesses:

  • Der Geist kann sich der Wirklichkeit zuwenden. Zugewandt sein. Sich ausrichten. Verstehend sein. Offenes Interesse an einer Situation, einem Gegenüber haben.
  • Der Geist kann aber auch in einer Eigendynamik gefangen sein, sich abwenden von der Wirklichkeit, in Unverständnis und selbst bezogen funktionieren.

Statt der Wirklichkeit erleben wir dann die Eigendynamik unseres Geistes. Das Fatalste daran: Wir halten die Botschaften dieser inneren Dynamik für die Wirklichkeit selbst. Es ist ein fälschliches Dafür-Halten, das sich scheinbar ohne unser Zutun einstellt und als unerschütterliche Gewissheit erlebt wird. Tatsächlich sind es solche falschen Gewissheiten, sind es unangemessene Assoziationen und Unverständnis, die diese oberflächliche Wahrnehmung prägen.

Erreicht die Eigendynamik unseres Geistes eine große Intensität, färbt sich seine Stimmung entsprechend deutlich ein. Als Ausdruck einer solchen Stimmung beschreibt das Yoga Sûtra Gefühle wie Hass oder Gier.

Das ist der Grund, warum dort Hass schließlich als negatives Gefühl gewertet wird. Nicht, weil man ein schlechter Mensch ist, wenn sich ein solches Gefühl einstellt. Sondern weil es Ausdruck einer inneren Verwirrung ist und die Fähigkeit einschränkt, Wirklichkeit zu erleben.

Der menschliche Geist ist lernfähig

Ein Zitat des Neurowissenschaftlers Gerald Hüter:

„Es ist wissenschaftlich nicht haltbar zu behaupten, dass der Mensch ein angeborenes Aggressionspotenzial ausleben müsse. Wenn man Kindern nicht zeigt, wie man auf zwei Beinen läuft, laufen sie nicht auf zwei Beinen. Komplexe Verhaltensweisen sind nicht genetisch verankert. Sie werden durch soziale Erfahrungen erworben, also anhand von Vorbildern erlernt. Wir haben die Option, einander totzuschlagen. Und wir haben auch die Option, nach gewaltfreien Lösungen unserer Konflikte zu suchen. Die Tatsache, dass dies in der Menschheitsgeschichte nicht immer versucht worden ist, ist kein Zeichen dafür, dass der Mensch von Natur aus aggressiv ist. Es zeigt nur, dass es ihm bis jetzt nicht gelungen ist, Potenziale für ein friedvolles Zusammenleben zu entfalten.

Ein Aspekt unter vielen anderen für die Entwicklung solcher Potenziale ist: Wir können lernen, uns auf ein Gegenüber einzulassen, wir können Zuwendung lernen. Die Gestaltung dieses Lernprozesses ist ein wesentliches Anliegen des Yoga.

Das Yoga Sūtra definiert Yoga als eine besondere Art von Stimmung in unserem Geist: Als Yoga gilt dort eine innere Stimmung von Zugewandtheit: Mein Geist ist ausgerichtet und ich bin in der Lage, diese Ausrichtung aufrechtzuerhalten.

Ich wende mich zu, nicht ab. Ich bin mit einem Gegenüber intensiv verbunden, nicht getrennt.

Alle Übungen des Yoga haben zuallererst dieses Ziel: Zugriff zu bekommen auf meine mentalen Prozesse und Strukturen und dieses ganz besondere, ihnen innewohnende Potenzial zur Annäherung an die Wirklichkeit zu entwickeln. Und wenn dabei Gesundheit oder körperliches Wohlbefinden thematisiert werden, dann aus dieser Perspektive: Was spielen Gesundheit und Wohlbefinden für eine Rolle für meine Möglichkeiten, meinen Geist in positiver Weise zu beeinflussen?

Hindernisse erkennen und ihnen entgegenarbeiten

Praktisch gesehen ist dieser Lernprozess immer wieder dominiert von der Auseinandersetzung mit jenen Tendenzen unseres Geistes, die einer Öffnung gegenüber der Wirklichkeit entgegenarbeiten. Wie Zuwendung und Verbindung hergestellt werden können und wie sich eine solche Stimmung aufrechterhalten lässt, hängt für das Yoga Sūtra wesentlich davon ab, in welchem Maß es gelingt, Tendenzen der Selbstbezogenheit, der Missgunst, des Noch-Mehr-Haben-Müssens an einer Dominanz unserer mentalen Prozesse zu hindern.

Die Kraft dieser Tendenzen kann kaum unterschätzt werden. Das Yoga Sūtra widmet ihrem Verständnis und der Frage eines angemessenen Umgangs mit ihnen deshalb auch viel Raum.

Tatsächlich neigt unser Geist normalerweise eher zu einem Zustand der Täuschung. Die mit Blindheit verbundenen Gefühle wie Hass, Verachtung und Eigensucht sind kein Ausnahmezustand, sondern nur allzu oft Normalität. Das Entfalten unserer positiven Potenziale ist kein naturwüchsiger Prozess.

Die wahre Natur unseres Geistes ist nicht Klarheit, sondern Ambivalenz.

Das ist die schlechte Nachricht. Die gute: Unser Potenzial, mithilfe unseres Geistes Verständnis zu entwickeln, ist groß und kann einem Menschen kaum wirklich verloren gehen.

Und die beste Nachricht: Wir können die positiven Möglichkeiten unseres Geistes durch eigenes Bemühen entwickeln. Wir können sie durch einen Lernprozess fördern, in dem wir uns neue Muster und Gewohnheiten erarbeiten.

Das ist der Kern des Angebots, das im Yoga Sūtra als Übungsweg vorgeschlagen wird. In unserem Geist etablieren, die seine Grundstimmung verändern. Muster, auf Grund derer wir die Wirklichkeit eher so erleben wie sie ist und weniger so wie wir sie uns vorstellen, oder wie wir sie gerne hätten oder gerade brauchen oder wie uns jemand anderes glauben gemacht hat, dass sie ist.

Wenn wir also über die Menschlichkeit in uns reflektieren, dann müssen wir vor allem auch im Blick behalten, was der Entwicklung dieser Menschlichkeit entgegensteht. Was braucht es, damit ein Mensch einen anderen verletzt?

Unmenschlichkeit

Einem Menschen Leid zuzufügen, bedarf einer wesentlichen Voraussetzung. Wer Leid zufügt, muss sich innerlich von dem betroffenen Gegenüber abgewandt haben. Ob wir jemanden mit Worten verletzen, ob wir ihn verachten, ob wir ihn seiner Würde berauben, ob wir ihm körperlichen Schmerz zufügen. Wir haben das Gefühl für die Realität unseres Gegenübers verloren. Wir öffnen uns nicht für das, was hier und jetzt seine Wirklichkeit ausmacht.

Je mehr wir den Respekt vor einem anderen Menschen verlieren, je mehr wir seine Würde oder gar sein Leben missachten, desto mehr muss unser Geist die Wirklichkeit dieses Menschen ersetzen durch eine Wirklichkeit von ihm, die wir uns selbst erschaffen.

Es gibt viele wissenschaftliche Untersuchungen, in denen die Gültigkeit und Bedeutung solcher Mechanismen aufgezeigt wurde. Das gilt für extreme Situationen von Grausamkeit ebenso wie für unser alltägliches Unvermögen, zugewandt und verständig zu sein.

Yoga: Neue Gewohnheiten erarbeiten

Was nun braucht es, dem Geist neue Gewohnheiten zu vermitteln? Einmal braucht es Üben. Ausrichtung kann gelernt werden. Dafür stellt der Yoga ein differenziertes und bewährtes Instrumentarium zur Verfügung.

Dann braucht es eine Auseinandersetzung mit und Wachheit gegenüber jenen Neigungen unseres Geistes, die ihn daran hindern, sein Potenzial zu entwickeln, Wirklichkeit zu erleben. Sich-Selbst-Näher-Kommen nennt das Yoga Sūtra diese Aufgabe an einer Stelle. Und schließlich braucht es gute Rahmenbedingungen, damit dieser Lernprozess erfolgreich sein kann. Dazu gehört etwa das Training einer Haltung, die möglichst gelassen bleibt angesichts der Erfolge und Misserfolge auf dem Weg.

Dazu gehört, über unterschiedliche Strategien zu verfügen, wie der negativen Dynamik des Geistes begegnet werden kann. Das bedeutet praktisch vor allem auch: Ein Gefühl dafür entwickeln, wann jene schon angesprochene negative Eigendynamik beginnt, meinen Geist zu dominieren. Und welche Lösungen für einen Menschen auch wirklich tragen und nicht nur aufgesetzter Anspruch bleiben, wie es manchmal dem Bedürfnis nach mehr Mitgefühl widerfährt.

Dazu gehört auch, immer besser innehalten zu können, um dieser Dynamik nicht unmittelbar ausgeliefert zu sein. Dazu gehört auch die Auseinandersetzung mit dem Rahmen, in dem mein Leben organisiert und mein Geist agieren muss. Wo alle in meiner Umgebung die Erniedrigung eines Menschen gutheißen, wird sich ein anderes Muster in meinem Geist nur schwer etablieren können.

Und natürlich spricht das Yoga Sūtra über das Wie des eigentlichen Übens und sagt: Zugriff auf unseren Geist im Üben finden wir über den Körper, den Atem und Übungen, die unmittelbar mit dem Geist arbeiten, die Meditation. Mit ihrer Hilfe lassen sich neue Muster, neue Gewohnheiten unterstützen.

Das also ist der Hintergrund auf dem die Übungen des Yoga in seinem Selbstverständnis ihren Platz finden.

Wir können mit ihrer Hilfe lernen, mehr in einer inneren Stimmung durchs Leben zu gehen, in der wir uns der Wirklichkeit vor uns zuwenden. Sie in dem Maße als Wirklichkeit zu erleben, wie es uns als Menschen eben möglich ist. Der Yoga behauptet, dass die Entwicklung dieser Fähigkeit zur Ausrichtung, zur Verbindung mit unserem Gegenüber uns zuletzt auch glücklicher macht.

Danke für Ihre Aufmerksamkeit.

Diskussion

Frage: Können Sie noch etwas mehr zum Yoga Sūtra sagen? Gibt es Übersetzungen? Ergibt es Sinn, das einfach so zu lesen, wenn die Verse doch so knapp sind wie Sie beschrieben haben?

Antwort: Wir wissen tatsächlich sehr wenig über die Entstehungsgeschichte des Yoga Sūtra, für indische Texte übrigens keine Besonderheit. Auch über den Autor, Patañjali, ist uns so gut wie nichts bekannt. Einmal abgesehen davon, dass sich um seine Person natürlich einige Legenden ranken. Wir wissen nicht einmal sicher, ob das Yoga Sūtra in einem Guss entstand oder über Jahrzehnte oder Jahrhunderte hinweg unter unterschiedlichen Autoren gewachsen ist. Ich sagte es schon: Was mit unserem Blick von außen auf die Geschichte dieses Textes auffällt, ist sein besonderer Charakter in der indischen Ideengeschichte. Seine Zwiespältigkeit, einerseits immer randständig geblieben zu sein und andererseits doch von einigem Einfluss und respektiert. Ganz anders etwa die viel berühmtere und allseits anerkannte Bhagavad Gītā, die zu einer ähnlichen Zeit entstanden ist und ebenfalls vom Yoga handelt. Sie steht in der Mitte indischen Denkens und sie ist zutiefst religiös geprägt. Religiosität ist auch der wesentliche Moment des Hauptstroms der indischen Tradition. Dieser Hauptstrom indischer Weltanschauung und indischen Lebens drückt sich in dem aus, was man heute Hinduismus nennt: Eine religiöse Bewegung von großer Vielfalt, welche die indische Gesellschaft bis heute prägt und ihr Identität gibt. Und Texte wie die Bhagavad Gītā geben dem Ausdruck. Nicht so das Yoga Sūtra. Aber dennoch: Ohne dem Gesamtkonzept des Yoga Sūtra zu folgen, wurden über die Jahrhunderte die dort entwickelten Konzepte immer wieder genutzt. Das gilt auch für den Hinduismus in seinen vielfältigen Ausformungen. Mehr Gemeinsamkeiten mit dem Yoga Sūtra lassen sich übrigens im Vergleich mit buddhistischen Praktiken und Konzepten finden, gleichzeitig gibt es aber auch hier gravierende Unterschiede. Trotz großer Ablehnung in seiner Gesamtheit, etwa was sein Menschenbild angeht, blieben die Konzepte des Yoga Sūtra also lebendig und wurden auf vielfältige Weise in unterschiedliche, eben religiöse Zusammenhänge integriert. Und dies, obwohl dem Yoga Sūtra selbst jede religiöse Ambition fehlt. Das hatte unter anderem Eines zur Folge. Als die Übungen des Yoga aus Indien in den Westen kamen, geschah das nicht eingebettet in die Konzepte des Yoga Sūtra. Yoga wurde und wird auch heute in Indien noch überwiegend, vermittelt von Lehrern mit hinduistischer Prägung. Für sie war und ist dies übrigens keine bewusste Verfälschung des Yoga, sondern ein Umgang mit Yoga, der die indische Tradition insgesamt stark prägt. Sich widersprechende Positionen, Methoden oder Anschauungen werden vereinnahmt, statt in ihrer Unterschiedlichkeit betont und kontrovers diskutiert.
Was Ihre Frage nach den Übersetzungen des Yoga Sūtra angeht: Zurzeit gibt es keine wirklich befriedigende Übersetzung, und ich bezweifle, dass es eine richtige Übersetzung dieses Textes überhaupt geben kann. Das liegt an dem besonderen Charakter solcher Sūtrentexte, deren Verse mehr als Überschriften, denn als ein wohl ausformuliertes Lehrgebäude zu verstehen sind. Schon eine wörtliche Übertragung ist nicht einfach, weil viele der dort benutzten Begriffe über ein recht großes Bedeutungsspektrum verfügen. Aber mit einer wörtlichen Übersetzung fängt der interessante Teil einer Übertragung des Yoga Sūtra in einen für uns heute lesbaren und relevanten Text eigentlich erst an. Am meisten Bedarf zur Erläuterung und Diskussion ergibt sich nämlich anhand solcher Fragen: Wie ist es denn genau gemeint, wenn im Yoga Sūtra von einem ruhigen und klaren Geist die Rede ist? Was konkret ist gemeint, wenn dort über innere Strukturen gesprochen wird, die diesen Geist trüben können? Welche Erfahrung wird beschrieben, wenn davon die Rede ist, ganz Eines zu sein mit einem Gegenüber? Was ist gemeint, wenn dort Freiheit versprochen wird? Viele der verfügbaren Übersetzungen, ebenso wie traditionelle und neue Kommentare zum Yoga Sūtra sind hier wenig hilfreich. Heute dominieren noch immer Übersetzungen, die sehr stark von einem Herangehen geprägt sind, die im Yoga Sūtra einen philosophischen Text sehen, der über die Beschaffenheit der Welt an sich spekuliert. Oder das Yoga Sūtra als einen Text lesen, der von besonderen Geisteszuständen berichtet, die sich bei genauerem Betrachten als jenseits von allem menschenmöglichen Erleben erweisen. Dem Yoga Sūtra wird das nicht gerecht.
Ich verstehe das Yoga Sūtra viel mehr als eine Landkarte, die Orientierung geben kann für Erfahrungen, die jemandem beim Beschreiten dieses Übungswegs begegnen. Und für einen Menschen, der sich mit sich selbst auseinandersetzt. Der sich besser verstehen möchte. Der seinen Geist in ganz unterschiedlicher Qualität erlebt und dafür nach Erklärung und vor allem auch nach positiver Veränderung sucht. Als solch eine Landkarte wurde mir das Yoga Sūtra vermittelt und in meiner täglichen Arbeit mit den Menschen, die zu uns zum Erlernen von Yoga kommen, wie auch für mich persönlich hat es sich als eine solche Landkarte bisher bestens bewährt. Wenn Sie sich mit einem solchen Verständnis des Yoga Sūtra bekannt machen wollen, empfehle ich Ihnen: Freiheit und Meditation von TKV. Desikachar, erschienen im Via Nova Verlag. Es ist keine Übersetzung, sondern eine Übertragung des Yoga Sūtra in einer Weise, die anregt zur Reflexion und, wie ich finde, Lust macht auf Yoga.

Frage: Kann man denn Wirklichkeit überhaupt erkennen? Ist das nicht ein vollkommen unrealistischer Anspruch: Die Wirklichkeit erleben? Ist Wirklichkeit für uns Menschen denn nicht immer nur begrenzt wahrnehmbar?

Antwort: Gut, dass Sie hier noch einmal nachfragen. Natürlich können wir die Wirklichkeit nicht unabhängig von unserem Geist erleben. Wir erleben sie vielmehr so, wie sie uns mithilfe unseres Geistes vermittelt wird. Aber es gibt eine Wirklichkeit, unabhängig von ihm. Wenn ich sage, im Yoga geht es darum, sich der Wirklichkeit zu öffnen, dann ist dies nicht in einem ontologischen Sinn gemeint. Es geht nicht um die Wirklichkeit schlechthin, nicht um die Frage, was Wirklichkeit ist. Das Yoga Sūtra lässt allerdings keinen Zweifel daran, dass eine Wirklichkeit auch unabhängig von unserem Geist vorhanden ist. Sie ist nicht bloße Illusion, die uns unser Geist vorgaukelt. Die eigentliche Frage des Yoga Sūtra lautet: Was ist die Wirklichkeit meines Gegenübers, wenn mein Geist alle seine Möglichkeiten ausgeschöpft hat, dieser Wirklichkeit gewahr zu werden? Dabei ist das ganze Setting des Yogas darauf angelegt, auf spezifische Fragen, spezifische Antworten zu erhalten. Also:

  • Wie kann ich mich auf etwas ausrichten und die Betonung liegt dabei auf Etwas?
  • Wie kann ich in Verbindung mit Etwas gehen?
  • Wie kann die Verbindung mit einem Gegenüber immer intensiver werden?

Dieses Gegenüber kann mein Körper sein, mein Atem, eine Frage, ein Konzept, eine Vision, ein Mensch. Es geht also darum, angesichts eines Gegenübers, sei es ein Mensch, sei es eine Situation, seien es wir selbst, das uns zur Verfügung stehende Potenzial zur Annäherung an die Wirklichkeit möglichst vollkommen auszuschöpfen.

Ich sprach schon von der allgegenwärtigen Erfahrung, dass sich das Erleben, etwa von einem Menschen, schließlich als falsch erweist. Als diesem Menschen nicht angemessen, dem, was er dachte, wollte, sagte, was er tat. Und davon, dass sich ein solch falsches Verständnis auch auflösen kann. Im positiven Fall wird es ersetzt durch ein Erleben, das näher an der Wirklichkeit ist. Aspekte, die uns vorher entgangen sind oder nicht zugänglich waren, können sich nun offenbaren. Wir erleben etwas anders, es fühlt sich anders an, wir verstehen unser Gegenüber, eine Situation, ein Problem besser. Unser Potenzial, sich der Wirklichkeit anzunähern, hat sich mehr entfaltet.

Die Frage nach dem Wesen der Wirklichkeit an sich wird so im Yoga Sūtra also gar nicht gestellt. Ausgangspunkt ist vielmehr die Erfahrung, dass uns Menschen offensichtlich ein Erleben möglich ist, das näher oder weiter weg ist von der Wirklichkeit, die uns umgibt und zu der wir selbst gehören. Und dass wir den Weg der Annäherung an die Wirklichkeit in diesem Sinn sehr viel weitergehen können, als der Normalzustand unseres Geistes uns glauben macht. Wir verkennen oft, wie sehr dieser Normalzustand davon geprägt ist, dass unser Geist seinen Gewohnheiten und Mustern überlassen bleibt. Und diese Gewohnheiten liegen in der Regel weit unter seinen eigentlichen Möglichkeiten.

Die Möglichkeit des Verstehen-Könnens, die dem Yoga so am Herzen liegt, kann sich dabei nur im Zusammenhang mit einer bestimmten Wirklichkeit entfalten. In einer bestimmten Situation. In engem Kontakt mit einem bestimmten Gegenüber. Immer wieder aufs Neue. Dieses Verständnis hat eine wichtige Konsequenz, die im Yoga Sūtra auch entsprechend akzeptiert wird. Wenn ich der Wirklichkeit des Nachbarn über mir näher gekommen bin, heißt das nicht, dass dies auch für die Wirklichkeit des Nachbars unter mir gilt. Ich finde auch in der Meditation nicht die eine Wahrheit. Aber je öfter es mir gelingt, die Hindernisse zu überwinden, die mir ein Erleben der Wirklichkeit in diesem Sinne verstellen, desto größer die Chancen, dass sich dies in einer neuen Grundstimmung meines Geistes niederschlägt:

Einer Stimmung von Zuwendung, von Interesse, von Verbinden wollen, von sich verbunden fühlen, von Verstehen wollen, von größerer Fähigkeit zu verstehen.

Mich erfolgreich um ein Verständnis meines Nachbarn bemüht zu haben, hilft, mich der Wirklichkeit des Nachbarn unter mir schneller, sicherer und einfacher zu öffnen. Und es hilft mir, ein Verständnis zu entwickeln, das über meine beiden Nachbarn hinausgeht. Etwa jenes, dass die Welt und ich um mich herum in enger Verbindung sind und der Glaube, ich wäre ihr Mittelpunkt, eine Täuschung ist.

Das Yoga Sūtra beschreibt die Annäherung an ein Stück Wirklichkeit im Kontext der Darlegung des Prozesses der Meditation als eine komplexe und vielschichtige Entwicklung. Und vielleicht wird dort etwas zu optimistisch beurteilt, wie weit dieser Weg der Annäherung an eine Wirklichkeit tatsächlich gegangen werden kann. Wenn uns intensivste Ausrichtung möglich ist, so heißt es dort nämlich, dann ließe sich durch die so hergestellte enge Verbindung, das Eins-Sein mit etwas, sowohl das Kleinste als auch das Größte verstehen.

Frage: Mir schwirrt oft der Kopf, wenn ich daran denke, immer und überall Mitgefühl entwickeln zu müssen. Als ständiger Anspruch nimmt mir das oft eher die Luft zum Atmen, als dass er mich wirklich offen macht. Wie kann ich damit umgehen?

Antwort: Ihre Frage thematisiert ein wichtiges Problem, das sich immer dann stellt, wenn es darum geht, unsere Denkmuster verändern zu wollen. Wie lässt sich unser Geist effektiv beeinflussen? Wie können positive Muster zu einer neuen Gewohnheit werden, auf die wir auch in schwierigen Situationen zurückgreifen können? Im Yoga Sūtra werden diese Fragen mit der Diskussion von zwei ganz unterschiedlichen Strategien angegangen.

Der Ausgangspunkt der ersten Strategie ist die Überzeugung, dass Mitgefühl eine Stimmung unseres Geistes ausdrückt, die durchweg positiv zu beurteilen ist. Positiv erst einmal einfach in dem Sinne: Wir sind lieber unter Menschen, die uns mit Mitgefühl begegnen, als unter Menschen, die uns verachten.

Und weiter: Wir haben einen direkten Zugriff auf unsere innere Stimmung. Wir machen immer wieder die Erfahrung, dass sich unser Geist an die Hand nehmen und zu einer bestimmten Stimmung führen lässt. Das gelingt bekanntermaßen in beiden Richtungen. Wenn ich jemanden nur ordentlich laut und lange genug anschreie, kann ich, wenn ich mich darauf einlasse, eine immer aggressivere Stimmung in mir erzeugen. Und ich kann mich umgekehrt bemühen, ein Gefühl von Mitgefühl zu entwickeln, und dieses Bemühen kann tatsächlich dazu führen, in eine andere, bessere Stimmung zu geraten. Letzteres immer wieder einzuüben, gleichsam zu trainieren wie ein Geigenspiel, ist wahrlich eine bewährte Möglichkeit, meinen Geist zu verändern. Aber wie jede Strategie ist auch diese nicht immer Erfolg versprechend, nicht immer angemessen und sie hat tatsächlich ganz offensichtliche Mängel. Zwei davon möchte ich ansprechen und damit auch zu Ihrer Frage kommen.

Der eine Mangel besteht darin, dass es überhaupt nicht ausgemacht ist, ob ich aus einer Stimmung des Mitfühlens heraus auch so handle, dass mein Gegenüber sich tatsächlich angenommen fühlt. Ob also mein Mitgefühl zu einem angemessenen Handeln führt. So kann es mir passieren, dass ich aus Mitgefühl einen Rollstuhlfahrer kurzerhand über ein schwieriges Wegstück schiebe, er sich dadurch in seinen Bedürfnissen aber überhaupt nicht wahrgenommen, sondern bevormundet fühlt. Mein Mitgefühl war echt, aber ich habe die Situation nicht verstanden.

Den anderen Mangel, der sich mit dem Bemühen um das Herstellen von Mitgefühl verbinden kann, haben Sie in Ihrer Frage selbst angesprochen. Er betrifft den Unterschied zwischen Üben und Alltag. Mitgefühl üben lässt sich am einfachsten in der Stille meines Übungsraumes. Ich bin nach innen, auf meine Gefühle ausgerichtet. Kein böses Wort, keine Bedrohung, keine Notwendigkeit zu handeln, triggert die Eigendynamik meines Geistes. Und ein solches Üben macht durchaus Sinn. Es hilft, diese Stimmung in mir zu bahnen, den Geist daran zu gewöhnen, auf diese Weise zu agieren. Und die Hoffnung, dass sich dieses Muster auch im Alltag abrufen lässt, ist berechtigt. Aber der Alltag erfordert Mitgefühl in einem ganz anderen Zusammenhang. Er verlangt Mitgefühl im Zusammenhang mit der Zuwendung zu einem Gegenüber in hochdynamischen, komplexen und unterschiedlichsten Zusammenhängen und Situationen. Nicht Selbstbezug ist hier wichtig, sondern die Situation, die ich erlebe. Keine Innenschau, sondern Verbundenheit mit meinem Gegenüber ist gefragt. Je mehr es mir gelingt, in dieser Verbindung zu bleiben, umso weniger bieten sich meinem Geist Chancen, in seine destruktive Eigendynamik zu verfallen. Ich lebe meine Qualität als Mensch am intensivsten, ich bin dann am meisten bei mir, wenn ich mich der Welt öffnen kann, auf sie zugehe, sie verstehe.

Mir hat einmal jemand beschrieben, wie er versucht, seine Meditationspraxis in den Alltag zu integrieren. Dieser Transfer bestand hauptsächlich darin, sich immer wieder des eigenen Atems bewusst zu werden. Das war auch Teil seiner täglichen Meditationspraxis. Wann immer er sich im Alltag daran erinnerte, versuchte er, den Fluss seines Atems zu spüren. Ich fragte ihn, wie er sich fühlen würde, wenn er wüsste, dass jemand, mit dem er gerade ein wichtiges und intensives Gespräch führt, einen Großteil der Zeit damit verbringen würde, auf seinen Atem zu achten. Die Antwort war einfach: Er würde sich nicht sehr wahrgenommen fühlen.

Wenn ich auf meinen Atem achte, wende ich mich von meinem Gegenüber ab. Das kann auch gelten, wenn ich versuche, Mitgefühl zu entwickeln. Und wenn Sie sagen, dass Ihnen manchmal der Kopf schwindelt bei diesem Bemühen, dann drücken Sie genau diesen Widerspruch aus. Einerseits geht es beim Mitgefühl um mein Gegenüber. Aber einfach Mitgefühl von sich zu fordern, kann auch dazu führen, dass ich mich hauptsächlich um mich selbst kümmere. So positiv dieses Gefühl auch ist, wir brauchen einen angemessenen Umgang damit. Interessant ist die Art und Weise, wie im Yoga Sūtra dieses Thema eingeführt wird. Die Ausrichtung auf positive Gefühle wie Mitgefühl (karūna) oder auch Mitfreude (mudīta) wird dort ins Spiel gebracht, wo nach Lösungen für eine Situation gesucht wird, in der unser Geist in großer Unklarheit ist. Es ist der Vorschlag für eine erfolgreiche Krisenintervention: Einem unklaren Geist ist eben nicht viel Positives zuzutrauen.

Deshalb der Vorschlag, nicht lange zu zögern, sondern in dieser Dunkelheit ein helles Licht anzuzünden. Dazu braucht es zuerst: Ein Gespür für die Dynamik meines Geistes, und ich muss, wenn nötig, innehalten können. Beides kann gelernt werden.

Zweitens benötige ich eine klare Anweisung, was zu tun ist, einen klar formulierten Fokus, auf den ich mich jetzt ausrichte. (Im Yoga Sūtra wird ein solcher Fokus bhāvana genannt). Deshalb sind die Vorschläge auch sehr konkret. Nicht Mitgefühl überall und immer entwickeln; der Vorschlag des Yoga Sūtra lautet vielmehr: Entwickle Mitgefühl angesichts eines Menschen, der leidet. Ein in Unklarheit gefangener Geist neigt nämlich zu einer ganz anderen Stimmung: Selbst ist er schuld, es wird schon nicht so schlimm sein, nun ist aber genug …

Dieser Tendenz eines mit Blindheit geschlagenen Geistes etwas entgegenzusetzen ist das Ziel einer solchen Intervention und des inneren Appells: Mitgefühl, das wäre eigentlich das angemessene Gefühl diesem Menschen gegenüber! Würdest Du ihn nur verstehen, es würde sich Mitgefühl in Dir einstellen.

Das Gleiche gilt für Mitfreude: Nicht Neid und Missgunst sind angemessen, wenn sich jemand über etwas freut, sondern eben Mitfreude. Als solche sehr spezifische Krisenintervention ist das Bemühen um Mitgefühl ein mächtiges Werkzeug, besser mit uns und der Welt umzugehen und sich darin glücklicher zu fühlen. Aber es ist eben kein Allheilmittel.

Das zentrale Anliegen des Yoga Sūtra ist eine Veränderung der Muster unseres Geistes hin zu einer Stimmung der Zugewandtheit. Als schwierigste Aufgabe wird erkannt, Strategien zu entwickeln, mit deren Hilfe diese Stimmung auch unter widrigen Umständen aufrechterhalten werden kann. Aus dieser Stimmung entwickelt sich ein tiefes Verständnis eines Gegenübers. Dieses Verständnis kann sich in Mitgefühl ausdrücken, wenn dieses Gegenüber leidet. Aber auch in ganz anderen Gefühlen. So etwa in Mitfreude, wenn sich unser Gegenüber freut. Aber auch in einem Gefühl, das uns hilft, einen kühlen Kopf zu bewahren, uns nicht provozieren zu lassen und angemessen zu reagieren, wenn sich dieses Gegenüber menschenverachtend verhält.

Der Yoga versteht auch ein solches Gefühl (es wird dort upekṣa genannt) ausdrücklich als positiv und, in einer entsprechenden Situation, als Ausdruck eines tiefen Verständnisses. Ratschläge also, die unser positives Gefühlsleben auf eine einzige Kategorie wie die des Mitgefühls reduzieren wollen, sind gerade auch im Zusammenhang mit der Entwicklung eines menschlichen Miteinanders wenig sinnvoll. ▼

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Mehr Menschlichkeit in unserem Miteinander, das wünschen wir uns alle. Was kann ein Übungsweg wie Yoga, der sehr alt ist und in einer fernen Kultur entstanden ist, dazu beitragen?

Zuerst möchte ich kurz darlegen, worauf ich mich beziehe, wenn ich von Yoga spreche. Das ist nötig, weil man unter Yoga ganz unterschiedliche Dinge verstehen kann, nicht nur hier im Westen, sondern auch in der indischen Tradition, wo Yoga seine Wurzeln hat.

Bei uns verbindet sich mit Yoga normalerweise der Gedanke an bestimmte Übungen, hauptsächlich Körperübungen und als Wirkung von Yoga gilt vorwiegend mehr Gesundheit, bessere Beweglichkeit, besseres Körperbewusstsein, Entspannung.

Was daran richtig ist: Yoga hat tatsächlich mit Üben zu tun, mit der Vorstellung, dass Üben eine wirksame Methode ist, um in einem Menschen positive Veränderungen in Gang zu bringen.

Was an dieser Vorstellung von Yoga allerdings zu kurz gegriffen ist: Yoga ist weit mehr als die Praxis einiger Körperhaltungen, mehr auch als die Praxis von Meditation oder bestimmter Atemübungen.

Tatsächlich sind die Übungen des Yogas in ein komplexes Konzept eingebettet, das den Menschen in seinem Erleben, Verstehen und Handeln im Blick hat. Gesundheit oder die Fähigkeit zur Entspannung spielen dabei eine Rolle, sind aber anderen Zielen untergeordnet.

Vielmehr steht die Frage im Mittelpunkt: Wie kann ich als Mensch meine Potenziale entwickeln?

Und als unser wertvollstes Potenzial gilt dem Yoga unsere Fähigkeit, zu verstehen, die Fähigkeit, unserem Erleben der Wirklichkeit in uns und um uns herum näherzukommen.

Eine wichtige These, über die ich heute mit Ihnen diskutieren möchte, lautet:

Wenn wir einen Menschen wirklich verstehen, dann verhalten wir uns ihm gegenüber menschlich. Die sicherste Grundlage für humanes Handeln ist ein Erleben meines Gegenübers, das mich für dessen Wirklichkeit geöffnet hat. Sich der Wirklichkeit zu öffnen ist das zentrale Anliegen des Yoga.

Dieses Verständnis von Yoga bezieht sich auf einen Text, der vor etwa 2000 Jahren in Indien entstand, das Yoga Sūtra. Dazu ein paar kurze Worte.

Das Yoga Sūtra

Das Yoga Sūtra ist eine Sammlung von fast 200 Aphorismen, sehr knapp, auf das Nötigste beschränkt. Diese Aphorismen dienten und dienen noch, wie eben mir heute, als ein Leitfaden für die Erklärung von Yoga. Das ist auch die Bedeutung des Sanskritwortes Sūtra: ein Faden.

An diesem Leitfaden, so wie er mir vermittelt wurde und wie ich ihn verstanden habe, orientiere ich mich, wenn ich hier über Yoga spreche.

Vom Autor kennen wir nur den Namen: Patañjali. Die Wahrnehmung dieses Textes im Rahmen der indischen Tradition ist auf eine besondere Weise zwiespältig.

Einerseits wurde das Yoga Sūtra nie Teil des Textkanons einer religiösen Bewegung. Es gibt keine Tempel für Patañjali. Kein heiliger Baum, unter dem er Erleuchtung fand. Keine Anhänger, die sich darum gestritten haben, was er wirklich gemeint hat (wohl aber gelehrte Kommentare, die sich um sein Verständnis bemühten). Keine Klöster, die für die Verbreitung seine Lehre sorgten.

Gleichzeitig finden sich viele der im Yoga Sūtra entwickelten Konzepte in unterschiedlichen Traditionen wieder. Meist lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, welchen Weg sie genommen haben: War das Yoga Sūtra (oder das Umfeld, aus dem es stammt) die Quelle der Inspiration für andere Traditionen oder ließen sich Patañjali und sein Umfeld ihrerseits von anderen Traditionen inspirieren?

Als eine autoritative Darstellung des Yoga hochgeschätzt, wurde die Sicht des Yoga Sūtra trotzdem nie zu einer dominierenden Quelle indischen Denkens, das in weiten Teilen, ganz anders als das Yoga Sūtra, zutiefst religiös geprägt ist.

Mit westlichen Augen gesehen mischen sich im Yoga Sūtra ganz unterschiedliche Ebenen miteinander: Es argumentiert bisweilen philosophisch. Etwa dort, wo über die Frage der Zeit und die Momente, die sie teilen, spekuliert wird. Es argumentiert in weiten Teilen psychologisch. So etwa, wenn mentale Prozesse, wenn Bedingungen der Wahrnehmung, oder wenn die Grundlagen von Zufriedenheit analysiert werden. Und vor allem: Es argumentiert oft ganz praktisch. Wie ein Ratgeber liest es sich dort, wo eine Vielzahl von Übungskonzepten vorgestellt und ihre Wirkung diskutiert wird. Und er enthält natürlich auch Vorstellung und Spekulationen, die den damaligen Welt- und Menschenbildern entsprechen und für uns nur von historischer Bedeutung sind.

Unser wertvollstes Potenzial entwickeln

Was nun sind die Grundideen des Yoga Sūtra? Ich sagte es schon: Es geht darum, wie wir als Menschen unsere Potenziale entwickeln können. Von allen das wertvollste Potenzial ist unsere Fähigkeit, sich der Wirklichkeit der Welt zu öffnen. Wir wissen heute: Sich der Wirklichkeit meines Gegenübers zu öffnen, ist die sicherste Grundlage für humanes Handeln. Genau das berührt das große Thema des Yoga:

  • Wie kann es mir immer besser gelingen, mich der Wirklichkeit anzunähern?
  • Was hindert mich daran, diese Wirklichkeit zu erleben?
  • Wie wir die Wirklichkeit erleben, bestimmt und formt unser jeweiliges Handeln: Ob ich einen Menschen verachte oder ihn respektiere, hängt davon ab, wie ich ihn erlebe.

Tatsächlich machen wir jeden Tag die Erfahrung, dass unser Erleben der Wirklichkeit mehr oder weniger angemessen sein kann. Wir erfahren eine Situation, einen Menschen und stellen später fest, dass unser Eindruck oberflächlich, ja manchmal vollkommen falsch war. Unser Empfinden hatte offensichtlich nur sehr bedingt etwas zu tun mit der Wirklichkeit dieser Situation, dieses Menschen. Unsere Wahrnehmung erweist sich immer wieder als der Wirklichkeit nicht angemessen.

Aber wir sind auch vertraut mit der Möglichkeit, dass wir einer Wirklichkeit näher kommen können. Eine Täuschung löst sich auf, ein Verständnis vertieft sich, eine Frage findet eine Antwort, jemand erlebt sich von uns verstanden, die Reaktion auf unser Handeln zeigt, dass unser Erleben der Wirklichkeit angemessen war.

Was ist verantwortlich für diese unterschiedlichen Möglichkeiten der Annäherung an die Wirklichkeit? Wovon hängt ab, ob wir etwas verstehen, wie wir etwas erleben? Ganz modern sagt das Yoga Sūtra: Von der Art und Weise, in der unser Geist arbeitet.

Unser Geist kann in einer Stimmung sein, welche die Annäherung an die Wirklichkeit fördert. Dann ist er ausgerichtet und zugewandt, ruhig und klar. Unser Geist kann auch in einer Stimmung sein, in der er sich dieser Annäherung verweigert: Er ist abgewandt, zerstreut, unklar.

Die Eigendynamik unseres Geistes

Der Zustand der Verweigerung gegenüber der Wirklichkeit erscheint auf den ersten Blick paradox. Scheinbar findet eine Verdrehung statt, wir täuschen uns und halten diese Täuschung für die Wirklichkeit. Es scheint, als hätten wir in diesem Moment gar keine andere Möglichkeit. Wir sind in Kontakt mit einem Gegenüber, aber unser Empfinden ist ihm gar nicht angemessen. Für uns stimmt alles so, wie wir es erleben. In Wirklichkeit sind wir jedoch einer Täuschung aufgesessen. Verantwortlich für diese Fähigkeit zur Täuschung gilt dem Yoga die Möglichkeit, ja die Fähigkeit des Geistes, in eine besondere Art der Eigendynamik zu verfallen. Der Begriff Eigendynamik beschreibt diese Art der Aktivität unseres Geistes sehr gut.

Was diesen Geisteszustand nämlich charakterisiert, ist einerseits eine hohe Dynamik. Gleichzeitig ist diese Dynamik vor allem von bestimmten eingefahrenen Mustern des Geistes dominiert. Sehr wenig gefärbt ist diese Dynamik dagegen von der Wirklichkeit.

Der Geist koppelt sich ab von der Wirklichkeit um ihn herum und speist seine Aktivität auf eine besondere Weise aus sich selbst. Die Wirklichkeit ist nur noch Impuls für diese besondere Eigendynamik, kein Korrektiv. Fremdenhass ist ein gutes Beispiel für die Funktionsweise dieser Eigendynamik. Der Geist findet keinen Zugang mehr zur Wirklichkeit und er braucht für sein Erleben diesen Zugang auch gar nicht mehr, weil er sich in dieser Eigendynamik genug ist.

Im Yoga geht es nun darum, dass unsere innere Dynamik weniger von dieser Art von Eigendynamik des Geistes als viel mehr von der Wirklichkeit geformt wird. Je mehr dies der Fall ist, umso mehr ist unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit angemessen.

Falsche Gewissheiten

Natürlich gibt es viele und andere Möglichkeiten, unseren Geist zu beschreiben und zu verstehen. Für den Yoga stehen aber genau diese zwei unterschiedlichen Arten innerer Bewegung im Mittelpunkt des Interesses:

  • Der Geist kann sich der Wirklichkeit zuwenden. Zugewandt sein. Sich ausrichten. Verstehend sein. Offenes Interesse an einer Situation, einem Gegenüber haben.
  • Der Geist kann aber auch in einer Eigendynamik gefangen sein, sich abwenden von der Wirklichkeit, in Unverständnis und selbst bezogen funktionieren.

Statt der Wirklichkeit erleben wir dann die Eigendynamik unseres Geistes. Das Fatalste daran: Wir halten die Botschaften dieser inneren Dynamik für die Wirklichkeit selbst. Es ist ein fälschliches Dafür-Halten, das sich scheinbar ohne unser Zutun einstellt und als unerschütterliche Gewissheit erlebt wird. Tatsächlich sind es solche falschen Gewissheiten, sind es unangemessene Assoziationen und Unverständnis, die diese oberflächliche Wahrnehmung prägen.

Erreicht die Eigendynamik unseres Geistes eine große Intensität, färbt sich seine Stimmung entsprechend deutlich ein. Als Ausdruck einer solchen Stimmung beschreibt das Yoga Sûtra Gefühle wie Hass oder Gier.

Das ist der Grund, warum dort Hass schließlich als negatives Gefühl gewertet wird. Nicht, weil man ein schlechter Mensch ist, wenn sich ein solches Gefühl einstellt. Sondern weil es Ausdruck einer inneren Verwirrung ist und die Fähigkeit einschränkt, Wirklichkeit zu erleben.

Der menschliche Geist ist lernfähig

Ein Zitat des Neurowissenschaftlers Gerald Hüter:

„Es ist wissenschaftlich nicht haltbar zu behaupten, dass der Mensch ein angeborenes Aggressionspotenzial ausleben müsse. Wenn man Kindern nicht zeigt, wie man auf zwei Beinen läuft, laufen sie nicht auf zwei Beinen. Komplexe Verhaltensweisen sind nicht genetisch verankert. Sie werden durch soziale Erfahrungen erworben, also anhand von Vorbildern erlernt. Wir haben die Option, einander totzuschlagen. Und wir haben auch die Option, nach gewaltfreien Lösungen unserer Konflikte zu suchen. Die Tatsache, dass dies in der Menschheitsgeschichte nicht immer versucht worden ist, ist kein Zeichen dafür, dass der Mensch von Natur aus aggressiv ist. Es zeigt nur, dass es ihm bis jetzt nicht gelungen ist, Potenziale für ein friedvolles Zusammenleben zu entfalten.

Ein Aspekt unter vielen anderen für die Entwicklung solcher Potenziale ist: Wir können lernen, uns auf ein Gegenüber einzulassen, wir können Zuwendung lernen. Die Gestaltung dieses Lernprozesses ist ein wesentliches Anliegen des Yoga.

Das Yoga Sūtra definiert Yoga als eine besondere Art von Stimmung in unserem Geist: Als Yoga gilt dort eine innere Stimmung von Zugewandtheit: Mein Geist ist ausgerichtet und ich bin in der Lage, diese Ausrichtung aufrechtzuerhalten.

Ich wende mich zu, nicht ab. Ich bin mit einem Gegenüber intensiv verbunden, nicht getrennt.

Alle Übungen des Yoga haben zuallererst dieses Ziel: Zugriff zu bekommen auf meine mentalen Prozesse und Strukturen und dieses ganz besondere, ihnen innewohnende Potenzial zur Annäherung an die Wirklichkeit zu entwickeln. Und wenn dabei Gesundheit oder körperliches Wohlbefinden thematisiert werden, dann aus dieser Perspektive: Was spielen Gesundheit und Wohlbefinden für eine Rolle für meine Möglichkeiten, meinen Geist in positiver Weise zu beeinflussen?

Hindernisse erkennen und ihnen entgegenarbeiten

Praktisch gesehen ist dieser Lernprozess immer wieder dominiert von der Auseinandersetzung mit jenen Tendenzen unseres Geistes, die einer Öffnung gegenüber der Wirklichkeit entgegenarbeiten. Wie Zuwendung und Verbindung hergestellt werden können und wie sich eine solche Stimmung aufrechterhalten lässt, hängt für das Yoga Sūtra wesentlich davon ab, in welchem Maß es gelingt, Tendenzen der Selbstbezogenheit, der Missgunst, des Noch-Mehr-Haben-Müssens an einer Dominanz unserer mentalen Prozesse zu hindern.

Die Kraft dieser Tendenzen kann kaum unterschätzt werden. Das Yoga Sūtra widmet ihrem Verständnis und der Frage eines angemessenen Umgangs mit ihnen deshalb auch viel Raum.

Tatsächlich neigt unser Geist normalerweise eher zu einem Zustand der Täuschung. Die mit Blindheit verbundenen Gefühle wie Hass, Verachtung und Eigensucht sind kein Ausnahmezustand, sondern nur allzu oft Normalität. Das Entfalten unserer positiven Potenziale ist kein naturwüchsiger Prozess.

Die wahre Natur unseres Geistes ist nicht Klarheit, sondern Ambivalenz.

Das ist die schlechte Nachricht. Die gute: Unser Potenzial, mithilfe unseres Geistes Verständnis zu entwickeln, ist groß und kann einem Menschen kaum wirklich verloren gehen.

Und die beste Nachricht: Wir können die positiven Möglichkeiten unseres Geistes durch eigenes Bemühen entwickeln. Wir können sie durch einen Lernprozess fördern, in dem wir uns neue Muster und Gewohnheiten erarbeiten.

Das ist der Kern des Angebots, das im Yoga Sūtra als Übungsweg vorgeschlagen wird. In unserem Geist etablieren, die seine Grundstimmung verändern. Muster, auf Grund derer wir die Wirklichkeit eher so erleben wie sie ist und weniger so wie wir sie uns vorstellen, oder wie wir sie gerne hätten oder gerade brauchen oder wie uns jemand anderes glauben gemacht hat, dass sie ist.

Wenn wir also über die Menschlichkeit in uns reflektieren, dann müssen wir vor allem auch im Blick behalten, was der Entwicklung dieser Menschlichkeit entgegensteht. Was braucht es, damit ein Mensch einen anderen verletzt?

Unmenschlichkeit

Einem Menschen Leid zuzufügen, bedarf einer wesentlichen Voraussetzung. Wer Leid zufügt, muss sich innerlich von dem betroffenen Gegenüber abgewandt haben. Ob wir jemanden mit Worten verletzen, ob wir ihn verachten, ob wir ihn seiner Würde berauben, ob wir ihm körperlichen Schmerz zufügen. Wir haben das Gefühl für die Realität unseres Gegenübers verloren. Wir öffnen uns nicht für das, was hier und jetzt seine Wirklichkeit ausmacht.

Je mehr wir den Respekt vor einem anderen Menschen verlieren, je mehr wir seine Würde oder gar sein Leben missachten, desto mehr muss unser Geist die Wirklichkeit dieses Menschen ersetzen durch eine Wirklichkeit von ihm, die wir uns selbst erschaffen.

Es gibt viele wissenschaftliche Untersuchungen, in denen die Gültigkeit und Bedeutung solcher Mechanismen aufgezeigt wurde. Das gilt für extreme Situationen von Grausamkeit ebenso wie für unser alltägliches Unvermögen, zugewandt und verständig zu sein.

Yoga: Neue Gewohnheiten erarbeiten

Was nun braucht es, dem Geist neue Gewohnheiten zu vermitteln? Einmal braucht es Üben. Ausrichtung kann gelernt werden. Dafür stellt der Yoga ein differenziertes und bewährtes Instrumentarium zur Verfügung.

Dann braucht es eine Auseinandersetzung mit und Wachheit gegenüber jenen Neigungen unseres Geistes, die ihn daran hindern, sein Potenzial zu entwickeln, Wirklichkeit zu erleben. Sich-Selbst-Näher-Kommen nennt das Yoga Sūtra diese Aufgabe an einer Stelle. Und schließlich braucht es gute Rahmenbedingungen, damit dieser Lernprozess erfolgreich sein kann. Dazu gehört etwa das Training einer Haltung, die möglichst gelassen bleibt angesichts der Erfolge und Misserfolge auf dem Weg.

Dazu gehört, über unterschiedliche Strategien zu verfügen, wie der negativen Dynamik des Geistes begegnet werden kann. Das bedeutet praktisch vor allem auch: Ein Gefühl dafür entwickeln, wann jene schon angesprochene negative Eigendynamik beginnt, meinen Geist zu dominieren. Und welche Lösungen für einen Menschen auch wirklich tragen und nicht nur aufgesetzter Anspruch bleiben, wie es manchmal dem Bedürfnis nach mehr Mitgefühl widerfährt.

Dazu gehört auch, immer besser innehalten zu können, um dieser Dynamik nicht unmittelbar ausgeliefert zu sein. Dazu gehört auch die Auseinandersetzung mit dem Rahmen, in dem mein Leben organisiert und mein Geist agieren muss. Wo alle in meiner Umgebung die Erniedrigung eines Menschen gutheißen, wird sich ein anderes Muster in meinem Geist nur schwer etablieren können.

Und natürlich spricht das Yoga Sūtra über das Wie des eigentlichen Übens und sagt: Zugriff auf unseren Geist im Üben finden wir über den Körper, den Atem und Übungen, die unmittelbar mit dem Geist arbeiten, die Meditation. Mit ihrer Hilfe lassen sich neue Muster, neue Gewohnheiten unterstützen.

Das also ist der Hintergrund auf dem die Übungen des Yoga in seinem Selbstverständnis ihren Platz finden.

Wir können mit ihrer Hilfe lernen, mehr in einer inneren Stimmung durchs Leben zu gehen, in der wir uns der Wirklichkeit vor uns zuwenden. Sie in dem Maße als Wirklichkeit zu erleben, wie es uns als Menschen eben möglich ist. Der Yoga behauptet, dass die Entwicklung dieser Fähigkeit zur Ausrichtung, zur Verbindung mit unserem Gegenüber uns zuletzt auch glücklicher macht.

Danke für Ihre Aufmerksamkeit.

Diskussion

Frage: Können Sie noch etwas mehr zum Yoga Sūtra sagen? Gibt es Übersetzungen? Ergibt es Sinn, das einfach so zu lesen, wenn die Verse doch so knapp sind wie Sie beschrieben haben?

Antwort: Wir wissen tatsächlich sehr wenig über die Entstehungsgeschichte des Yoga Sūtra, für indische Texte übrigens keine Besonderheit. Auch über den Autor, Patañjali, ist uns so gut wie nichts bekannt. Einmal abgesehen davon, dass sich um seine Person natürlich einige Legenden ranken. Wir wissen nicht einmal sicher, ob das Yoga Sūtra in einem Guss entstand oder über Jahrzehnte oder Jahrhunderte hinweg unter unterschiedlichen Autoren gewachsen ist. Ich sagte es schon: Was mit unserem Blick von außen auf die Geschichte dieses Textes auffällt, ist sein besonderer Charakter in der indischen Ideengeschichte. Seine Zwiespältigkeit, einerseits immer randständig geblieben zu sein und andererseits doch von einigem Einfluss und respektiert. Ganz anders etwa die viel berühmtere und allseits anerkannte Bhagavad Gītā, die zu einer ähnlichen Zeit entstanden ist und ebenfalls vom Yoga handelt. Sie steht in der Mitte indischen Denkens und sie ist zutiefst religiös geprägt. Religiosität ist auch der wesentliche Moment des Hauptstroms der indischen Tradition. Dieser Hauptstrom indischer Weltanschauung und indischen Lebens drückt sich in dem aus, was man heute Hinduismus nennt: Eine religiöse Bewegung von großer Vielfalt, welche die indische Gesellschaft bis heute prägt und ihr Identität gibt. Und Texte wie die Bhagavad Gītā geben dem Ausdruck. Nicht so das Yoga Sūtra. Aber dennoch: Ohne dem Gesamtkonzept des Yoga Sūtra zu folgen, wurden über die Jahrhunderte die dort entwickelten Konzepte immer wieder genutzt. Das gilt auch für den Hinduismus in seinen vielfältigen Ausformungen. Mehr Gemeinsamkeiten mit dem Yoga Sūtra lassen sich übrigens im Vergleich mit buddhistischen Praktiken und Konzepten finden, gleichzeitig gibt es aber auch hier gravierende Unterschiede. Trotz großer Ablehnung in seiner Gesamtheit, etwa was sein Menschenbild angeht, blieben die Konzepte des Yoga Sūtra also lebendig und wurden auf vielfältige Weise in unterschiedliche, eben religiöse Zusammenhänge integriert. Und dies, obwohl dem Yoga Sūtra selbst jede religiöse Ambition fehlt. Das hatte unter anderem Eines zur Folge. Als die Übungen des Yoga aus Indien in den Westen kamen, geschah das nicht eingebettet in die Konzepte des Yoga Sūtra. Yoga wurde und wird auch heute in Indien noch überwiegend, vermittelt von Lehrern mit hinduistischer Prägung. Für sie war und ist dies übrigens keine bewusste Verfälschung des Yoga, sondern ein Umgang mit Yoga, der die indische Tradition insgesamt stark prägt. Sich widersprechende Positionen, Methoden oder Anschauungen werden vereinnahmt, statt in ihrer Unterschiedlichkeit betont und kontrovers diskutiert.
Was Ihre Frage nach den Übersetzungen des Yoga Sūtra angeht: Zurzeit gibt es keine wirklich befriedigende Übersetzung, und ich bezweifle, dass es eine richtige Übersetzung dieses Textes überhaupt geben kann. Das liegt an dem besonderen Charakter solcher Sūtrentexte, deren Verse mehr als Überschriften, denn als ein wohl ausformuliertes Lehrgebäude zu verstehen sind. Schon eine wörtliche Übertragung ist nicht einfach, weil viele der dort benutzten Begriffe über ein recht großes Bedeutungsspektrum verfügen. Aber mit einer wörtlichen Übersetzung fängt der interessante Teil einer Übertragung des Yoga Sūtra in einen für uns heute lesbaren und relevanten Text eigentlich erst an. Am meisten Bedarf zur Erläuterung und Diskussion ergibt sich nämlich anhand solcher Fragen: Wie ist es denn genau gemeint, wenn im Yoga Sūtra von einem ruhigen und klaren Geist die Rede ist? Was konkret ist gemeint, wenn dort über innere Strukturen gesprochen wird, die diesen Geist trüben können? Welche Erfahrung wird beschrieben, wenn davon die Rede ist, ganz Eines zu sein mit einem Gegenüber? Was ist gemeint, wenn dort Freiheit versprochen wird? Viele der verfügbaren Übersetzungen, ebenso wie traditionelle und neue Kommentare zum Yoga Sūtra sind hier wenig hilfreich. Heute dominieren noch immer Übersetzungen, die sehr stark von einem Herangehen geprägt sind, die im Yoga Sūtra einen philosophischen Text sehen, der über die Beschaffenheit der Welt an sich spekuliert. Oder das Yoga Sūtra als einen Text lesen, der von besonderen Geisteszuständen berichtet, die sich bei genauerem Betrachten als jenseits von allem menschenmöglichen Erleben erweisen. Dem Yoga Sūtra wird das nicht gerecht.
Ich verstehe das Yoga Sūtra viel mehr als eine Landkarte, die Orientierung geben kann für Erfahrungen, die jemandem beim Beschreiten dieses Übungswegs begegnen. Und für einen Menschen, der sich mit sich selbst auseinandersetzt. Der sich besser verstehen möchte. Der seinen Geist in ganz unterschiedlicher Qualität erlebt und dafür nach Erklärung und vor allem auch nach positiver Veränderung sucht. Als solch eine Landkarte wurde mir das Yoga Sūtra vermittelt und in meiner täglichen Arbeit mit den Menschen, die zu uns zum Erlernen von Yoga kommen, wie auch für mich persönlich hat es sich als eine solche Landkarte bisher bestens bewährt. Wenn Sie sich mit einem solchen Verständnis des Yoga Sūtra bekannt machen wollen, empfehle ich Ihnen: Freiheit und Meditation von TKV. Desikachar, erschienen im Via Nova Verlag. Es ist keine Übersetzung, sondern eine Übertragung des Yoga Sūtra in einer Weise, die anregt zur Reflexion und, wie ich finde, Lust macht auf Yoga.

Frage: Kann man denn Wirklichkeit überhaupt erkennen? Ist das nicht ein vollkommen unrealistischer Anspruch: Die Wirklichkeit erleben? Ist Wirklichkeit für uns Menschen denn nicht immer nur begrenzt wahrnehmbar?

Antwort: Gut, dass Sie hier noch einmal nachfragen. Natürlich können wir die Wirklichkeit nicht unabhängig von unserem Geist erleben. Wir erleben sie vielmehr so, wie sie uns mithilfe unseres Geistes vermittelt wird. Aber es gibt eine Wirklichkeit, unabhängig von ihm. Wenn ich sage, im Yoga geht es darum, sich der Wirklichkeit zu öffnen, dann ist dies nicht in einem ontologischen Sinn gemeint. Es geht nicht um die Wirklichkeit schlechthin, nicht um die Frage, was Wirklichkeit ist. Das Yoga Sūtra lässt allerdings keinen Zweifel daran, dass eine Wirklichkeit auch unabhängig von unserem Geist vorhanden ist. Sie ist nicht bloße Illusion, die uns unser Geist vorgaukelt. Die eigentliche Frage des Yoga Sūtra lautet: Was ist die Wirklichkeit meines Gegenübers, wenn mein Geist alle seine Möglichkeiten ausgeschöpft hat, dieser Wirklichkeit gewahr zu werden? Dabei ist das ganze Setting des Yogas darauf angelegt, auf spezifische Fragen, spezifische Antworten zu erhalten. Also:

  • Wie kann ich mich auf etwas ausrichten und die Betonung liegt dabei auf Etwas?
  • Wie kann ich in Verbindung mit Etwas gehen?
  • Wie kann die Verbindung mit einem Gegenüber immer intensiver werden?

Dieses Gegenüber kann mein Körper sein, mein Atem, eine Frage, ein Konzept, eine Vision, ein Mensch. Es geht also darum, angesichts eines Gegenübers, sei es ein Mensch, sei es eine Situation, seien es wir selbst, das uns zur Verfügung stehende Potenzial zur Annäherung an die Wirklichkeit möglichst vollkommen auszuschöpfen.

Ich sprach schon von der allgegenwärtigen Erfahrung, dass sich das Erleben, etwa von einem Menschen, schließlich als falsch erweist. Als diesem Menschen nicht angemessen, dem, was er dachte, wollte, sagte, was er tat. Und davon, dass sich ein solch falsches Verständnis auch auflösen kann. Im positiven Fall wird es ersetzt durch ein Erleben, das näher an der Wirklichkeit ist. Aspekte, die uns vorher entgangen sind oder nicht zugänglich waren, können sich nun offenbaren. Wir erleben etwas anders, es fühlt sich anders an, wir verstehen unser Gegenüber, eine Situation, ein Problem besser. Unser Potenzial, sich der Wirklichkeit anzunähern, hat sich mehr entfaltet.

Die Frage nach dem Wesen der Wirklichkeit an sich wird so im Yoga Sūtra also gar nicht gestellt. Ausgangspunkt ist vielmehr die Erfahrung, dass uns Menschen offensichtlich ein Erleben möglich ist, das näher oder weiter weg ist von der Wirklichkeit, die uns umgibt und zu der wir selbst gehören. Und dass wir den Weg der Annäherung an die Wirklichkeit in diesem Sinn sehr viel weitergehen können, als der Normalzustand unseres Geistes uns glauben macht. Wir verkennen oft, wie sehr dieser Normalzustand davon geprägt ist, dass unser Geist seinen Gewohnheiten und Mustern überlassen bleibt. Und diese Gewohnheiten liegen in der Regel weit unter seinen eigentlichen Möglichkeiten.

Die Möglichkeit des Verstehen-Könnens, die dem Yoga so am Herzen liegt, kann sich dabei nur im Zusammenhang mit einer bestimmten Wirklichkeit entfalten. In einer bestimmten Situation. In engem Kontakt mit einem bestimmten Gegenüber. Immer wieder aufs Neue. Dieses Verständnis hat eine wichtige Konsequenz, die im Yoga Sūtra auch entsprechend akzeptiert wird. Wenn ich der Wirklichkeit des Nachbarn über mir näher gekommen bin, heißt das nicht, dass dies auch für die Wirklichkeit des Nachbars unter mir gilt. Ich finde auch in der Meditation nicht die eine Wahrheit. Aber je öfter es mir gelingt, die Hindernisse zu überwinden, die mir ein Erleben der Wirklichkeit in diesem Sinne verstellen, desto größer die Chancen, dass sich dies in einer neuen Grundstimmung meines Geistes niederschlägt:

Einer Stimmung von Zuwendung, von Interesse, von Verbinden wollen, von sich verbunden fühlen, von Verstehen wollen, von größerer Fähigkeit zu verstehen.

Mich erfolgreich um ein Verständnis meines Nachbarn bemüht zu haben, hilft, mich der Wirklichkeit des Nachbarn unter mir schneller, sicherer und einfacher zu öffnen. Und es hilft mir, ein Verständnis zu entwickeln, das über meine beiden Nachbarn hinausgeht. Etwa jenes, dass die Welt und ich um mich herum in enger Verbindung sind und der Glaube, ich wäre ihr Mittelpunkt, eine Täuschung ist.

Das Yoga Sūtra beschreibt die Annäherung an ein Stück Wirklichkeit im Kontext der Darlegung des Prozesses der Meditation als eine komplexe und vielschichtige Entwicklung. Und vielleicht wird dort etwas zu optimistisch beurteilt, wie weit dieser Weg der Annäherung an eine Wirklichkeit tatsächlich gegangen werden kann. Wenn uns intensivste Ausrichtung möglich ist, so heißt es dort nämlich, dann ließe sich durch die so hergestellte enge Verbindung, das Eins-Sein mit etwas, sowohl das Kleinste als auch das Größte verstehen.

Frage: Mir schwirrt oft der Kopf, wenn ich daran denke, immer und überall Mitgefühl entwickeln zu müssen. Als ständiger Anspruch nimmt mir das oft eher die Luft zum Atmen, als dass er mich wirklich offen macht. Wie kann ich damit umgehen?

Antwort: Ihre Frage thematisiert ein wichtiges Problem, das sich immer dann stellt, wenn es darum geht, unsere Denkmuster verändern zu wollen. Wie lässt sich unser Geist effektiv beeinflussen? Wie können positive Muster zu einer neuen Gewohnheit werden, auf die wir auch in schwierigen Situationen zurückgreifen können? Im Yoga Sūtra werden diese Fragen mit der Diskussion von zwei ganz unterschiedlichen Strategien angegangen.

Der Ausgangspunkt der ersten Strategie ist die Überzeugung, dass Mitgefühl eine Stimmung unseres Geistes ausdrückt, die durchweg positiv zu beurteilen ist. Positiv erst einmal einfach in dem Sinne: Wir sind lieber unter Menschen, die uns mit Mitgefühl begegnen, als unter Menschen, die uns verachten.

Und weiter: Wir haben einen direkten Zugriff auf unsere innere Stimmung. Wir machen immer wieder die Erfahrung, dass sich unser Geist an die Hand nehmen und zu einer bestimmten Stimmung führen lässt. Das gelingt bekanntermaßen in beiden Richtungen. Wenn ich jemanden nur ordentlich laut und lange genug anschreie, kann ich, wenn ich mich darauf einlasse, eine immer aggressivere Stimmung in mir erzeugen. Und ich kann mich umgekehrt bemühen, ein Gefühl von Mitgefühl zu entwickeln, und dieses Bemühen kann tatsächlich dazu führen, in eine andere, bessere Stimmung zu geraten. Letzteres immer wieder einzuüben, gleichsam zu trainieren wie ein Geigenspiel, ist wahrlich eine bewährte Möglichkeit, meinen Geist zu verändern. Aber wie jede Strategie ist auch diese nicht immer Erfolg versprechend, nicht immer angemessen und sie hat tatsächlich ganz offensichtliche Mängel. Zwei davon möchte ich ansprechen und damit auch zu Ihrer Frage kommen.

Der eine Mangel besteht darin, dass es überhaupt nicht ausgemacht ist, ob ich aus einer Stimmung des Mitfühlens heraus auch so handle, dass mein Gegenüber sich tatsächlich angenommen fühlt. Ob also mein Mitgefühl zu einem angemessenen Handeln führt. So kann es mir passieren, dass ich aus Mitgefühl einen Rollstuhlfahrer kurzerhand über ein schwieriges Wegstück schiebe, er sich dadurch in seinen Bedürfnissen aber überhaupt nicht wahrgenommen, sondern bevormundet fühlt. Mein Mitgefühl war echt, aber ich habe die Situation nicht verstanden.

Den anderen Mangel, der sich mit dem Bemühen um das Herstellen von Mitgefühl verbinden kann, haben Sie in Ihrer Frage selbst angesprochen. Er betrifft den Unterschied zwischen Üben und Alltag. Mitgefühl üben lässt sich am einfachsten in der Stille meines Übungsraumes. Ich bin nach innen, auf meine Gefühle ausgerichtet. Kein böses Wort, keine Bedrohung, keine Notwendigkeit zu handeln, triggert die Eigendynamik meines Geistes. Und ein solches Üben macht durchaus Sinn. Es hilft, diese Stimmung in mir zu bahnen, den Geist daran zu gewöhnen, auf diese Weise zu agieren. Und die Hoffnung, dass sich dieses Muster auch im Alltag abrufen lässt, ist berechtigt. Aber der Alltag erfordert Mitgefühl in einem ganz anderen Zusammenhang. Er verlangt Mitgefühl im Zusammenhang mit der Zuwendung zu einem Gegenüber in hochdynamischen, komplexen und unterschiedlichsten Zusammenhängen und Situationen. Nicht Selbstbezug ist hier wichtig, sondern die Situation, die ich erlebe. Keine Innenschau, sondern Verbundenheit mit meinem Gegenüber ist gefragt. Je mehr es mir gelingt, in dieser Verbindung zu bleiben, umso weniger bieten sich meinem Geist Chancen, in seine destruktive Eigendynamik zu verfallen. Ich lebe meine Qualität als Mensch am intensivsten, ich bin dann am meisten bei mir, wenn ich mich der Welt öffnen kann, auf sie zugehe, sie verstehe.

Mir hat einmal jemand beschrieben, wie er versucht, seine Meditationspraxis in den Alltag zu integrieren. Dieser Transfer bestand hauptsächlich darin, sich immer wieder des eigenen Atems bewusst zu werden. Das war auch Teil seiner täglichen Meditationspraxis. Wann immer er sich im Alltag daran erinnerte, versuchte er, den Fluss seines Atems zu spüren. Ich fragte ihn, wie er sich fühlen würde, wenn er wüsste, dass jemand, mit dem er gerade ein wichtiges und intensives Gespräch führt, einen Großteil der Zeit damit verbringen würde, auf seinen Atem zu achten. Die Antwort war einfach: Er würde sich nicht sehr wahrgenommen fühlen.

Wenn ich auf meinen Atem achte, wende ich mich von meinem Gegenüber ab. Das kann auch gelten, wenn ich versuche, Mitgefühl zu entwickeln. Und wenn Sie sagen, dass Ihnen manchmal der Kopf schwindelt bei diesem Bemühen, dann drücken Sie genau diesen Widerspruch aus. Einerseits geht es beim Mitgefühl um mein Gegenüber. Aber einfach Mitgefühl von sich zu fordern, kann auch dazu führen, dass ich mich hauptsächlich um mich selbst kümmere. So positiv dieses Gefühl auch ist, wir brauchen einen angemessenen Umgang damit. Interessant ist die Art und Weise, wie im Yoga Sūtra dieses Thema eingeführt wird. Die Ausrichtung auf positive Gefühle wie Mitgefühl (karūna) oder auch Mitfreude (mudīta) wird dort ins Spiel gebracht, wo nach Lösungen für eine Situation gesucht wird, in der unser Geist in großer Unklarheit ist. Es ist der Vorschlag für eine erfolgreiche Krisenintervention: Einem unklaren Geist ist eben nicht viel Positives zuzutrauen.

Deshalb der Vorschlag, nicht lange zu zögern, sondern in dieser Dunkelheit ein helles Licht anzuzünden. Dazu braucht es zuerst: Ein Gespür für die Dynamik meines Geistes, und ich muss, wenn nötig, innehalten können. Beides kann gelernt werden.

Zweitens benötige ich eine klare Anweisung, was zu tun ist, einen klar formulierten Fokus, auf den ich mich jetzt ausrichte. (Im Yoga Sūtra wird ein solcher Fokus bhāvana genannt). Deshalb sind die Vorschläge auch sehr konkret. Nicht Mitgefühl überall und immer entwickeln; der Vorschlag des Yoga Sūtra lautet vielmehr: Entwickle Mitgefühl angesichts eines Menschen, der leidet. Ein in Unklarheit gefangener Geist neigt nämlich zu einer ganz anderen Stimmung: Selbst ist er schuld, es wird schon nicht so schlimm sein, nun ist aber genug …

Dieser Tendenz eines mit Blindheit geschlagenen Geistes etwas entgegenzusetzen ist das Ziel einer solchen Intervention und des inneren Appells: Mitgefühl, das wäre eigentlich das angemessene Gefühl diesem Menschen gegenüber! Würdest Du ihn nur verstehen, es würde sich Mitgefühl in Dir einstellen.

Das Gleiche gilt für Mitfreude: Nicht Neid und Missgunst sind angemessen, wenn sich jemand über etwas freut, sondern eben Mitfreude. Als solche sehr spezifische Krisenintervention ist das Bemühen um Mitgefühl ein mächtiges Werkzeug, besser mit uns und der Welt umzugehen und sich darin glücklicher zu fühlen. Aber es ist eben kein Allheilmittel.

Das zentrale Anliegen des Yoga Sūtra ist eine Veränderung der Muster unseres Geistes hin zu einer Stimmung der Zugewandtheit. Als schwierigste Aufgabe wird erkannt, Strategien zu entwickeln, mit deren Hilfe diese Stimmung auch unter widrigen Umständen aufrechterhalten werden kann. Aus dieser Stimmung entwickelt sich ein tiefes Verständnis eines Gegenübers. Dieses Verständnis kann sich in Mitgefühl ausdrücken, wenn dieses Gegenüber leidet. Aber auch in ganz anderen Gefühlen. So etwa in Mitfreude, wenn sich unser Gegenüber freut. Aber auch in einem Gefühl, das uns hilft, einen kühlen Kopf zu bewahren, uns nicht provozieren zu lassen und angemessen zu reagieren, wenn sich dieses Gegenüber menschenverachtend verhält.

Der Yoga versteht auch ein solches Gefühl (es wird dort upekṣa genannt) ausdrücklich als positiv und, in einer entsprechenden Situation, als Ausdruck eines tiefen Verständnisses. Ratschläge also, die unser positives Gefühlsleben auf eine einzige Kategorie wie die des Mitgefühls reduzieren wollen, sind gerade auch im Zusammenhang mit der Entwicklung eines menschlichen Miteinanders wenig sinnvoll. ▼

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