Diskussion
Frage: Können Sie noch etwas mehr zum Yoga Sūtra sagen? Gibt es Übersetzungen? Ergibt es Sinn, das einfach so zu lesen, wenn die Verse doch so knapp sind wie Sie beschrieben haben?
Antwort: Wir wissen tatsächlich sehr wenig über die Entstehungsgeschichte des Yoga Sūtra, für indische Texte übrigens keine Besonderheit. Auch über den Autor, Patañjali, ist uns so gut wie nichts bekannt. Einmal abgesehen davon, dass sich um seine Person natürlich einige Legenden ranken. Wir wissen nicht einmal sicher, ob das Yoga Sūtra in einem Guss entstand oder über Jahrzehnte oder Jahrhunderte hinweg unter unterschiedlichen Autoren gewachsen ist. Ich sagte es schon: Was mit unserem Blick von außen auf die Geschichte dieses Textes auffällt, ist sein besonderer Charakter in der indischen Ideengeschichte. Seine Zwiespältigkeit, einerseits immer randständig geblieben zu sein und andererseits doch von einigem Einfluss und respektiert. Ganz anders etwa die viel berühmtere und allseits anerkannte Bhagavad Gītā, die zu einer ähnlichen Zeit entstanden ist und ebenfalls vom Yoga handelt. Sie steht in der Mitte indischen Denkens und sie ist zutiefst religiös geprägt. Religiosität ist auch der wesentliche Moment des Hauptstroms der indischen Tradition. Dieser Hauptstrom indischer Weltanschauung und indischen Lebens drückt sich in dem aus, was man heute Hinduismus nennt: Eine religiöse Bewegung von großer Vielfalt, welche die indische Gesellschaft bis heute prägt und ihr Identität gibt. Und Texte wie die Bhagavad Gītā geben dem Ausdruck. Nicht so das Yoga Sūtra. Aber dennoch: Ohne dem Gesamtkonzept des Yoga Sūtra zu folgen, wurden über die Jahrhunderte die dort entwickelten Konzepte immer wieder genutzt. Das gilt auch für den Hinduismus in seinen vielfältigen Ausformungen. Mehr Gemeinsamkeiten mit dem Yoga Sūtra lassen sich übrigens im Vergleich mit buddhistischen Praktiken und Konzepten finden, gleichzeitig gibt es aber auch hier gravierende Unterschiede. Trotz großer Ablehnung in seiner Gesamtheit, etwa was sein Menschenbild angeht, blieben die Konzepte des Yoga Sūtra also lebendig und wurden auf vielfältige Weise in unterschiedliche, eben religiöse Zusammenhänge integriert. Und dies, obwohl dem Yoga Sūtra selbst jede religiöse Ambition fehlt. Das hatte unter anderem Eines zur Folge. Als die Übungen des Yoga aus Indien in den Westen kamen, geschah das nicht eingebettet in die Konzepte des Yoga Sūtra. Yoga wurde und wird auch heute in Indien noch überwiegend, vermittelt von Lehrern mit hinduistischer Prägung. Für sie war und ist dies übrigens keine bewusste Verfälschung des Yoga, sondern ein Umgang mit Yoga, der die indische Tradition insgesamt stark prägt. Sich widersprechende Positionen, Methoden oder Anschauungen werden vereinnahmt, statt in ihrer Unterschiedlichkeit betont und kontrovers diskutiert.
Was Ihre Frage nach den Übersetzungen des Yoga Sūtra angeht: Zurzeit gibt es keine wirklich befriedigende Übersetzung, und ich bezweifle, dass es eine richtige Übersetzung dieses Textes überhaupt geben kann. Das liegt an dem besonderen Charakter solcher Sūtrentexte, deren Verse mehr als Überschriften, denn als ein wohl ausformuliertes Lehrgebäude zu verstehen sind. Schon eine wörtliche Übertragung ist nicht einfach, weil viele der dort benutzten Begriffe über ein recht großes Bedeutungsspektrum verfügen. Aber mit einer wörtlichen Übersetzung fängt der interessante Teil einer Übertragung des Yoga Sūtra in einen für uns heute lesbaren und relevanten Text eigentlich erst an. Am meisten Bedarf zur Erläuterung und Diskussion ergibt sich nämlich anhand solcher Fragen: Wie ist es denn genau gemeint, wenn im Yoga Sūtra von einem ruhigen und klaren Geist die Rede ist? Was konkret ist gemeint, wenn dort über innere Strukturen gesprochen wird, die diesen Geist trüben können? Welche Erfahrung wird beschrieben, wenn davon die Rede ist, ganz Eines zu sein mit einem Gegenüber? Was ist gemeint, wenn dort Freiheit versprochen wird? Viele der verfügbaren Übersetzungen, ebenso wie traditionelle und neue Kommentare zum Yoga Sūtra sind hier wenig hilfreich. Heute dominieren noch immer Übersetzungen, die sehr stark von einem Herangehen geprägt sind, die im Yoga Sūtra einen philosophischen Text sehen, der über die Beschaffenheit der Welt an sich spekuliert. Oder das Yoga Sūtra als einen Text lesen, der von besonderen Geisteszuständen berichtet, die sich bei genauerem Betrachten als jenseits von allem menschenmöglichen Erleben erweisen. Dem Yoga Sūtra wird das nicht gerecht.
Ich verstehe das Yoga Sūtra viel mehr als eine Landkarte, die Orientierung geben kann für Erfahrungen, die jemandem beim Beschreiten dieses Übungswegs begegnen. Und für einen Menschen, der sich mit sich selbst auseinandersetzt. Der sich besser verstehen möchte. Der seinen Geist in ganz unterschiedlicher Qualität erlebt und dafür nach Erklärung und vor allem auch nach positiver Veränderung sucht. Als solch eine Landkarte wurde mir das Yoga Sūtra vermittelt und in meiner täglichen Arbeit mit den Menschen, die zu uns zum Erlernen von Yoga kommen, wie auch für mich persönlich hat es sich als eine solche Landkarte bisher bestens bewährt. Wenn Sie sich mit einem solchen Verständnis des Yoga Sūtra bekannt machen wollen, empfehle ich Ihnen: Freiheit und Meditation von TKV. Desikachar, erschienen im Via Nova Verlag. Es ist keine Übersetzung, sondern eine Übertragung des Yoga Sūtra in einer Weise, die anregt zur Reflexion und, wie ich finde, Lust macht auf Yoga.
Frage: Kann man denn Wirklichkeit überhaupt erkennen? Ist das nicht ein vollkommen unrealistischer Anspruch: Die Wirklichkeit erleben? Ist Wirklichkeit für uns Menschen denn nicht immer nur begrenzt wahrnehmbar?
Antwort: Gut, dass Sie hier noch einmal nachfragen. Natürlich können wir die Wirklichkeit nicht unabhängig von unserem Geist erleben. Wir erleben sie vielmehr so, wie sie uns mithilfe unseres Geistes vermittelt wird. Aber es gibt eine Wirklichkeit, unabhängig von ihm. Wenn ich sage, im Yoga geht es darum, sich der Wirklichkeit zu öffnen, dann ist dies nicht in einem ontologischen Sinn gemeint. Es geht nicht um die Wirklichkeit schlechthin, nicht um die Frage, was Wirklichkeit ist. Das Yoga Sūtra lässt allerdings keinen Zweifel daran, dass eine Wirklichkeit auch unabhängig von unserem Geist vorhanden ist. Sie ist nicht bloße Illusion, die uns unser Geist vorgaukelt. Die eigentliche Frage des Yoga Sūtra lautet: Was ist die Wirklichkeit meines Gegenübers, wenn mein Geist alle seine Möglichkeiten ausgeschöpft hat, dieser Wirklichkeit gewahr zu werden? Dabei ist das ganze Setting des Yogas darauf angelegt, auf spezifische Fragen, spezifische Antworten zu erhalten. Also:
- Wie kann ich mich auf etwas ausrichten und die Betonung liegt dabei auf Etwas?
- Wie kann ich in Verbindung mit Etwas gehen?
- Wie kann die Verbindung mit einem Gegenüber immer intensiver werden?
Dieses Gegenüber kann mein Körper sein, mein Atem, eine Frage, ein Konzept, eine Vision, ein Mensch. Es geht also darum, angesichts eines Gegenübers, sei es ein Mensch, sei es eine Situation, seien es wir selbst, das uns zur Verfügung stehende Potenzial zur Annäherung an die Wirklichkeit möglichst vollkommen auszuschöpfen.
Ich sprach schon von der allgegenwärtigen Erfahrung, dass sich das Erleben, etwa von einem Menschen, schließlich als falsch erweist. Als diesem Menschen nicht angemessen, dem, was er dachte, wollte, sagte, was er tat. Und davon, dass sich ein solch falsches Verständnis auch auflösen kann. Im positiven Fall wird es ersetzt durch ein Erleben, das näher an der Wirklichkeit ist. Aspekte, die uns vorher entgangen sind oder nicht zugänglich waren, können sich nun offenbaren. Wir erleben etwas anders, es fühlt sich anders an, wir verstehen unser Gegenüber, eine Situation, ein Problem besser. Unser Potenzial, sich der Wirklichkeit anzunähern, hat sich mehr entfaltet.
Die Frage nach dem Wesen der Wirklichkeit an sich wird so im Yoga Sūtra also gar nicht gestellt. Ausgangspunkt ist vielmehr die Erfahrung, dass uns Menschen offensichtlich ein Erleben möglich ist, das näher oder weiter weg ist von der Wirklichkeit, die uns umgibt und zu der wir selbst gehören. Und dass wir den Weg der Annäherung an die Wirklichkeit in diesem Sinn sehr viel weitergehen können, als der Normalzustand unseres Geistes uns glauben macht. Wir verkennen oft, wie sehr dieser Normalzustand davon geprägt ist, dass unser Geist seinen Gewohnheiten und Mustern überlassen bleibt. Und diese Gewohnheiten liegen in der Regel weit unter seinen eigentlichen Möglichkeiten.
Die Möglichkeit des Verstehen-Könnens, die dem Yoga so am Herzen liegt, kann sich dabei nur im Zusammenhang mit einer bestimmten Wirklichkeit entfalten. In einer bestimmten Situation. In engem Kontakt mit einem bestimmten Gegenüber. Immer wieder aufs Neue. Dieses Verständnis hat eine wichtige Konsequenz, die im Yoga Sūtra auch entsprechend akzeptiert wird. Wenn ich der Wirklichkeit des Nachbarn über mir näher gekommen bin, heißt das nicht, dass dies auch für die Wirklichkeit des Nachbars unter mir gilt. Ich finde auch in der Meditation nicht die eine Wahrheit. Aber je öfter es mir gelingt, die Hindernisse zu überwinden, die mir ein Erleben der Wirklichkeit in diesem Sinne verstellen, desto größer die Chancen, dass sich dies in einer neuen Grundstimmung meines Geistes niederschlägt:
Einer Stimmung von Zuwendung, von Interesse, von Verbinden wollen, von sich verbunden fühlen, von Verstehen wollen, von größerer Fähigkeit zu verstehen.
Mich erfolgreich um ein Verständnis meines Nachbarn bemüht zu haben, hilft, mich der Wirklichkeit des Nachbarn unter mir schneller, sicherer und einfacher zu öffnen. Und es hilft mir, ein Verständnis zu entwickeln, das über meine beiden Nachbarn hinausgeht. Etwa jenes, dass die Welt und ich um mich herum in enger Verbindung sind und der Glaube, ich wäre ihr Mittelpunkt, eine Täuschung ist.
Das Yoga Sūtra beschreibt die Annäherung an ein Stück Wirklichkeit im Kontext der Darlegung des Prozesses der Meditation als eine komplexe und vielschichtige Entwicklung. Und vielleicht wird dort etwas zu optimistisch beurteilt, wie weit dieser Weg der Annäherung an eine Wirklichkeit tatsächlich gegangen werden kann. Wenn uns intensivste Ausrichtung möglich ist, so heißt es dort nämlich, dann ließe sich durch die so hergestellte enge Verbindung, das Eins-Sein mit etwas, sowohl das Kleinste als auch das Größte verstehen.
Frage: Mir schwirrt oft der Kopf, wenn ich daran denke, immer und überall Mitgefühl entwickeln zu müssen. Als ständiger Anspruch nimmt mir das oft eher die Luft zum Atmen, als dass er mich wirklich offen macht. Wie kann ich damit umgehen?
Antwort: Ihre Frage thematisiert ein wichtiges Problem, das sich immer dann stellt, wenn es darum geht, unsere Denkmuster verändern zu wollen. Wie lässt sich unser Geist effektiv beeinflussen? Wie können positive Muster zu einer neuen Gewohnheit werden, auf die wir auch in schwierigen Situationen zurückgreifen können? Im Yoga Sūtra werden diese Fragen mit der Diskussion von zwei ganz unterschiedlichen Strategien angegangen.
Der Ausgangspunkt der ersten Strategie ist die Überzeugung, dass Mitgefühl eine Stimmung unseres Geistes ausdrückt, die durchweg positiv zu beurteilen ist. Positiv erst einmal einfach in dem Sinne: Wir sind lieber unter Menschen, die uns mit Mitgefühl begegnen, als unter Menschen, die uns verachten.
Und weiter: Wir haben einen direkten Zugriff auf unsere innere Stimmung. Wir machen immer wieder die Erfahrung, dass sich unser Geist an die Hand nehmen und zu einer bestimmten Stimmung führen lässt. Das gelingt bekanntermaßen in beiden Richtungen. Wenn ich jemanden nur ordentlich laut und lange genug anschreie, kann ich, wenn ich mich darauf einlasse, eine immer aggressivere Stimmung in mir erzeugen. Und ich kann mich umgekehrt bemühen, ein Gefühl von Mitgefühl zu entwickeln, und dieses Bemühen kann tatsächlich dazu führen, in eine andere, bessere Stimmung zu geraten. Letzteres immer wieder einzuüben, gleichsam zu trainieren wie ein Geigenspiel, ist wahrlich eine bewährte Möglichkeit, meinen Geist zu verändern. Aber wie jede Strategie ist auch diese nicht immer Erfolg versprechend, nicht immer angemessen und sie hat tatsächlich ganz offensichtliche Mängel. Zwei davon möchte ich ansprechen und damit auch zu Ihrer Frage kommen.
Der eine Mangel besteht darin, dass es überhaupt nicht ausgemacht ist, ob ich aus einer Stimmung des Mitfühlens heraus auch so handle, dass mein Gegenüber sich tatsächlich angenommen fühlt. Ob also mein Mitgefühl zu einem angemessenen Handeln führt. So kann es mir passieren, dass ich aus Mitgefühl einen Rollstuhlfahrer kurzerhand über ein schwieriges Wegstück schiebe, er sich dadurch in seinen Bedürfnissen aber überhaupt nicht wahrgenommen, sondern bevormundet fühlt. Mein Mitgefühl war echt, aber ich habe die Situation nicht verstanden.
Den anderen Mangel, der sich mit dem Bemühen um das Herstellen von Mitgefühl verbinden kann, haben Sie in Ihrer Frage selbst angesprochen. Er betrifft den Unterschied zwischen Üben und Alltag. Mitgefühl üben lässt sich am einfachsten in der Stille meines Übungsraumes. Ich bin nach innen, auf meine Gefühle ausgerichtet. Kein böses Wort, keine Bedrohung, keine Notwendigkeit zu handeln, triggert die Eigendynamik meines Geistes. Und ein solches Üben macht durchaus Sinn. Es hilft, diese Stimmung in mir zu bahnen, den Geist daran zu gewöhnen, auf diese Weise zu agieren. Und die Hoffnung, dass sich dieses Muster auch im Alltag abrufen lässt, ist berechtigt. Aber der Alltag erfordert Mitgefühl in einem ganz anderen Zusammenhang. Er verlangt Mitgefühl im Zusammenhang mit der Zuwendung zu einem Gegenüber in hochdynamischen, komplexen und unterschiedlichsten Zusammenhängen und Situationen. Nicht Selbstbezug ist hier wichtig, sondern die Situation, die ich erlebe. Keine Innenschau, sondern Verbundenheit mit meinem Gegenüber ist gefragt. Je mehr es mir gelingt, in dieser Verbindung zu bleiben, umso weniger bieten sich meinem Geist Chancen, in seine destruktive Eigendynamik zu verfallen. Ich lebe meine Qualität als Mensch am intensivsten, ich bin dann am meisten bei mir, wenn ich mich der Welt öffnen kann, auf sie zugehe, sie verstehe.
Mir hat einmal jemand beschrieben, wie er versucht, seine Meditationspraxis in den Alltag zu integrieren. Dieser Transfer bestand hauptsächlich darin, sich immer wieder des eigenen Atems bewusst zu werden. Das war auch Teil seiner täglichen Meditationspraxis. Wann immer er sich im Alltag daran erinnerte, versuchte er, den Fluss seines Atems zu spüren. Ich fragte ihn, wie er sich fühlen würde, wenn er wüsste, dass jemand, mit dem er gerade ein wichtiges und intensives Gespräch führt, einen Großteil der Zeit damit verbringen würde, auf seinen Atem zu achten. Die Antwort war einfach: Er würde sich nicht sehr wahrgenommen fühlen.
Wenn ich auf meinen Atem achte, wende ich mich von meinem Gegenüber ab. Das kann auch gelten, wenn ich versuche, Mitgefühl zu entwickeln. Und wenn Sie sagen, dass Ihnen manchmal der Kopf schwindelt bei diesem Bemühen, dann drücken Sie genau diesen Widerspruch aus. Einerseits geht es beim Mitgefühl um mein Gegenüber. Aber einfach Mitgefühl von sich zu fordern, kann auch dazu führen, dass ich mich hauptsächlich um mich selbst kümmere. So positiv dieses Gefühl auch ist, wir brauchen einen angemessenen Umgang damit. Interessant ist die Art und Weise, wie im Yoga Sūtra dieses Thema eingeführt wird. Die Ausrichtung auf positive Gefühle wie Mitgefühl (karūna) oder auch Mitfreude (mudīta) wird dort ins Spiel gebracht, wo nach Lösungen für eine Situation gesucht wird, in der unser Geist in großer Unklarheit ist. Es ist der Vorschlag für eine erfolgreiche Krisenintervention: Einem unklaren Geist ist eben nicht viel Positives zuzutrauen.
Deshalb der Vorschlag, nicht lange zu zögern, sondern in dieser Dunkelheit ein helles Licht anzuzünden. Dazu braucht es zuerst: Ein Gespür für die Dynamik meines Geistes, und ich muss, wenn nötig, innehalten können. Beides kann gelernt werden.
Zweitens benötige ich eine klare Anweisung, was zu tun ist, einen klar formulierten Fokus, auf den ich mich jetzt ausrichte. (Im Yoga Sūtra wird ein solcher Fokus bhāvana genannt). Deshalb sind die Vorschläge auch sehr konkret. Nicht Mitgefühl überall und immer entwickeln; der Vorschlag des Yoga Sūtra lautet vielmehr: Entwickle Mitgefühl angesichts eines Menschen, der leidet. Ein in Unklarheit gefangener Geist neigt nämlich zu einer ganz anderen Stimmung: Selbst ist er schuld, es wird schon nicht so schlimm sein, nun ist aber genug …
Dieser Tendenz eines mit Blindheit geschlagenen Geistes etwas entgegenzusetzen ist das Ziel einer solchen Intervention und des inneren Appells: Mitgefühl, das wäre eigentlich das angemessene Gefühl diesem Menschen gegenüber! Würdest Du ihn nur verstehen, es würde sich Mitgefühl in Dir einstellen.
Das Gleiche gilt für Mitfreude: Nicht Neid und Missgunst sind angemessen, wenn sich jemand über etwas freut, sondern eben Mitfreude. Als solche sehr spezifische Krisenintervention ist das Bemühen um Mitgefühl ein mächtiges Werkzeug, besser mit uns und der Welt umzugehen und sich darin glücklicher zu fühlen. Aber es ist eben kein Allheilmittel.
Das zentrale Anliegen des Yoga Sūtra ist eine Veränderung der Muster unseres Geistes hin zu einer Stimmung der Zugewandtheit. Als schwierigste Aufgabe wird erkannt, Strategien zu entwickeln, mit deren Hilfe diese Stimmung auch unter widrigen Umständen aufrechterhalten werden kann. Aus dieser Stimmung entwickelt sich ein tiefes Verständnis eines Gegenübers. Dieses Verständnis kann sich in Mitgefühl ausdrücken, wenn dieses Gegenüber leidet. Aber auch in ganz anderen Gefühlen. So etwa in Mitfreude, wenn sich unser Gegenüber freut. Aber auch in einem Gefühl, das uns hilft, einen kühlen Kopf zu bewahren, uns nicht provozieren zu lassen und angemessen zu reagieren, wenn sich dieses Gegenüber menschenverachtend verhält.
Der Yoga versteht auch ein solches Gefühl (es wird dort upekṣa genannt) ausdrücklich als positiv und, in einer entsprechenden Situation, als Ausdruck eines tiefen Verständnisses. Ratschläge also, die unser positives Gefühlsleben auf eine einzige Kategorie wie die des Mitgefühls reduzieren wollen, sind gerade auch im Zusammenhang mit der Entwicklung eines menschlichen Miteinanders wenig sinnvoll. ▼