Was bedeutet das Yoga Sūtra heute?
S. Schönberger – Von dem, was wir jetzt wissen – über die acht Glieder, über die Zielrichtung des Textes, seine Herkunft, seine Adressaten – was davon können wir heute überhaupt noch übernehmen? Oder anders: Gibt es etwas, das wir heute aus dem Yoga Sūtra lernen können? Und was ist vielleicht so anders, dass es auf unsere heutige Lebenswelt gar nicht mehr passt?
P. Maas – Das ist natürlich eine Frage, die letztlich jede:r für sich selbst beantworten muss. Was gibt mir dieser Text – heute, in meinem Leben?
Eines ist aber sicher nicht der Fall: Dass wir es hier mit einer „zeitlosen Wahrheit“ zu tun hätten, die sich einfach kultur- und epochenübergreifend anwenden ließe. Das Yoga Sūtra ist ein Text, der in einem bestimmten historischen, kulturellen und religiösen Kontext entstanden ist. Der Autor hatte bestimmte Intentionen – die hängen zusammen mit seiner Zeit, mit seinem Denken, mit den Diskursen, in die er eingebunden war. Der Text ist ein Sprechakt – ein Sich-Verhalten in der Welt seiner Zeit. Und im Lauf der Jahrhunderte wurde er sehr unterschiedlich interpretiert – schon im vormodernen Indien, und dann natürlich noch einmal grundlegend neu in der Moderne, wie Laura ja schon gesagt hat.
Diese Auslegungen unterscheiden sich teils radikal von dem, was man mit etwas philologischer oder kontextualisierender Mühe als ursprüngliche Intention des Autors rekonstruieren kann. Und trotzdem – oder gerade deshalb – sind viele dieser modernen Lesarten interessante Beiträge, die man ernst nehmen und mit Gewinn lesen kann.
Wenn ich persönlich etwas benennen müsste, das ich aus dem Yoga Sūtra mitnehme, dann vielleicht dies: Dass der Mensch Distanz zu seinen Trieben und Begierden entwickeln kann. Dass er sich nicht überwältigen lassen muss. Dass ein reflektierter Umgang mit sich selbst – gerade in einer Welt des Konsumkapitalismus – eine Form von Freiheit bedeutet. Denn unsere Gegenwart ist geprägt von einer Kultur, die gerade diese Triebe besonders fördert: Konsum, Reizüberflutung, Wachstum um jeden Preis.
Aber wir sehen auch die Grenzen dieses Modells – etwa im Blick auf die Klimakatastrophe. Insofern kann man vielleicht sagen: Der Aufruf zur Selbstbeschränkung, eine Abkehr von unreflektiertem Konsumverhalten und von ausbeuterischem Handeln, gegenüber sich selbst, der Umwelt und auch der Gesellschaft. Das ist eine Botschaft, die heute womöglich aktueller ist als je zuvor.
L. von Ostrowski – Stephanie, wie sieht es aus mit der Lebensführung heutiger Yoga-Übender – verglichen mit den Asketen, an die sich der Text ursprünglich gerichtet hat?
S. Schönberger – Ganz allgemein kann man vermutlich sagen: Die meisten modernen westlichen Yoga-Übenden leben ein ganz anderes Leben als die Asketen, für die der Text ursprünglich gedacht war. Sie sind in der Regel keine Asket:innen – und im Unterschied zur damaligen Zielgruppe, den männlichen Entsagenden, sind es heute überwiegend Frauen, die Yoga üben. Viele von ihnen stehen mitten im Leben, sind berufstätig, kümmern sich um Kinder oder Familie, und suchen weniger den Rückzug aus der Welt als vielmehr einen Weg, in ihr besser zurechtzukommen. Wahrscheinlich verfolgen auch die wenigsten das Ziel, aus saṃsāra, dem Kreislauf von Tod und Wiedergeburt, auszusteigen. Zwar ist ein Wunsch nach Veränderung oder Befreiung durchaus vorhanden, doch meist in einer alltagsnahen, weniger radikalen und absoluten Form. Es geht eher selten um die vollständige Auflösung des körperlich-geistigen Selbst oder um die Erkenntnis der Verschiedenheit von puruṣa und prakṛti. Der Zugang zu diesem Ziel ist für moderne westliche Übende oft auch nicht unmittelbar – was vor allem daran liegt, dass Begriffe wie puruṣa oder prakṛti weder sprachlich noch kulturell selbstverständlich sind.
Zum anderen spielt bei der modernen yogischen Lebensführung auch eine Rolle, wie Yoga heute definiert, verstanden und vermittelt wird. Für die einen ist Yoga vor allem Sport – und nicht mehr. Für andere eine körperliche Praxis, um Körper, Geist und Seele in Einklang zu bringen. Wieder andere verbinden die Āsana-Praxis mit Elementen aus dem Yoga Sūtra, dem (Advaita-)Vedānta, dem Tantra sowie westlicher Esoterik, Breathwork und schamanisch inspirierten Ritualen zu einer sehr individuellen, spirituellen Praxis. Manche üben einmal die Woche, andere täglich. Für die einen ist Yoga Teil eines Lifestyles, für die anderen eine Lebensweise.
Die Art und Weise, wie Yoga heute verstanden, genutzt und gelebt wird, ist also sehr unterschiedlich. Für manche ist es ein fester Bestandteil des Alltags, der auch die Lebensführung mitprägt – für andere bleibt es eine punktuelle körperliche Praxis mit wenig Einfluss auf andere Lebensbereiche.
Oft fehlt in unserer durchgetakteten Gesellschaft auch schlicht die Zeit, um spirituellem Wachstum jenseits der wöchentlichen Yogastunde Raum zu geben. Oder sich tiefer mit den Texten zu beschäftigen, um daraus konkretere Impulse für eine yogische Lebensführung zu gewinnen. Gleichzeitig sind viele dieser Ideen – wie man an den yamas und niyamas sieht – für uns moderne westliche Übende gar nicht in der Unbedingtheit umsetzbar, wie sie von Patañjali als „großes Gelübde“ gefordert werden.
Sie können unsere Lebensführung dennoch beeinflussen und inspirieren – indem wir einen pragmatischen Ansatz wählen, ohne den Kontext zu vergessen, in dem sie stehen.
Ich komme ja aus der Krishnamacharya-/Desikachar-Tradition, mit dem sogenannten Viniyoga-Prinzip, das man ganz knapp so beschreiben kann: „Yoga passt sich dem Menschen an, nicht der Mensch dem Yoga.“ Das bedeutet nicht, dass man willkürlich irgendetwas macht, sondern dass man sich an den individuellen Lebensrealitäten der Übenden orientiert und Methoden, Mittel und Aussagen entsprechend anpasst und umsetzt.
Nehmen wir ahiṃsā: Absolute Gewaltlosigkeit ist in einem aktiven Leben in der Gesellschaft nicht umsetzbar. Aber ich kann mich fragen: Was ist für mich Gewalt? Wo bin ich selbst gewalttätig – in Gedanken, Sprache, Gestik, im Handeln? Zum Beispiel beim Autofahren oder im Umgang mit Menschen, deren Meinung meiner fundamental widerspricht? Und wie kann ich diese Gewalt jeden Tag ein kleines Stück reduzieren?
Wenn ich ahiṃsā zum Beispiel als ökologisches Prinzip verstehe, wird aus einem alten ethischen Gebot plötzlich ein hochaktueller Impuls. Und vielleicht ist auch ein kleines Umdenken schon eine Form von „Ausstieg“ – nicht mehr aus dem Samsāra, aber aus bestimmten gesellschaftlichen Mustern die anderen und uns nicht guttun.
L. von Ostrowski – Hast du noch weitere konkrete Beispiele?
S. Schönberger – Was wir aus dem Text auch lernen können, ist: Disziplin. Das ist ja so ein Wort, das in unserer Zeit nicht besonders beliebt ist – ich erinnere mich an meinen ersten Yogalehrer, der fast allergisch darauf reagiert hat. Aber: Wenn ich etwas lernen oder verändern will, brauche ich sie.
Viele beginnen Yoga, weil sie etwas verändern möchten. Weil da eine Form von duḥkha, also Leid oder Unzufriedenheit, ist, sei es Rückenschmerz oder ein unruhiger Geist. Das ist oft der Ausgangspunkt. Und damit sich etwas verändert, brauche ich eine gewisse Konsequenz. Ohne sie passiert nichts. Es ist wie beim Sprachenlernen: Wenn ich keine Vokabeln lerne, keine Grammatik wiederhole, komme ich nicht weiter. Genauso ist es mit Yoga.
Der Text spricht ja sehr deutlich genau davon: Yoga ist ein Weg des Dranbleibens. Kein gelegentliches Tun, sondern ein lebenslanges Commitment. Und dafür braucht es Vertrauen und Geduld – aber das kann man lernen. Das ist der Impuls, den mir der Text gibt. Der Text sagt auch: Veränderung ist möglich. Ich kann meine Sichtweise verändern, meinen Geist, meinen Umgang mit Emotionen, mit meinen Sinnen. Ich kann innerlich freier werden. Freier von meiner Vergangenheit.
Womit wir beim Thema Freiheit sind. Freiheit von oder Befreiung von etwas. Das ist ja zentral im Yoga Sūtra und kann eine Aufforderung sein sich zu fragen: Was bedeutet Freiheit für mich? Braucht Freiheit vielleicht sogar Disziplin? Für meine Disziplin werde ich belohnt. Das mag ich an diesem Text: Er macht Mut. Er inspiriert. Er zeigt, was möglich ist. Und auch, wie es möglich ist. Zum Beispiel mit Begriffen wie kleśas, die zeigen, was uns innerlich unfrei macht, oder mit bhāvanas, kriyāyoga und aṣṭāṅga – Werkzeuge, um mit der Welt, dem Leben und uns selbst bewusster umzugehen und besser klarzukommen. Die dahinterstehenden Ideen können auch heute eine wertvolle Orientierung sein.