Ein Gespräch zum Yoga Sūtra und den Aṣṭāṅgas

Stephanie Schönberger (Yogalehrerin), Philipp Maas (Indologe) und Laura von Ostrowski (Kulturwissenschaftlerin) verbindet das langjährige Studium des Yoga Sūtra aus sehr unterschiedlichen Perspektiven. Gemeinsam entstand die Idee, ein Gespräch anzustoßen, um die jeweils eigene Lesart des Yoga Sūtra mit anderen Sichtweisen zu verbinden und so einen Austausch über die Herkunft und Rezeption des Textes, über seine Auslegungen, Missverständnisse und mögliche Bedeutungen heute zu ermöglichen.

Philipp Maas widmet sich darin dem historischen und philologischen Kontext des Yoga Sūtra, Stephanie Schönberger bringt ihre Erfahrungen als praktizierende Yogalehrerin ein und Laura von Ostrowski interessiert sich besonders für die Rezeptionsgeschichte und kulturellen Transformationen des Textes.

Daraus entstand ein Dialog, der Unterschiede nicht einebnet, sondern fruchtbar macht. Das Ergebnis ist ein lebendiger Austausch, das historische Tiefe mit persönlicher Reflexion verbindet. Es lädt dazu ein, das Yoga Sūtra neu zu betrachten – jenseits von Mythisierung oder Entwertung. Dazu veranstalten die Autoren im September 2025 auch eine Fortbildung mit dem Titel »Yoga-Sūtra 2.0«. Weitere Informationen findest du hier.

* Die Manuskript-Aufnahme im Intro-Bild wurde freundlicherweise von Dr. Philipp Maas zur Verfügung gestellt. Es zeigt die erste Blattrückseite der Handschrift aus dem Yoga Sūtra mit der Nummer 2741 aus der Jaykar Library der Savitribhai Phule Pune University.

Ein Gespräch zum Yoga Sūtra und den Aṣṭāṅgas

Stephanie Schönberger (Yogalehrerin), Philipp Maas (Indologe) und Laura von Ostrowski (Kulturwissenschaftlerin) verbindet das langjährige Studium des Yoga Sūtra aus sehr unterschiedlichen Perspektiven. Gemeinsam entstand die Idee, ein Gespräch anzustoßen, um die jeweils eigene Lesart des Yoga Sūtra mit anderen Sichtweisen zu verbinden und so einen Austausch über die Herkunft und Rezeption des Textes, über seine Auslegungen, Missverständnisse und mögliche Bedeutungen heute zu ermöglichen.

Philipp Maas widmet sich darin dem historischen und philologischen Kontext des Yoga Sūtra, Stephanie Schönberger bringt ihre Erfahrungen als praktizierende Yogalehrerin ein und Laura von Ostrowski interessiert sich besonders für die Rezeptionsgeschichte und kulturellen Transformationen des Textes.

Daraus entstand ein Dialog, der Unterschiede nicht einebnet, sondern fruchtbar macht. Das Ergebnis ist ein lebendiger Austausch, das historische Tiefe mit persönlicher Reflexion verbindet. Es lädt dazu ein, das Yoga Sūtra neu zu betrachten – jenseits von Mythisierung oder Entwertung. Dazu veranstalten die Autoren im September 2025 auch eine Fortbildung mit dem Titel »Yoga-Sūtra 2.0«. Weitere Informationen findest du hier.

* Die Manuskript-Aufnahme im Intro-Bild wurde freundlicherweise von Dr. Philipp Maas zur Verfügung gestellt. Es zeigt die erste Blattrückseite der Handschrift aus dem Yoga Sūtra mit der Nummer 2741 aus der Jaykar Library der Savitribhai Phule Pune University.

Ein Gespräch zum Yoga Sūtra und den Aṣṭāṅgas

Stephanie Schönberger (Yogalehrerin), Philipp Maas (Indologe) und Laura von Ostrowski (Kulturwissenschaftlerin) verbindet das langjährige Studium des Yoga Sūtra aus sehr unterschiedlichen Perspektiven. Gemeinsam entstand die Idee, ein Gespräch anzustoßen, um die jeweils eigene Lesart des Yoga Sūtra mit anderen Sichtweisen zu verbinden und so einen Austausch über die Herkunft und Rezeption des Textes, über seine Auslegungen, Missverständnisse und mögliche Bedeutungen heute zu ermöglichen.

Philipp Maas widmet sich darin dem historischen und philologischen Kontext des Yoga Sūtra, Stephanie Schönberger bringt ihre Erfahrungen als praktizierende Yogalehrerin ein und Laura von Ostrowski interessiert sich besonders für die Rezeptionsgeschichte und kulturellen Transformationen des Textes.

Daraus entstand ein Dialog, der Unterschiede nicht einebnet, sondern fruchtbar macht. Das Ergebnis ist ein lebendiger Austausch, das historische Tiefe mit persönlicher Reflexion verbindet. Es lädt dazu ein, das Yoga Sūtra neu zu betrachten – jenseits von Mythisierung oder Entwertung. Dazu veranstalten die Autoren im September 2025 auch eine Fortbildung mit dem Titel »Yoga-Sūtra 2.0«. Weitere Informationen findest du hier.

* Die Manuskript-Aufnahme im Intro-Bild wurde freundlicherweise von Dr. Philipp Maas zur Verfügung gestellt. Es zeigt die erste Blattrückseite der Handschrift aus dem Yoga Sūtra mit der Nummer 2741 aus der Jaykar Library der Savitribhai Phule Pune University.

Auftakt

L. von Ostrowski – Lieber Philipp, die erste Frage geht an dich: Was ist denn das Yoga Sūtra überhaupt – wenn du das relativ kurz und präzise zusammenfassen könntest?

P. Maas –Ja, das hört sich nach einer einfachen Frage an, auf die es keine so ganz einfache Antwort gibt. Also, das Yoga Sūtra ist ein Sanskrittext, der sich mit einiger Sicherheit auf die Zeit um 400 nach Christus datieren lässt. Es ist der bekannteste Sanskrittext, den es weltweit überhaupt gibt – Übersetzungen davon liegen in über 40 modernen Sprachen vor.
Wo der Text aber genau herkommt, ist gar nicht so einfach zu sagen. Die älteste überlieferte Fassung erscheint gar nicht als eigenständiger Text, sondern ist eingebettet in einen Kommentar – das sogenannte Yogabhāṣya. Dieser Kommentar wird in der indischen Tradition einem mythischen Autor namens Vyāsa zugeschrieben, während das Sūtra selbst von einem Autor namens Patañjali stammt. Wahrscheinlich ist aber, dass Sūtra und Bhāṣya von ein und demselben Autor zusammengestellt wurden, wahrscheinlich unter Rückgriff auf ältere Materialien.
Dieser Text, bestehend aus Sūtra und Bhāṣya, trägt den Titel Pātañjalayogaśāstra, also das autoritative Lehrbuch oder Wissenskorpus zum Thema Yoga – wobei Yoga hier verstanden wird als Methode und als Ziel, nämlich: Befreiung vom Leiden zu erlangen. Also: Aufhebung des menschlichen Leidens durch die Verwirklichung einer – man muss sagen mystischen Einsicht in die Struktur der Welt, die durch Meditation erreicht werden kann.
Soviel vielleicht mal ganz grob dazu, was das Yoga Sūtra ist.

Dann umgekehrt die Frage an dich, Laura: Ich habe ja schon gerade erwähnt, dass das Yoga Sūtra ein sehr bekannter Text ist, der in viele moderne Sprachen übersetzt wurde. Warum eigentlich? Warum ist dieser Text so prominent in heutigen Yoga-Zirkeln?

L. von Ostrowski – Ich würde vielleicht zwei übergeordnete Gründe nennen: Das eine sind historische Gründe, das andere betrifft die Struktur des Textes selbst. Historisch ist es so, dass der indische Mönch Swami Vivekananda Ende des 19. Jahrhunderts diesen Text – nicht als Erster, aber doch mit einer modernen Kommentierung – ins Englische übersetzt hat und ihn dadurch einem großen westlichen Publikum zugänglich machte. Er selbst hat den Text so herausgegriffen, weil es davor bereits ein westliches Interesse daran gab: Schon durch die Kolonialisierung und britische Orientalisten war der Text bekannt – neben der Bhagavad Gītā und einigen Upaniṣaden. Also es gab da ein romantisch-orientalistisches Textinteresse.
Diese Rezeption wurde dann auch stark durch die Theosophen geprägt – und durch andere Esoteriker:innen des späten 19. Jahrhunderts, die sich dem Osten zuwandten, um dort bestimmte spirituelle Inhalte oder meditative Techniken zu finden. Da ging es z. B. um Geisteszustände, um Konzentration, aber auch um übersinnliche Kräfte wie Hellsehen, das war bei den Theosophen ein großes Thema. Und aus diesem Interesse heraus reagierte dann auch das bereits modernisierte Indien – und stellte diesen Text sozusagen in einer neuen Form auf die globale Bühne.

Warum das Yoga Sūtra so rezipiert wurde

L. von Ostrowski – Die textimmanenten Gründe sind schneller erklärt: Wenn man das Bhāṣya – also den Kommentar – und auch die späteren Kommentare einmal weglässt, dann ist das Yoga Sūtra einfach extrem kurz. Vielleicht sogar kryptisch an manchen Stellen, wenn man den Kommentar nicht kennt. Und genau das macht ihn auslegbar.
Und diese Auslegbarkeit hat dazu geführt, dass der Text eine perfekte Vorlage für eigene Interpretationen war. Das war durchaus auch Teil seiner Modernisierung: Der Text wurde neu ausgelegt – und damit „passend gemacht“ für eine moderne Yogapraxis. Er wurde anschlussfähig.

P. Maas – Aber es sind ja nicht alle Teile des Textes gleichermaßen rezipiert worden. Eine besondere Bekanntheit und Beliebtheit erfreuen sich die sogenannten „acht Glieder des Yoga“, aṣṭāṅga, auf Sanskrit. Manche Interpretationen setzen diesen Teil des Textes ja sogar mit dem Yoga Sūtra insgesamt gleich. Wie kommt es dazu, dass dieser doch relativ kleine Abschnitt so überaus prominent geworden ist?

L. von Ostrowski – Ja, über diese Frage habe ich, als wir sie formuliert haben, selbst viel nachgedacht – auch, wie weit ich da zurückgehen soll. Ich habe mich dann entschieden, nicht zu tief in die Vormoderne zu schauen, obwohl es da bereits anfing.
Erstens: Der Text enthält auch Inhalte – etwa im dritten Kapitel, dem vibhūti pāda – die für viele vielleicht weniger zugänglich oder anschlussfähig sind. Da geht es um übernatürliche Fähigkeiten, um besondere siddhis, also Kräfte – was vielleicht außer für Theosophen nicht unbedingt sofort rezipierbar ist. Solche Teile wurden dann teilweise einfach ausgelassen oder ignoriert.
Und zweitens: Die aṣṭāṅga-Passage war einfach ein Teil des Textes, der relativ früh herausgegriffen wurde – unter anderem von Vivekananda. Aber auch viele Yoga-Pioniere des 20. Jahrhunderts wie Krishnamacharya oder Sivananda – also Lehrer, die sich stark in der Haṭha-Yoga-Tradition verortet haben – haben sich auf ein Achtgliedriges System bezogen.
Dabei ist wichtig zu wissen: Die Haṭha-Yoga-Tradition selbst kennt auch ein solches System – entweder ein ṣaḍaṅga-System (sechs Glieder) oder ebenfalls ein aṣṭāṅga-System mit acht Gliedern. Manchmal werden yama und niyama einfach vorausgesetzt, manchmal explizit genannt. Aber es gibt diese Struktur, und sie wurde dann sehr gut anschlussfähig an die acht Glieder aus dem Yoga Sūtra.
Das heißt: Die bereits vorhandenen acht Glieder in der Haṭha-Yoga-Tradition konnte man einfach durch das System des Yoga Sūtra ersetzen – auch wenn die zugrundeliegende Metaphysik eine ganz andere war.
Ein Beispiel: Krishnamacharya erwähnt in frühen Texten noch zehn yamas und niyamas, in späteren aber nur noch fünf – ganz wie im Yoga Sūtra. So wurde die eigene Tradition im Laufe der Zeit an das Yoga Sūtra angepasst und das hat sich dann durchgesetzt.

S. Schönberger – Und das war dann quasi der kleinste gemeinsame Nenner – der Teil, den alle übernehmen konnten?

L. von Ostrowski – Genau! Die acht Glieder wurden so etwas wie ein methodischer Kern, auf den sich viele einigen konnten. Deswegen wurde das Yoga Sūtra im 20. Jahrhundert oft auf genau diesen Abschnitt reduziert – und so dann auch mit Yoga insgesamt gleichgesetzt. Erst heute beginnt sich das wieder ein bisschen aufzulösen. Es gibt ein wachsendes Interesse daran, den Text wieder in seiner ganzen Breite zu lesen – und das ist ja auch genau das, was uns hier interessiert. Denn auch die acht Glieder – selbst wenn sie inzwischen fast überstrapaziert wirken – bieten sehr viel mehr, als das, was heute oft aus ihnen gemacht wird.

Zielpublikum des Yoga Sūtra und soziale Kontexte

S. Schönberger – Wir wissen inzwischen einiges über das Yoga Sūtra selbst – aber relativ wenig über die Menschen, an die es sich ursprünglich gerichtet hat. Heute ist der Text ein kanonischer Bezugspunkt für eine große Community an Yoga-Übenden weltweit – aber war das schon immer so? Also: An wen richtet sich der Text ursprünglich?

P. Maas – Das ist schwer zu beantworten, weil wir wenig über die gesellschaftlichen Strukturen wissen, in denen der Text entstanden ist. Wenn wir davon ausgehen, dass das Yoga Sūtra zusammen mit seinem Kommentar – also als Pātañjalayogaśāstra – um 400 n. Chr. verfasst wurde, dann ist das soziale und politische Umfeld die Gupta-Dynastie. Diese Dynastie begründete das zweite indische Großreich, und sie orientierte sich religiös und ideologisch stark am Brahmanismus.
Der Brahmanismus ist eine soziopolitische Ideologie, die auf älteren religiösen Vorbildern beruht – vor allem auf der Religion des Veda, die etwa 1400 v. Chr. entstand und sich bis in die Jahrhunderte vor der Zeitenwende entwickelte. Allerdings wurde diese vedische Kultur und Religion dann zurückgedrängt – durch die Kultur des östlichen Gangesbeckens. Dort war das erste indische Großreich entstanden, gegründet von Ashoka, dem Kaiser der Maurya-Dynastie. Diese Dynastie legitimierte ihre Herrschaft mit religiösen Ideen, die sich von der vedischen Tradition unterschieden: In der ostindischen Kultur stand das Streben nach Befreiung vom Kreislauf der Wiedergeburten im Vordergrund, und Theorien von Karma, von Vorstellungen der moralischen Wertigkeit des Handelns, sind dort aufgekommen.
Diese neuen Vorstellungen verbreiteten sich über ganz Indien – und zur Zeit der Gupta-Dynastie verschmolzen sie mit Elementen der vedischen Tradition. Das war im Grunde die Geburtsstunde dessen, was wir heute als klassischen Hinduismus kennen.
In genau diesem Kontext wurde das Pātañjalayogaśāstra geschrieben. Es ging darum, einen religiös-philosophischen Text zu schaffen, der für viele Menschen verbindlich sein konnte, die das Ziel der Befreiung aus dem leidhaften Kreislauf von Geburt und Tod teilten.
Der Text ist auf Sanskrit verfasst, was bedeutet, dass er sich an die gebildeten Klassen richtete – konkret: an Brahmanen. Und im Pātañjalayogaśāstra werden die Praktizierenden an mehreren Stellen explizit als Brahmanen bezeichnet – männliche Brahmanen, um genau zu sein. Aber: Es sind keine Haushälter (gṛhastha), sondern spirituelle Spezialisten – Asketen, die sich bewusst gegen das weltliche Leben entschieden haben. Diese Praxis – sich dem Ziel der Befreiung voll zu widmen – ist etwas, das aus den śramaṇa-Traditionen stammt: Aus einer asketischen Bewegung, zu der auch der Buddhismus und Jainismus gehörten.
Die damaligen Yoga-Praktizierenden waren Männer, sprachen Sanskrit, lebten ein Leben als besitzlose Bettelmönche und widmen sich als spirituelle Vollprofis der Befreiung aus dem Kreislauf der Wiedergeburten.

Wie lebten die ursprünglichen Yogis?

S. Schönberger – Das hast du jetzt eigentlich schon ein bisschen beantwortet – aber ich frage nochmal konkreter nach: Wie muss man sich das Leben dieser „spirituellen Vollprofis“ vorstellen, die sich aus dem Kreislauf von Geburt und Tod befreien wollten? Also: Die sitzen ja wahrscheinlich nicht nur in der Höhle und meditieren den ganzen Tag. Wie sah deren Alltag aus?

P. Maas – Was die praktische Lebensführung angeht, enthält das Pātañjalayogaśāstra tatsächlich nur sehr wenige Informationen. Es ist ein normativer Text – er beschreibt Idealzustände oder eine ideale Lebensführung, vor allem im ethischen Bereich. Diese Lebensführung ist geprägt von der Befolgung bestimmter Gebote – vor allem den yamas und niyamas. Sie dienen dazu, die Entstehung von schädlichem Karma zu verhindern und stattdessen positives Karma zu erzeugen.
Aber: Auch positives Karma gilt im Yoga eigentlich als hinderlich. Denn dieses führt zwar zu angenehmen Wiedergeburten – etwa in höheren Daseinsbereichen oder als Gott –, aber es bindet die Lebewesen weiter an den Kreislauf der Wiedergeburt. Und dieser Kreislauf ist letztlich leidvoll – weil auch positive Erlebnisse zeitlich begrenzt sind. Wenn das gute Karma aufgebraucht ist, erfolgt eine neue Wiederverkörperung – und zwar auch in niederen Daseinsbereichen.
Darum ist das eigentliche Ziel die radikale Aufhebung dieses Kreislaufs – die völlige Befreiung vom Leiden. Und das ist genau das, was Patañjali lehrt – als einzig erstrebenswertes Ziel.
Das Ganze hat auch eine metaphysische Grundlage: Im Sāṃkhya, also dem philosophischen System hinter dem Yoga Sūtra, hat der Kosmos eine Art Mission – nämlich: den puruṣa, also das reine Bewusstsein, aus seiner Verstrickung mit der materiellen Welt zu befreien. Das geschieht durch Erkenntnis: Indem man die grundlegende Verschiedenheit von Geist und Materie durchschaut.
Das sind sehr abstrakte Vorstellungen – der Text äußert sich jedoch kaum zur alltäglichen Praxis. Und das hat wohl auch damit zu tun, dass er ein Angebot für verschiedene asketische Traditionen machen will. Er will anschlussfähig sein – auch für Gruppen, die sich in ihren Praktiken unterscheiden. Deswegen formuliert er abstrakte Konzepte, aber kaum konkrete Anleitungen.
Wenn man etwas darüber wissen will, wie solche Asketen tatsächlich gelebt haben, müsste man z. B. in andere Quellen schauen: den Schriften der Jainas oder der Buddhisten, das Dharmaśāstra (also die brahmanische Rechtsliteratur) oder auch in erzählende Literatur, in der Asketen vorkommen. Das sind natürlich keine historischen Berichte im engeren Sinn, aber sie spiegeln zumindest Vorstellungen darüber, wie Asketen zu leben hatten und was als glaubwürdig galt.

Wie verbindlich waren die yamas und niyamas?

L. von Ostrowski – Das sind natürlich sehr abstrakte Vorstellungen. Aber über das konkrete Leben dieser Yogis sagt der Text nicht viel, oder?

P. Maas – Genau – das Pātañjalayogaśāstra ist eher als Übersicht über Regeln und Prinzipien zu verstehen, weniger als konkrete Alltagsschilderung. Ich hatte ja vorher bereits die yamas und niyamas erwähnt – also ethische und persönliche Disziplinen. Das sind zentrale Elemente im Yoga, ja. Aber wie diese im Alltag genau umgesetzt wurden, ist schwer zu sagen. Ich würde sagen: Sie waren wie Idealnormen, die in unterschiedlichen asketischen Traditionen unterschiedlich konkret ausgelegt und gelebt wurden. Und ja, sie waren sicher eine tägliche Richtschnur. Aber wir wissen eben nicht, inwieweit sie eins zu eins befolgt wurden – oder befolgt werden konnten.

S. Schönberger – Also würdest du sagen: Das waren Zielvorstellungen – aber im Alltag sicher auch mit Abweichungen?

P. Maas – Genau. Wir wissen nicht, wie Yogis im 4. oder 5. Jahrhundert in Indien tatsächlich gelebt haben. Wenn im Text steht: „Gewaltlosigkeit, Wahrhaftigkeit, Enthaltsamkeit …“ – dann ist das eine Idealisierung. Natürlich waren die Yogis damals auch nicht „vollkommene Heilige“. Ich denke, es gab durchaus Menschen, die diesen Idealen sehr ernsthaft nachgegangen sind. Und gerade die yamas – also die fünf ethischen Selbstverpflichtungen – nimmt der Text ja besonders ernst. Dazu gehören: ahiṃsā – Gewaltlosigkeit, satya – Wahrhaftigkeit, asteya – Nichtstehlen, brahmacarya – Keuschheit und aparigraha – Besitzlosigkeit.
Das sind übrigens dieselben Selbstverpflichtungen, die auch für Jaina-Mönche und Nonnen gelten – und deren konkrete Umsetzung in der Jaina-Literatur in extremer Detailtiefe geregelt ist. Auch im Buddhismus gibt es ähnliche Regeln – keine exakte Entsprechung, aber verwandte Strukturen. Und trotzdem wissen wir etwa, dass buddhistische Klöster in jener Zeit auch als Bankhäuser fungiert haben – was z. B. mit dem Ideal der Besitzlosigkeit schwer vereinbar ist.
Das heißt: Wo Menschen sind, da müssen Kompromisse geschlossen werden zwischen den Ansprüchen des alltäglichen Lebens und der spirituellen Praxis. Das war damals nicht anders als heute.

Was bedeutet das Yoga Sūtra heute?

S. Schönberger – Von dem, was wir jetzt wissen – über die acht Glieder, über die Zielrichtung des Textes, seine Herkunft, seine Adressaten – was davon können wir heute überhaupt noch übernehmen? Oder anders: Gibt es etwas, das wir heute aus dem Yoga Sūtra lernen können? Und was ist vielleicht so anders, dass es auf unsere heutige Lebenswelt gar nicht mehr passt?

P. Maas – Das ist natürlich eine Frage, die letztlich jede:r für sich selbst beantworten muss. Was gibt mir dieser Text – heute, in meinem Leben?
Eines ist aber sicher nicht der Fall: Dass wir es hier mit einer „zeitlosen Wahrheit“ zu tun hätten, die sich einfach kultur- und epochenübergreifend anwenden ließe. Das Yoga Sūtra ist ein Text, der in einem bestimmten historischen, kulturellen und religiösen Kontext entstanden ist. Der Autor hatte bestimmte Intentionen – die hängen zusammen mit seiner Zeit, mit seinem Denken, mit den Diskursen, in die er eingebunden war. Der Text ist ein Sprechakt – ein Sich-Verhalten in der Welt seiner Zeit. Und im Lauf der Jahrhunderte wurde er sehr unterschiedlich interpretiert – schon im vormodernen Indien, und dann natürlich noch einmal grundlegend neu in der Moderne, wie Laura ja schon gesagt hat.
Diese Auslegungen unterscheiden sich teils radikal von dem, was man mit etwas philologischer oder kontextualisierender Mühe als ursprüngliche Intention des Autors rekonstruieren kann. Und trotzdem – oder gerade deshalb – sind viele dieser modernen Lesarten interessante Beiträge, die man ernst nehmen und mit Gewinn lesen kann.
Wenn ich persönlich etwas benennen müsste, das ich aus dem Yoga Sūtra mitnehme, dann vielleicht dies: Dass der Mensch Distanz zu seinen Trieben und Begierden entwickeln kann. Dass er sich nicht überwältigen lassen muss. Dass ein reflektierter Umgang mit sich selbst – gerade in einer Welt des Konsumkapitalismus – eine Form von Freiheit bedeutet. Denn unsere Gegenwart ist geprägt von einer Kultur, die gerade diese Triebe besonders fördert: Konsum, Reizüberflutung, Wachstum um jeden Preis.
Aber wir sehen auch die Grenzen dieses Modells – etwa im Blick auf die Klimakatastrophe. Insofern kann man vielleicht sagen: Der Aufruf zur Selbstbeschränkung, eine Abkehr von unreflektiertem Konsumverhalten und von ausbeuterischem Handeln, gegenüber sich selbst, der Umwelt und auch der Gesellschaft. Das ist eine Botschaft, die heute womöglich aktueller ist als je zuvor.

L. von Ostrowski – Stephanie, wie sieht es aus mit der Lebensführung heutiger Yoga-Übender – verglichen mit den Asketen, an die sich der Text ursprünglich gerichtet hat?

S. Schönberger – Ganz allgemein kann man vermutlich sagen: Die meisten modernen westlichen Yoga-Übenden leben ein ganz anderes Leben als die Asketen, für die der Text ursprünglich gedacht war. Sie sind in der Regel keine Asket:innen – und im Unterschied zur damaligen Zielgruppe, den männlichen Entsagenden, sind es heute überwiegend Frauen, die Yoga üben. Viele von ihnen stehen mitten im Leben, sind berufstätig, kümmern sich um Kinder oder Familie, und suchen weniger den Rückzug aus der Welt als vielmehr einen Weg, in ihr besser zurechtzukommen. Wahrscheinlich verfolgen auch die wenigsten das Ziel, aus saṃsāra, dem Kreislauf von Tod und Wiedergeburt, auszusteigen. Zwar ist ein Wunsch nach Veränderung oder Befreiung durchaus vorhanden, doch meist in einer alltagsnahen, weniger radikalen und absoluten Form. Es geht eher selten um die vollständige Auflösung des körperlich-geistigen Selbst oder um die Erkenntnis der Verschiedenheit von puruṣa und prakṛti. Der Zugang zu diesem Ziel ist für moderne westliche Übende oft auch nicht unmittelbar – was vor allem daran liegt, dass Begriffe wie puruṣa oder prakṛti weder sprachlich noch kulturell selbstverständlich sind.
Zum anderen spielt bei der modernen yogischen Lebensführung auch eine Rolle, wie Yoga heute definiert, verstanden und vermittelt wird. Für die einen ist Yoga vor allem Sport – und nicht mehr. Für andere eine körperliche Praxis, um Körper, Geist und Seele in Einklang zu bringen. Wieder andere verbinden die Āsana-Praxis mit Elementen aus dem Yoga Sūtra, dem (Advaita-)Vedānta, dem Tantra sowie westlicher Esoterik, Breathwork und schamanisch inspirierten Ritualen zu einer sehr individuellen, spirituellen Praxis. Manche üben einmal die Woche, andere täglich. Für die einen ist Yoga Teil eines Lifestyles, für die anderen eine Lebensweise.
Die Art und Weise, wie Yoga heute verstanden, genutzt und gelebt wird, ist also sehr unterschiedlich. Für manche ist es ein fester Bestandteil des Alltags, der auch die Lebensführung mitprägt – für andere bleibt es eine punktuelle körperliche Praxis mit wenig Einfluss auf andere Lebensbereiche.
Oft fehlt in unserer durchgetakteten Gesellschaft auch schlicht die Zeit, um spirituellem Wachstum jenseits der wöchentlichen Yogastunde Raum zu geben. Oder sich tiefer mit den Texten zu beschäftigen, um daraus konkretere Impulse für eine yogische Lebensführung zu gewinnen. Gleichzeitig sind viele dieser Ideen – wie man an den yamas und niyamas sieht – für uns moderne westliche Übende gar nicht in der Unbedingtheit umsetzbar, wie sie von Patañjali als „großes Gelübde“ gefordert werden.
Sie können unsere Lebensführung dennoch beeinflussen und inspirieren – indem wir einen pragmatischen Ansatz wählen, ohne den Kontext zu vergessen, in dem sie stehen.
Ich komme ja aus der Krishnamacharya-/Desikachar-Tradition, mit dem sogenannten Viniyoga-Prinzip, das man ganz knapp so beschreiben kann: „Yoga passt sich dem Menschen an, nicht der Mensch dem Yoga.“ Das bedeutet nicht, dass man willkürlich irgendetwas macht, sondern dass man sich an den individuellen Lebensrealitäten der Übenden orientiert und Methoden, Mittel und Aussagen entsprechend anpasst und umsetzt.
Nehmen wir ahiṃsā: Absolute Gewaltlosigkeit ist in einem aktiven Leben in der Gesellschaft nicht umsetzbar. Aber ich kann mich fragen: Was ist für mich Gewalt? Wo bin ich selbst gewalttätig – in Gedanken, Sprache, Gestik, im Handeln? Zum Beispiel beim Autofahren oder im Umgang mit Menschen, deren Meinung meiner fundamental widerspricht? Und wie kann ich diese Gewalt jeden Tag ein kleines Stück reduzieren?
Wenn ich ahiṃsā zum Beispiel als ökologisches Prinzip verstehe, wird aus einem alten ethischen Gebot plötzlich ein hochaktueller Impuls. Und vielleicht ist auch ein kleines Umdenken schon eine Form von „Ausstieg“ – nicht mehr aus dem Samsāra, aber aus bestimmten gesellschaftlichen Mustern die anderen und uns nicht guttun.

L. von Ostrowski – Hast du noch weitere konkrete Beispiele?

S. Schönberger – Was wir aus dem Text auch lernen können, ist: Disziplin. Das ist ja so ein Wort, das in unserer Zeit nicht besonders beliebt ist – ich erinnere mich an meinen ersten Yogalehrer, der fast allergisch darauf reagiert hat. Aber: Wenn ich etwas lernen oder verändern will, brauche ich sie.
Viele beginnen Yoga, weil sie etwas verändern möchten. Weil da eine Form von duḥkha, also Leid oder Unzufriedenheit, ist, sei es Rückenschmerz oder ein unruhiger Geist. Das ist oft der Ausgangspunkt. Und damit sich etwas verändert, brauche ich eine gewisse Konsequenz. Ohne sie passiert nichts. Es ist wie beim Sprachenlernen: Wenn ich keine Vokabeln lerne, keine Grammatik wiederhole, komme ich nicht weiter. Genauso ist es mit Yoga.
Der Text spricht ja sehr deutlich genau davon: Yoga ist ein Weg des Dranbleibens. Kein gelegentliches Tun, sondern ein lebenslanges Commitment. Und dafür braucht es Vertrauen und Geduld – aber das kann man lernen. Das ist der Impuls, den mir der Text gibt. Der Text sagt auch: Veränderung ist möglich. Ich kann meine Sichtweise verändern, meinen Geist, meinen Umgang mit Emotionen, mit meinen Sinnen. Ich kann innerlich freier werden. Freier von meiner Vergangenheit.
Womit wir beim Thema Freiheit sind. Freiheit von oder Befreiung von etwas. Das ist ja zentral im Yoga Sūtra und kann eine Aufforderung sein sich zu fragen: Was bedeutet Freiheit für mich? Braucht Freiheit vielleicht sogar Disziplin? Für meine Disziplin werde ich belohnt. Das mag ich an diesem Text: Er macht Mut. Er inspiriert. Er zeigt, was möglich ist. Und auch, wie es möglich ist. Zum Beispiel mit Begriffen wie kleśas, die zeigen, was uns innerlich unfrei macht, oder mit bhāvanas, kriyāyoga und aṣṭāṅga – Werkzeuge, um mit der Welt, dem Leben und uns selbst bewusster umzugehen und besser klarzukommen. Die dahinterstehenden Ideen können auch heute eine wertvolle Orientierung sein.

Abschlussgedanken und Kritik am „Yoga-Lifestyle“

L. von Ostrowski – Die letzte Frage – ich weiß gar nicht, ob du sie noch beantworten willst, aber ich stelle sie trotzdem: Was ist eigentlich eine yogische Lebensführung? Und wie unterscheidet sie sich vom Mainstream-„Yoga-Lifestyle“, wie er heute oft gepflegt wird?

S. Schönberger – Das ist eine gute Frage. Historisch betrachtet würde ich sagen: Yogische Lebensführung war lange das Gegenteil von Mainstream. Sie war radikal einem Ziel verschrieben – mit klaren Regeln, Disziplin und der Bereitschaft zum Verzicht auf alles, was von diesem hohen Ziel ablenkt oder wegführt. Zu diesem Verzicht gehörten neben eigenen Mustern und Prägungen auch gesellschaftliche Strukturen oder ein erfülltes Familienleben. Der moderne Yoga-Lifestyle ist heute sehr oft ein weißes Privileg. Er predigt weder Besitz- noch Anspruchslosigkeit, sondern erhebt Yoga zum Business – mit Fokus auf Followerzahlen, Erdfarben und Ästhetik statt auf fundierten Inhalt. Erleuchtung findet auf Bali statt und für die Flugreise dorthin darf die sonst beschworene Liebe zur „Mutter Erde“ auch mal kurz abkühlen.
Zumindest ist das das Bild, das durch soziale Medien und bestimmte Zeitschriften entstehen kann. Das Problem ist: Dieser „Yoga-Lifestyle“ zieht uns tiefer in die Konsumwelt hinein. Anstatt unser Ego zu transformieren, besteht die Gefahr, dass es sogar noch größer wird – als „Yoga-Ego“ oder „Yoga-Charakter“, gerne verbunden mit einem neuen spirituellen Namen und einem Licht-und-Liebe-Vokabular.
Wenn man aber so sehr damit beschäftigt ist, etwas zu sein, kann man leicht vergessen zu fragen: Wie bin ich eigentlich wirklich? Warum reagiere ich so auf die Welt? Was ist der Sinn meines Lebens?
Wenn es überhaupt so etwas wie eine yogische Lebensführung für uns gibt, dann darf sie vielleicht stiller sein. Mehr nach innen gerichtet. Ein bisschen reflektierter. Bescheidener. Und ehrlicher – auch sich selbst gegenüber. Sie könnte von der Frage geleitet sein: Welche Erfahrungen soll mein puruṣa – und all die anderen puruṣas, die mir täglich begegnen – durch mich machen? Und: Wie kann ich dazu beitragen, dass diese Welt mit all ihren Bewohner:innen auch für kommende Generationen noch lebens- und liebenswert ist?

P. Maas – (lachend): Okay, das war eine schöne, kurze Antwort. Möchte jemand noch etwas hinzufügen?

L. von Ostrowski – (lacht): Schönes Interview.

S. Schönberger – Ja, sehr schön.

Die Autoren

Philipp Maas – Stephanie Schönberger – Laura von Ostrowski

Dr. Philipp Maas ist Indologe und lehrt am Institut für Indologie der Universität Leipzig. Seine Forschungsschwerpunkte sind Yoga, indische Philosophie, Medizin und Literatur. Besonders bekannt ist er für seine Arbeiten zur Geschichte des Pātañjala-Yoga, darunter eine kritische Edition des Samādhipāda und der Sammelband Yoga in Transformation.

Stephanie Schönberger, Yogalehrerin BDY/EYU, Autorin und Leiterin des 8sam Yoga Studios in Kaufbeuren. Sie beschäftigt sich seit 2009 intensiv mit dem Yoga Sūtra und unterrichtet es online, in Ausbildungen und bei YogameHome. Sie hat drei Yoga-Bücher veröffentlicht und organisiert das Cura Sui Yogafestival. www.8sam-yoga.de.

Dr. Laura von Ostrowski, Indologin und Kulturwissenschaftlerin, promovierte über modernen Yoga und leitet eine Yogaschule in München. In Ihrer Forschung interessiert sie sich für die Verbindung von (moderner) Yogapraxis mit Textexegese. Ihr Buch – Ein Text in Bewegung (2022) – untersucht das Yoga Sūtra im heutigen Aṣṭāṅga-Yoga. 2025 gründete sie die Yoganerds_Academy, eine Online-Lernplattform für Yogageschichte und -philosophie.

Dieser Artikel ist ursprünglich
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Auftakt

L. von Ostrowski – Lieber Philipp, die erste Frage geht an dich: Was ist denn das Yoga Sūtra überhaupt – wenn du das relativ kurz und präzise zusammenfassen könntest?

P. Maas –Ja, das hört sich nach einer einfachen Frage an, auf die es keine so ganz einfache Antwort gibt. Also, das Yoga Sūtra ist ein Sanskrittext, der sich mit einiger Sicherheit auf die Zeit um 400 nach Christus datieren lässt. Es ist der bekannteste Sanskrittext, den es weltweit überhaupt gibt – Übersetzungen davon liegen in über 40 modernen Sprachen vor.
Wo der Text aber genau herkommt, ist gar nicht so einfach zu sagen. Die älteste überlieferte Fassung erscheint gar nicht als eigenständiger Text, sondern ist eingebettet in einen Kommentar – das sogenannte Yogabhāṣya. Dieser Kommentar wird in der indischen Tradition einem mythischen Autor namens Vyāsa zugeschrieben, während das Sūtra selbst von einem Autor namens Patañjali stammt. Wahrscheinlich ist aber, dass Sūtra und Bhāṣya von ein und demselben Autor zusammengestellt wurden, wahrscheinlich unter Rückgriff auf ältere Materialien.
Dieser Text, bestehend aus Sūtra und Bhāṣya, trägt den Titel Pātañjalayogaśāstra, also das autoritative Lehrbuch oder Wissenskorpus zum Thema Yoga – wobei Yoga hier verstanden wird als Methode und als Ziel, nämlich: Befreiung vom Leiden zu erlangen. Also: Aufhebung des menschlichen Leidens durch die Verwirklichung einer – man muss sagen mystischen Einsicht in die Struktur der Welt, die durch Meditation erreicht werden kann.
Soviel vielleicht mal ganz grob dazu, was das Yoga Sūtra ist.

Dann umgekehrt die Frage an dich, Laura: Ich habe ja schon gerade erwähnt, dass das Yoga Sūtra ein sehr bekannter Text ist, der in viele moderne Sprachen übersetzt wurde. Warum eigentlich? Warum ist dieser Text so prominent in heutigen Yoga-Zirkeln?

L. von Ostrowski – Ich würde vielleicht zwei übergeordnete Gründe nennen: Das eine sind historische Gründe, das andere betrifft die Struktur des Textes selbst. Historisch ist es so, dass der indische Mönch Swami Vivekananda Ende des 19. Jahrhunderts diesen Text – nicht als Erster, aber doch mit einer modernen Kommentierung – ins Englische übersetzt hat und ihn dadurch einem großen westlichen Publikum zugänglich machte. Er selbst hat den Text so herausgegriffen, weil es davor bereits ein westliches Interesse daran gab: Schon durch die Kolonialisierung und britische Orientalisten war der Text bekannt – neben der Bhagavad Gītā und einigen Upaniṣaden. Also es gab da ein romantisch-orientalistisches Textinteresse.
Diese Rezeption wurde dann auch stark durch die Theosophen geprägt – und durch andere Esoteriker:innen des späten 19. Jahrhunderts, die sich dem Osten zuwandten, um dort bestimmte spirituelle Inhalte oder meditative Techniken zu finden. Da ging es z. B. um Geisteszustände, um Konzentration, aber auch um übersinnliche Kräfte wie Hellsehen, das war bei den Theosophen ein großes Thema. Und aus diesem Interesse heraus reagierte dann auch das bereits modernisierte Indien – und stellte diesen Text sozusagen in einer neuen Form auf die globale Bühne.

Warum das Yoga Sūtra so rezipiert wurde

L. von Ostrowski – Die textimmanenten Gründe sind schneller erklärt: Wenn man das Bhāṣya – also den Kommentar – und auch die späteren Kommentare einmal weglässt, dann ist das Yoga Sūtra einfach extrem kurz. Vielleicht sogar kryptisch an manchen Stellen, wenn man den Kommentar nicht kennt. Und genau das macht ihn auslegbar.
Und diese Auslegbarkeit hat dazu geführt, dass der Text eine perfekte Vorlage für eigene Interpretationen war. Das war durchaus auch Teil seiner Modernisierung: Der Text wurde neu ausgelegt – und damit „passend gemacht“ für eine moderne Yogapraxis. Er wurde anschlussfähig.

P. Maas – Aber es sind ja nicht alle Teile des Textes gleichermaßen rezipiert worden. Eine besondere Bekanntheit und Beliebtheit erfreuen sich die sogenannten „acht Glieder des Yoga“, aṣṭāṅga, auf Sanskrit. Manche Interpretationen setzen diesen Teil des Textes ja sogar mit dem Yoga Sūtra insgesamt gleich. Wie kommt es dazu, dass dieser doch relativ kleine Abschnitt so überaus prominent geworden ist?

L. von Ostrowski – Ja, über diese Frage habe ich, als wir sie formuliert haben, selbst viel nachgedacht – auch, wie weit ich da zurückgehen soll. Ich habe mich dann entschieden, nicht zu tief in die Vormoderne zu schauen, obwohl es da bereits anfing.
Erstens: Der Text enthält auch Inhalte – etwa im dritten Kapitel, dem vibhūti pāda – die für viele vielleicht weniger zugänglich oder anschlussfähig sind. Da geht es um übernatürliche Fähigkeiten, um besondere siddhis, also Kräfte – was vielleicht außer für Theosophen nicht unbedingt sofort rezipierbar ist. Solche Teile wurden dann teilweise einfach ausgelassen oder ignoriert.
Und zweitens: Die aṣṭāṅga-Passage war einfach ein Teil des Textes, der relativ früh herausgegriffen wurde – unter anderem von Vivekananda. Aber auch viele Yoga-Pioniere des 20. Jahrhunderts wie Krishnamacharya oder Sivananda – also Lehrer, die sich stark in der Haṭha-Yoga-Tradition verortet haben – haben sich auf ein Achtgliedriges System bezogen.
Dabei ist wichtig zu wissen: Die Haṭha-Yoga-Tradition selbst kennt auch ein solches System – entweder ein ṣaḍaṅga-System (sechs Glieder) oder ebenfalls ein aṣṭāṅga-System mit acht Gliedern. Manchmal werden yama und niyama einfach vorausgesetzt, manchmal explizit genannt. Aber es gibt diese Struktur, und sie wurde dann sehr gut anschlussfähig an die acht Glieder aus dem Yoga Sūtra.
Das heißt: Die bereits vorhandenen acht Glieder in der Haṭha-Yoga-Tradition konnte man einfach durch das System des Yoga Sūtra ersetzen – auch wenn die zugrundeliegende Metaphysik eine ganz andere war.
Ein Beispiel: Krishnamacharya erwähnt in frühen Texten noch zehn yamas und niyamas, in späteren aber nur noch fünf – ganz wie im Yoga Sūtra. So wurde die eigene Tradition im Laufe der Zeit an das Yoga Sūtra angepasst und das hat sich dann durchgesetzt.

S. Schönberger – Und das war dann quasi der kleinste gemeinsame Nenner – der Teil, den alle übernehmen konnten?

L. von Ostrowski – Genau! Die acht Glieder wurden so etwas wie ein methodischer Kern, auf den sich viele einigen konnten. Deswegen wurde das Yoga Sūtra im 20. Jahrhundert oft auf genau diesen Abschnitt reduziert – und so dann auch mit Yoga insgesamt gleichgesetzt. Erst heute beginnt sich das wieder ein bisschen aufzulösen. Es gibt ein wachsendes Interesse daran, den Text wieder in seiner ganzen Breite zu lesen – und das ist ja auch genau das, was uns hier interessiert. Denn auch die acht Glieder – selbst wenn sie inzwischen fast überstrapaziert wirken – bieten sehr viel mehr, als das, was heute oft aus ihnen gemacht wird.

Zielpublikum des Yoga Sūtra und soziale Kontexte

S. Schönberger – Wir wissen inzwischen einiges über das Yoga Sūtra selbst – aber relativ wenig über die Menschen, an die es sich ursprünglich gerichtet hat. Heute ist der Text ein kanonischer Bezugspunkt für eine große Community an Yoga-Übenden weltweit – aber war das schon immer so? Also: An wen richtet sich der Text ursprünglich?

P. Maas – Das ist schwer zu beantworten, weil wir wenig über die gesellschaftlichen Strukturen wissen, in denen der Text entstanden ist. Wenn wir davon ausgehen, dass das Yoga Sūtra zusammen mit seinem Kommentar – also als Pātañjalayogaśāstra – um 400 n. Chr. verfasst wurde, dann ist das soziale und politische Umfeld die Gupta-Dynastie. Diese Dynastie begründete das zweite indische Großreich, und sie orientierte sich religiös und ideologisch stark am Brahmanismus.
Der Brahmanismus ist eine soziopolitische Ideologie, die auf älteren religiösen Vorbildern beruht – vor allem auf der Religion des Veda, die etwa 1400 v. Chr. entstand und sich bis in die Jahrhunderte vor der Zeitenwende entwickelte. Allerdings wurde diese vedische Kultur und Religion dann zurückgedrängt – durch die Kultur des östlichen Gangesbeckens. Dort war das erste indische Großreich entstanden, gegründet von Ashoka, dem Kaiser der Maurya-Dynastie. Diese Dynastie legitimierte ihre Herrschaft mit religiösen Ideen, die sich von der vedischen Tradition unterschieden: In der ostindischen Kultur stand das Streben nach Befreiung vom Kreislauf der Wiedergeburten im Vordergrund, und Theorien von Karma, von Vorstellungen der moralischen Wertigkeit des Handelns, sind dort aufgekommen.
Diese neuen Vorstellungen verbreiteten sich über ganz Indien – und zur Zeit der Gupta-Dynastie verschmolzen sie mit Elementen der vedischen Tradition. Das war im Grunde die Geburtsstunde dessen, was wir heute als klassischen Hinduismus kennen.
In genau diesem Kontext wurde das Pātañjalayogaśāstra geschrieben. Es ging darum, einen religiös-philosophischen Text zu schaffen, der für viele Menschen verbindlich sein konnte, die das Ziel der Befreiung aus dem leidhaften Kreislauf von Geburt und Tod teilten.
Der Text ist auf Sanskrit verfasst, was bedeutet, dass er sich an die gebildeten Klassen richtete – konkret: an Brahmanen. Und im Pātañjalayogaśāstra werden die Praktizierenden an mehreren Stellen explizit als Brahmanen bezeichnet – männliche Brahmanen, um genau zu sein. Aber: Es sind keine Haushälter (gṛhastha), sondern spirituelle Spezialisten – Asketen, die sich bewusst gegen das weltliche Leben entschieden haben. Diese Praxis – sich dem Ziel der Befreiung voll zu widmen – ist etwas, das aus den śramaṇa-Traditionen stammt: Aus einer asketischen Bewegung, zu der auch der Buddhismus und Jainismus gehörten.
Die damaligen Yoga-Praktizierenden waren Männer, sprachen Sanskrit, lebten ein Leben als besitzlose Bettelmönche und widmen sich als spirituelle Vollprofis der Befreiung aus dem Kreislauf der Wiedergeburten.

Wie lebten die ursprünglichen Yogis?

S. Schönberger – Das hast du jetzt eigentlich schon ein bisschen beantwortet – aber ich frage nochmal konkreter nach: Wie muss man sich das Leben dieser „spirituellen Vollprofis“ vorstellen, die sich aus dem Kreislauf von Geburt und Tod befreien wollten? Also: Die sitzen ja wahrscheinlich nicht nur in der Höhle und meditieren den ganzen Tag. Wie sah deren Alltag aus?

P. Maas – Was die praktische Lebensführung angeht, enthält das Pātañjalayogaśāstra tatsächlich nur sehr wenige Informationen. Es ist ein normativer Text – er beschreibt Idealzustände oder eine ideale Lebensführung, vor allem im ethischen Bereich. Diese Lebensführung ist geprägt von der Befolgung bestimmter Gebote – vor allem den yamas und niyamas. Sie dienen dazu, die Entstehung von schädlichem Karma zu verhindern und stattdessen positives Karma zu erzeugen.
Aber: Auch positives Karma gilt im Yoga eigentlich als hinderlich. Denn dieses führt zwar zu angenehmen Wiedergeburten – etwa in höheren Daseinsbereichen oder als Gott –, aber es bindet die Lebewesen weiter an den Kreislauf der Wiedergeburt. Und dieser Kreislauf ist letztlich leidvoll – weil auch positive Erlebnisse zeitlich begrenzt sind. Wenn das gute Karma aufgebraucht ist, erfolgt eine neue Wiederverkörperung – und zwar auch in niederen Daseinsbereichen.
Darum ist das eigentliche Ziel die radikale Aufhebung dieses Kreislaufs – die völlige Befreiung vom Leiden. Und das ist genau das, was Patañjali lehrt – als einzig erstrebenswertes Ziel.
Das Ganze hat auch eine metaphysische Grundlage: Im Sāṃkhya, also dem philosophischen System hinter dem Yoga Sūtra, hat der Kosmos eine Art Mission – nämlich: den puruṣa, also das reine Bewusstsein, aus seiner Verstrickung mit der materiellen Welt zu befreien. Das geschieht durch Erkenntnis: Indem man die grundlegende Verschiedenheit von Geist und Materie durchschaut.
Das sind sehr abstrakte Vorstellungen – der Text äußert sich jedoch kaum zur alltäglichen Praxis. Und das hat wohl auch damit zu tun, dass er ein Angebot für verschiedene asketische Traditionen machen will. Er will anschlussfähig sein – auch für Gruppen, die sich in ihren Praktiken unterscheiden. Deswegen formuliert er abstrakte Konzepte, aber kaum konkrete Anleitungen.
Wenn man etwas darüber wissen will, wie solche Asketen tatsächlich gelebt haben, müsste man z. B. in andere Quellen schauen: den Schriften der Jainas oder der Buddhisten, das Dharmaśāstra (also die brahmanische Rechtsliteratur) oder auch in erzählende Literatur, in der Asketen vorkommen. Das sind natürlich keine historischen Berichte im engeren Sinn, aber sie spiegeln zumindest Vorstellungen darüber, wie Asketen zu leben hatten und was als glaubwürdig galt.

Wie verbindlich waren die yamas und niyamas?

L. von Ostrowski – Das sind natürlich sehr abstrakte Vorstellungen. Aber über das konkrete Leben dieser Yogis sagt der Text nicht viel, oder?

P. Maas – Genau – das Pātañjalayogaśāstra ist eher als Übersicht über Regeln und Prinzipien zu verstehen, weniger als konkrete Alltagsschilderung. Ich hatte ja vorher bereits die yamas und niyamas erwähnt – also ethische und persönliche Disziplinen. Das sind zentrale Elemente im Yoga, ja. Aber wie diese im Alltag genau umgesetzt wurden, ist schwer zu sagen. Ich würde sagen: Sie waren wie Idealnormen, die in unterschiedlichen asketischen Traditionen unterschiedlich konkret ausgelegt und gelebt wurden. Und ja, sie waren sicher eine tägliche Richtschnur. Aber wir wissen eben nicht, inwieweit sie eins zu eins befolgt wurden – oder befolgt werden konnten.

S. Schönberger – Also würdest du sagen: Das waren Zielvorstellungen – aber im Alltag sicher auch mit Abweichungen?

P. Maas – Genau. Wir wissen nicht, wie Yogis im 4. oder 5. Jahrhundert in Indien tatsächlich gelebt haben. Wenn im Text steht: „Gewaltlosigkeit, Wahrhaftigkeit, Enthaltsamkeit …“ – dann ist das eine Idealisierung. Natürlich waren die Yogis damals auch nicht „vollkommene Heilige“. Ich denke, es gab durchaus Menschen, die diesen Idealen sehr ernsthaft nachgegangen sind. Und gerade die yamas – also die fünf ethischen Selbstverpflichtungen – nimmt der Text ja besonders ernst. Dazu gehören: ahiṃsā – Gewaltlosigkeit, satya – Wahrhaftigkeit, asteya – Nichtstehlen, brahmacarya – Keuschheit und aparigraha – Besitzlosigkeit.
Das sind übrigens dieselben Selbstverpflichtungen, die auch für Jaina-Mönche und Nonnen gelten – und deren konkrete Umsetzung in der Jaina-Literatur in extremer Detailtiefe geregelt ist. Auch im Buddhismus gibt es ähnliche Regeln – keine exakte Entsprechung, aber verwandte Strukturen. Und trotzdem wissen wir etwa, dass buddhistische Klöster in jener Zeit auch als Bankhäuser fungiert haben – was z. B. mit dem Ideal der Besitzlosigkeit schwer vereinbar ist.
Das heißt: Wo Menschen sind, da müssen Kompromisse geschlossen werden zwischen den Ansprüchen des alltäglichen Lebens und der spirituellen Praxis. Das war damals nicht anders als heute.

Was bedeutet das Yoga Sūtra heute?

S. Schönberger – Von dem, was wir jetzt wissen – über die acht Glieder, über die Zielrichtung des Textes, seine Herkunft, seine Adressaten – was davon können wir heute überhaupt noch übernehmen? Oder anders: Gibt es etwas, das wir heute aus dem Yoga Sūtra lernen können? Und was ist vielleicht so anders, dass es auf unsere heutige Lebenswelt gar nicht mehr passt?

P. Maas – Das ist natürlich eine Frage, die letztlich jede:r für sich selbst beantworten muss. Was gibt mir dieser Text – heute, in meinem Leben?
Eines ist aber sicher nicht der Fall: Dass wir es hier mit einer „zeitlosen Wahrheit“ zu tun hätten, die sich einfach kultur- und epochenübergreifend anwenden ließe. Das Yoga Sūtra ist ein Text, der in einem bestimmten historischen, kulturellen und religiösen Kontext entstanden ist. Der Autor hatte bestimmte Intentionen – die hängen zusammen mit seiner Zeit, mit seinem Denken, mit den Diskursen, in die er eingebunden war. Der Text ist ein Sprechakt – ein Sich-Verhalten in der Welt seiner Zeit. Und im Lauf der Jahrhunderte wurde er sehr unterschiedlich interpretiert – schon im vormodernen Indien, und dann natürlich noch einmal grundlegend neu in der Moderne, wie Laura ja schon gesagt hat.
Diese Auslegungen unterscheiden sich teils radikal von dem, was man mit etwas philologischer oder kontextualisierender Mühe als ursprüngliche Intention des Autors rekonstruieren kann. Und trotzdem – oder gerade deshalb – sind viele dieser modernen Lesarten interessante Beiträge, die man ernst nehmen und mit Gewinn lesen kann.
Wenn ich persönlich etwas benennen müsste, das ich aus dem Yoga Sūtra mitnehme, dann vielleicht dies: Dass der Mensch Distanz zu seinen Trieben und Begierden entwickeln kann. Dass er sich nicht überwältigen lassen muss. Dass ein reflektierter Umgang mit sich selbst – gerade in einer Welt des Konsumkapitalismus – eine Form von Freiheit bedeutet. Denn unsere Gegenwart ist geprägt von einer Kultur, die gerade diese Triebe besonders fördert: Konsum, Reizüberflutung, Wachstum um jeden Preis.
Aber wir sehen auch die Grenzen dieses Modells – etwa im Blick auf die Klimakatastrophe. Insofern kann man vielleicht sagen: Der Aufruf zur Selbstbeschränkung, eine Abkehr von unreflektiertem Konsumverhalten und von ausbeuterischem Handeln, gegenüber sich selbst, der Umwelt und auch der Gesellschaft. Das ist eine Botschaft, die heute womöglich aktueller ist als je zuvor.

L. von Ostrowski – Stephanie, wie sieht es aus mit der Lebensführung heutiger Yoga-Übender – verglichen mit den Asketen, an die sich der Text ursprünglich gerichtet hat?

S. Schönberger – Ganz allgemein kann man vermutlich sagen: Die meisten modernen westlichen Yoga-Übenden leben ein ganz anderes Leben als die Asketen, für die der Text ursprünglich gedacht war. Sie sind in der Regel keine Asket:innen – und im Unterschied zur damaligen Zielgruppe, den männlichen Entsagenden, sind es heute überwiegend Frauen, die Yoga üben. Viele von ihnen stehen mitten im Leben, sind berufstätig, kümmern sich um Kinder oder Familie, und suchen weniger den Rückzug aus der Welt als vielmehr einen Weg, in ihr besser zurechtzukommen. Wahrscheinlich verfolgen auch die wenigsten das Ziel, aus saṃsāra, dem Kreislauf von Tod und Wiedergeburt, auszusteigen. Zwar ist ein Wunsch nach Veränderung oder Befreiung durchaus vorhanden, doch meist in einer alltagsnahen, weniger radikalen und absoluten Form. Es geht eher selten um die vollständige Auflösung des körperlich-geistigen Selbst oder um die Erkenntnis der Verschiedenheit von puruṣa und prakṛti. Der Zugang zu diesem Ziel ist für moderne westliche Übende oft auch nicht unmittelbar – was vor allem daran liegt, dass Begriffe wie puruṣa oder prakṛti weder sprachlich noch kulturell selbstverständlich sind.
Zum anderen spielt bei der modernen yogischen Lebensführung auch eine Rolle, wie Yoga heute definiert, verstanden und vermittelt wird. Für die einen ist Yoga vor allem Sport – und nicht mehr. Für andere eine körperliche Praxis, um Körper, Geist und Seele in Einklang zu bringen. Wieder andere verbinden die Āsana-Praxis mit Elementen aus dem Yoga Sūtra, dem (Advaita-)Vedānta, dem Tantra sowie westlicher Esoterik, Breathwork und schamanisch inspirierten Ritualen zu einer sehr individuellen, spirituellen Praxis. Manche üben einmal die Woche, andere täglich. Für die einen ist Yoga Teil eines Lifestyles, für die anderen eine Lebensweise.
Die Art und Weise, wie Yoga heute verstanden, genutzt und gelebt wird, ist also sehr unterschiedlich. Für manche ist es ein fester Bestandteil des Alltags, der auch die Lebensführung mitprägt – für andere bleibt es eine punktuelle körperliche Praxis mit wenig Einfluss auf andere Lebensbereiche.
Oft fehlt in unserer durchgetakteten Gesellschaft auch schlicht die Zeit, um spirituellem Wachstum jenseits der wöchentlichen Yogastunde Raum zu geben. Oder sich tiefer mit den Texten zu beschäftigen, um daraus konkretere Impulse für eine yogische Lebensführung zu gewinnen. Gleichzeitig sind viele dieser Ideen – wie man an den yamas und niyamas sieht – für uns moderne westliche Übende gar nicht in der Unbedingtheit umsetzbar, wie sie von Patañjali als „großes Gelübde“ gefordert werden.
Sie können unsere Lebensführung dennoch beeinflussen und inspirieren – indem wir einen pragmatischen Ansatz wählen, ohne den Kontext zu vergessen, in dem sie stehen.
Ich komme ja aus der Krishnamacharya-/Desikachar-Tradition, mit dem sogenannten Viniyoga-Prinzip, das man ganz knapp so beschreiben kann: „Yoga passt sich dem Menschen an, nicht der Mensch dem Yoga.“ Das bedeutet nicht, dass man willkürlich irgendetwas macht, sondern dass man sich an den individuellen Lebensrealitäten der Übenden orientiert und Methoden, Mittel und Aussagen entsprechend anpasst und umsetzt.
Nehmen wir ahiṃsā: Absolute Gewaltlosigkeit ist in einem aktiven Leben in der Gesellschaft nicht umsetzbar. Aber ich kann mich fragen: Was ist für mich Gewalt? Wo bin ich selbst gewalttätig – in Gedanken, Sprache, Gestik, im Handeln? Zum Beispiel beim Autofahren oder im Umgang mit Menschen, deren Meinung meiner fundamental widerspricht? Und wie kann ich diese Gewalt jeden Tag ein kleines Stück reduzieren?
Wenn ich ahiṃsā zum Beispiel als ökologisches Prinzip verstehe, wird aus einem alten ethischen Gebot plötzlich ein hochaktueller Impuls. Und vielleicht ist auch ein kleines Umdenken schon eine Form von „Ausstieg“ – nicht mehr aus dem Samsāra, aber aus bestimmten gesellschaftlichen Mustern die anderen und uns nicht guttun.

L. von Ostrowski – Hast du noch weitere konkrete Beispiele?

S. Schönberger – Was wir aus dem Text auch lernen können, ist: Disziplin. Das ist ja so ein Wort, das in unserer Zeit nicht besonders beliebt ist – ich erinnere mich an meinen ersten Yogalehrer, der fast allergisch darauf reagiert hat. Aber: Wenn ich etwas lernen oder verändern will, brauche ich sie.
Viele beginnen Yoga, weil sie etwas verändern möchten. Weil da eine Form von duḥkha, also Leid oder Unzufriedenheit, ist, sei es Rückenschmerz oder ein unruhiger Geist. Das ist oft der Ausgangspunkt. Und damit sich etwas verändert, brauche ich eine gewisse Konsequenz. Ohne sie passiert nichts. Es ist wie beim Sprachenlernen: Wenn ich keine Vokabeln lerne, keine Grammatik wiederhole, komme ich nicht weiter. Genauso ist es mit Yoga.
Der Text spricht ja sehr deutlich genau davon: Yoga ist ein Weg des Dranbleibens. Kein gelegentliches Tun, sondern ein lebenslanges Commitment. Und dafür braucht es Vertrauen und Geduld – aber das kann man lernen. Das ist der Impuls, den mir der Text gibt. Der Text sagt auch: Veränderung ist möglich. Ich kann meine Sichtweise verändern, meinen Geist, meinen Umgang mit Emotionen, mit meinen Sinnen. Ich kann innerlich freier werden. Freier von meiner Vergangenheit.
Womit wir beim Thema Freiheit sind. Freiheit von oder Befreiung von etwas. Das ist ja zentral im Yoga Sūtra und kann eine Aufforderung sein sich zu fragen: Was bedeutet Freiheit für mich? Braucht Freiheit vielleicht sogar Disziplin? Für meine Disziplin werde ich belohnt. Das mag ich an diesem Text: Er macht Mut. Er inspiriert. Er zeigt, was möglich ist. Und auch, wie es möglich ist. Zum Beispiel mit Begriffen wie kleśas, die zeigen, was uns innerlich unfrei macht, oder mit bhāvanas, kriyāyoga und aṣṭāṅga – Werkzeuge, um mit der Welt, dem Leben und uns selbst bewusster umzugehen und besser klarzukommen. Die dahinterstehenden Ideen können auch heute eine wertvolle Orientierung sein.

Abschlussgedanken und Kritik am „Yoga-Lifestyle“

L. von Ostrowski – Die letzte Frage – ich weiß gar nicht, ob du sie noch beantworten willst, aber ich stelle sie trotzdem: Was ist eigentlich eine yogische Lebensführung? Und wie unterscheidet sie sich vom Mainstream-„Yoga-Lifestyle“, wie er heute oft gepflegt wird?

S. Schönberger – Das ist eine gute Frage. Historisch betrachtet würde ich sagen: Yogische Lebensführung war lange das Gegenteil von Mainstream. Sie war radikal einem Ziel verschrieben – mit klaren Regeln, Disziplin und der Bereitschaft zum Verzicht auf alles, was von diesem hohen Ziel ablenkt oder wegführt. Zu diesem Verzicht gehörten neben eigenen Mustern und Prägungen auch gesellschaftliche Strukturen oder ein erfülltes Familienleben. Der moderne Yoga-Lifestyle ist heute sehr oft ein weißes Privileg. Er predigt weder Besitz- noch Anspruchslosigkeit, sondern erhebt Yoga zum Business – mit Fokus auf Followerzahlen, Erdfarben und Ästhetik statt auf fundierten Inhalt. Erleuchtung findet auf Bali statt und für die Flugreise dorthin darf die sonst beschworene Liebe zur „Mutter Erde“ auch mal kurz abkühlen.
Zumindest ist das das Bild, das durch soziale Medien und bestimmte Zeitschriften entstehen kann. Das Problem ist: Dieser „Yoga-Lifestyle“ zieht uns tiefer in die Konsumwelt hinein. Anstatt unser Ego zu transformieren, besteht die Gefahr, dass es sogar noch größer wird – als „Yoga-Ego“ oder „Yoga-Charakter“, gerne verbunden mit einem neuen spirituellen Namen und einem Licht-und-Liebe-Vokabular.
Wenn man aber so sehr damit beschäftigt ist, etwas zu sein, kann man leicht vergessen zu fragen: Wie bin ich eigentlich wirklich? Warum reagiere ich so auf die Welt? Was ist der Sinn meines Lebens?
Wenn es überhaupt so etwas wie eine yogische Lebensführung für uns gibt, dann darf sie vielleicht stiller sein. Mehr nach innen gerichtet. Ein bisschen reflektierter. Bescheidener. Und ehrlicher – auch sich selbst gegenüber. Sie könnte von der Frage geleitet sein: Welche Erfahrungen soll mein puruṣa – und all die anderen puruṣas, die mir täglich begegnen – durch mich machen? Und: Wie kann ich dazu beitragen, dass diese Welt mit all ihren Bewohner:innen auch für kommende Generationen noch lebens- und liebenswert ist?

P. Maas – (lachend): Okay, das war eine schöne, kurze Antwort. Möchte jemand noch etwas hinzufügen?

L. von Ostrowski – (lacht): Schönes Interview.

S. Schönberger – Ja, sehr schön.

Die Autoren

Philipp Maas – Stephanie Schönberger – Laura von Ostrowski

Dr. Philipp Maas ist Indologe und lehrt am Institut für Indologie der Universität Leipzig. Seine Forschungsschwerpunkte sind Yoga, indische Philosophie, Medizin und Literatur. Besonders bekannt ist er für seine Arbeiten zur Geschichte des Pātañjala-Yoga, darunter eine kritische Edition des Samādhipāda und der Sammelband Yoga in Transformation.

Stephanie Schönberger, Yogalehrerin BDY/EYU, Autorin und Leiterin des 8sam Yoga Studios in Kaufbeuren. Sie beschäftigt sich seit 2009 intensiv mit dem Yoga Sūtra und unterrichtet es online, in Ausbildungen und bei YogameHome. Sie hat drei Yoga-Bücher veröffentlicht und organisiert das Cura Sui Yogafestival. www.8sam-yoga.de.

Dr. Laura von Ostrowski, Indologin und Kulturwissenschaftlerin, promovierte über modernen Yoga und leitet eine Yogaschule in München. In Ihrer Forschung interessiert sie sich für die Verbindung von (moderner) Yogapraxis mit Textexegese. Ihr Buch – Ein Text in Bewegung (2022) – untersucht das Yoga Sūtra im heutigen Aṣṭāṅga-Yoga. 2025 gründete sie die Yoganerds_Academy, eine Online-Lernplattform für Yogageschichte und -philosophie.

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