Spiritualität und Yoga Teil 1

Mitten im Leben bei sich sein

T.K.V. Desikachar
Abb. 1

Dieser Artikel gibt einen Vortrag wieder, den T.K.V. Desikachar 1999 auf dem Yoga-Symposium - Yoga für das 2. Jahrtausend – Narbonne / Südfrankreich hielt. (Übersetzung Andrea Tocki).

Der Vortrag setzt sich mit dem Verständnis und dem Zusammenhang von Spiritualität und Yoga auseinander. Er thematisiert die Frage, in welchem größeren Zusammenhang der Yoga den Menschen sieht und wie er als Weg dazu beitragen kann, das Gefühl von Isoliertheit, das viele Menschen empfinden, zu überwinden.

Während es im hier wiedergegebenen Vortrag um das Verständnis des Yoga, was Spiritualität und seine Rolle in Bezug darauf bedeutet, ging, war die anschließende Diskussion geprägt von einer Problematisierung der Übernahme des indischen Modells von Spiritualität durch den Westen.

Diese Diskussion entspann sich zwischen T.K.V. Desikachar und den beiden anderen ReferentInnen des Symposiums. Dr. Emilio Serrano, Psychiater und Neurologe aus Alicante / Spanien, und Dr. Imogen Dalmann, Yogalehrerin und Ärztin / Berlin.

Spiritualität und Yoga Teil 1

Mitten im Leben bei sich sein

T.K.V. Desikachar
Abb. 1

Dieser Artikel gibt einen Vortrag wieder, den T.K.V. Desikachar 1999 auf dem Yoga-Symposium - Yoga für das 2. Jahrtausend – Narbonne / Südfrankreich hielt. (Übersetzung Andrea Tocki).

Der Vortrag setzt sich mit dem Verständnis und dem Zusammenhang von Spiritualität und Yoga auseinander. Er thematisiert die Frage, in welchem größeren Zusammenhang der Yoga den Menschen sieht und wie er als Weg dazu beitragen kann, das Gefühl von Isoliertheit, das viele Menschen empfinden, zu überwinden.

Während es im hier wiedergegebenen Vortrag um das Verständnis des Yoga, was Spiritualität und seine Rolle in Bezug darauf bedeutet, ging, war die anschließende Diskussion geprägt von einer Problematisierung der Übernahme des indischen Modells von Spiritualität durch den Westen.

Diese Diskussion entspann sich zwischen T.K.V. Desikachar und den beiden anderen ReferentInnen des Symposiums. Dr. Emilio Serrano, Psychiater und Neurologe aus Alicante / Spanien, und Dr. Imogen Dalmann, Yogalehrerin und Ärztin / Berlin.

Spiritualität und Yoga Teil 1

Mitten im Leben bei sich sein

T.K.V. Desikachar
Abb. 1

Dieser Artikel gibt einen Vortrag wieder, den T.K.V. Desikachar 1999 auf dem Yoga-Symposium - Yoga für das 2. Jahrtausend – Narbonne / Südfrankreich hielt. (Übersetzung Andrea Tocki).

Der Vortrag setzt sich mit dem Verständnis und dem Zusammenhang von Spiritualität und Yoga auseinander. Er thematisiert die Frage, in welchem größeren Zusammenhang der Yoga den Menschen sieht und wie er als Weg dazu beitragen kann, das Gefühl von Isoliertheit, das viele Menschen empfinden, zu überwinden.

Während es im hier wiedergegebenen Vortrag um das Verständnis des Yoga, was Spiritualität und seine Rolle in Bezug darauf bedeutet, ging, war die anschließende Diskussion geprägt von einer Problematisierung der Übernahme des indischen Modells von Spiritualität durch den Westen.

Diese Diskussion entspann sich zwischen T.K.V. Desikachar und den beiden anderen ReferentInnen des Symposiums. Dr. Emilio Serrano, Psychiater und Neurologe aus Alicante / Spanien, und Dr. Imogen Dalmann, Yogalehrerin und Ärztin / Berlin.

Ein Einstieg

Um das Thema Spiritualität und Yoga anzugehen, möchte ich Sie zuerst auf eine Reise zu den Spuren unserer Vorfahren mitnehmen. Die alten Weisen haben sich auf eine langwierige Suche vom Sichtbaren hin zum Unsichtbaren begeben. Warum taten sie dies, obwohl sie ein Leben führten, das sehr viel härter war als das unsrige?

Vielleicht verfügten sie nicht über genügend Wissen, um glücklich zu sein, vielleicht hatten sie Freude am Suchen? Ich weiß es nicht. Jedenfalls glaubten sie zunächst, dass das, was sie vor Augen hatten, die einzige Realität sei: Wasser, Feuer, Wind, Erde …

Später stellten sie fest, dass es Unterschiede zwischen diesen Naturausformungen und den menschlichen Lebewesen gibt. Sie erkannten, dass Menschen noch etwas Zusätzliches besitzen, das wir sonst in der Natur nicht beobachten können. Die Natur ist sehr mächtig, aber der Mensch kann auf sie einwirken. Er kann sie beobachten und sie verstehen.

Und sie fragten sich: Welcher Mechanismus macht dieses Untersuchen möglich?

Bewusst-Sein ist vielfältig

Die Weisen unter unseren Vorfahren begannen nun, eine Methode zu entwickeln und auf den Punkt zu bringen, mit der man nicht nur die Phänomene der Natur beobachten konnte, sondern auch die Werkzeuge, die wir als Menschen bei der Beobachtung von grob- und feinstofflichen Dingen benutzen. So konnten sie durch genaue Selbstbeobachtung drei menschliche Zustände feststellen:

  • Im ersten Zustand sind wir anwesend: Wir können etwas berühren und wir können wahrnehmen und empfinden: Wir sind wach.
  • Im zweiten Zustand sind wir offenkundig abwesend; es ist so, als ob nichts mehr existiert und dennoch kommen wir später wieder zum Vorschein: Das ist der tiefe, traumlose Schlaf.
  • Der dritte Zustand befindet sich zwischen den zwei vorigen. Er lässt sich so beschreiben: Wir können bestimmte Dinge sehen, sie sogar wertschätzen. Wir können Angst empfinden oder uns freuen. Wollen wir uns in der Realität aber noch einmal davon überzeugen, so verschwindet alles. Das ist der Traum.

Wir sind uns bewusst, dass wir uns in jedem dieser drei Zustände schon einmal befunden haben. Aber welcher ist wirklich? In welchem befindet sich die Wahrheit?

Es gibt eine Geschichte, die diese drei verschiedenen Aspekte gut illustriert.

Ein großer König, der sehr weise und von allen geschätzt war, schlief ganz friedlich, als man ihm eines Tages die Nachricht überbrachte, dass er in großer Gefahr sei. Er solle aus seinem Palast fliehen und sein Land schnellstmöglich verlassen. In größter Hast tat er wie ihm geheißen und kam bis an die Grenzen seines Landes. Völlig ausgehungert und erschöpft sah er sich nach einem Ort um, an dem er sich ausruhen und etwas zu sich nehmen konnte.
Er entdeckte einen Platz, an dem man Essen an Bettler verteilte. Aber alle Bettler hatten ihr Mahl schon beendet und waren verschwunden. Durch eine glückliche Fügung entdeckte der König in der Küche aber noch etwas Reis auf dem Boden eines Topfes. Hocherfreut trug er ihn nach draußen und wusch sich – wie es der Brauch will – das Gesicht und die Hände. Als er zurückkam, war gerade ein Rabe damit beschäftigt, die letzten Reis­körner aus dem Topf herauszupicken. Völlig verzweifelt schrie der König: „Mein Gott! Es ist nichts übrig geblieben!“ Bei diesen Worten erwachte er.
Es war nur ein Traum gewesen. Aber von diesem Tag an wurde der König depressiv. Er sprach nicht mehr und sah krank aus. Wenn man ihn fragte, was geschehen war, antwortete er nur beständig „Wo ist die Wahrheit?“
Niemand verstand ihn, weil er das Erlebnis des Traumes mit niemandem geteilt hatte. Sein Zustand verschlimmerte sich und endlich vertraute er sich seinem Ratgeber an. „Man sagt, ich sei ein König, obwohl ich doch um meine Nahrung betteln musste und als ich sie nicht erhielt, zu schreien anfing. Was ist wirklich? Bin ich ein König, ein Bettler oder vielleicht noch etwas ganz anderes?“

„Vergiss, dass Du der König bist!“, antwortete der Meister. „Vergiss, dass du ein Bettler bist. Aber vergiss nicht, dass etwas in Dir beide Situationen kennt und noch viele andere mehr. Dieses Etwas ist die Wahrheit, die Wirklichkeit.“

„Es nimmt manchmal die Maske des Traumes an, manchmal die des Wachseins oder auch die von verschiedenen anderen Zuständen. Aber stets hast du diese Wahrheit in dir, die von allem weiß, was geschehen ist.“

Zu dem Thema, das den König und seinen Ratgeber beschäftigte, äußert sich der Yoga folgendermaßen:

Die Fähigkeit zu sehen oder zu beobachten existiert in uns, egal, ob wir wach sind, ob wir schlafen oder ob wir träumen. Wenn wir darin fest verankert sind, lassen wir uns von all den Veränderungen, die ringsumher geschehen, nicht mehr verwirren. Andernfalls können wir von allem, was sich bewegt, in jedem Moment fortgerissen werden und völlig durcheinander geraten.

Sich nicht mehr ins Außen verlieren

Ich weiß nicht, was das Wort Spiritualität genau meint, es gibt dafür in der indischen Tradition keinen entsprechenden Begriff.

Aber ich habe das Gefühl, dass sie in dem Augenblick beginnt, in dem wir aufhören, uns in dem, was außen ist, zu verlieren.

Die äußere Wirklichkeit verändert sich ständig. Manchmal ist sie vorhersehbar – manchmal nicht. Versuchen wir, das mithilfe eines Bildes zu verstehen:

Stellen Sie sich ein Rad vor! Die grundsätzliche Idee wäre dann, sich ins Zentrum dieses Rades zu begeben und der äußeren Realität beim Kreisen zuzusehen, das Spektakel wertzuschätzen, aber sich nicht dadurch darin zu verlieren, dass wir am äußeren Rand des Rades haften.

Sich zurückziehen, um bei sich selbst zu sein

Übertragen auf den Yoga heißt dies: Zwei grundsätzliche Ausrichtungen sind möglich.

  • Einerseits nach außen. Das entspricht einer Art zu leben wie ein Fluss, den die Strömung immer nur in eine Richtung fließen lässt.
  • Die andere besteht darin, das Wasser des Flusses zurückzuhalten, damit es sich nach innen ergießt – zu uns selbst hin.

Wenn wir vom Außen angezogen werden, identifizieren wir uns damit. Wir verwechseln es mit unserem Zentrum und der Yoga glaubt, dass wir dadurch verhindern, zu erkennen, wer wir sind.
Hier und an diesem Tag heute machen wir auf einem Symposium gerade gemeinsam eine schöne Erfahrung. Morgen werde ich aber ganz wo anderes sein, unter anderen Menschen, in einer anderen Umgebung, mit ganz anderen Aufgaben.

Es kann leicht passieren, dass ich die Situation hier, die Erfahrungen, die Aufgaben, die sich hier ergeben, auf eine solche Weise mit mir trage, dass ich keine Hand frei habe, nach einer neuen Erfahrung zu greifen.

Ich finde dann keine Klarheit darüber, wo genau ich mich befinde. Wenn ich mich aber nach der heutigen Erfahrung für eine Zeit zurückziehe, nur bei mir selbst bin, kann ich mich so frei von ihr machen, dass ich offen werde für die folgende Erfahrung und dort ganz und gar präsent bin.

Im Yoga gibt es die Idee, sich für eine bestimmte Zeit von der äußeren Welt zurückzuziehen. Ich tue dies aber nicht um meiner selbst willen, sondern um für mich meinen eigenen Platz zu finden und völlig bei dem zu sein, was kommen wird.

Ich muss also zunächst einen Schritt rückwärts machen, um etwas Abstand zu bekommen. Dann kann ich den nächsten Schritt vorwärts tun, und mich mit etwas Neuem verbinden.

In Indien verlangen einige bedeutsame Tempel sehr hohe Eintrittsgelder und außerdem muss man einen Platz sehr lange im Voraus reservieren. Manche wichtige Leute gehen gerne dorthin. Wenn sie sich dort begegnen, sind sie nur zur Hälfte wirklich dort im Tempel. Manchmal begleite ich meine Familie dorthin und habe bei dieser Gelegenheit Leute im Allerheiligsten von Geschäften reden hören, nur weil zufällig ihr Geschäftspartner neben ihnen kniete. Im Büro haben dieselben Leute noch ständig davon gesprochen, dass sie diesen bedeutungsvollen Tempel aufsuchen würden. Wenn sie sich nur ein wenig in sich selbst zurückgezogen hätten, wären all ihre Anstrengungen, die sie unternommen haben, um einen Platz im Tempel zu erhalten und dort Segnungen zu empfangen, belohnt worden.

Hier noch eine Geschichte aus der heutigen Zeit.

Ein Mann, der sich in Schwierigkeiten befand, betete zu Gott, um einen Rat von ihm zu erhalten. Der Herr erschien ihm im Traum und sagte: „Sei an einem bestimmten Ort um 18.30 Uhr.“ Ich werde dort sein und Dir Ratschläge erteilen!“.
Der Mann begab sich nun zu dem angegebenen Ort; aber um 18.25 Uhr klingelte sein Handy. Er begann ein Gespräch mit dem Anrufer und als er wieder auf seine Uhr sah, war es 18.40 Uhr. Er sah sich um, aber Gott war abwesend. Also sagte er sich „Wie dumm bin ich nur. Es war doch ein Traum. Ich hätte ihn nicht für wahr nehmen sollen.“

Die Moral von der Geschichte: Es reicht nicht aus, in den Tempel zu gehen. Man muss dabei auch sein Handy ausschalten, sich loslösen von allem, wofür es steht, um wirklich aufnahmebereit zu sein, für alles, was es dort zu empfangen gibt.

Yoga: Sich entlasten, sich klären

Man kann sagen, dass Yoga der Prozess ist, in dem die Möglichkeit geschaffen wird, eine spirituelle Erfahrung zu machen. Ohne Yoga wären wir mit dem Handy im Tempel oder wir würden dort über geschäftliche Angelegenheiten reden.

Mein Vater (T. Krishnamacharya) beschrieb dies mit einem sehr einfachen Beispiel: Wenn man Milch in einem Gefäß zum Kochen bringt, in dem man zuvor andere Speisen zubereitet hat, ohne ihn zuvor zu reinigen, wird diese Milch anbrennen.

Normalerweise muss ich damit anfangen, zunächst das Gefäß zu reinigen und erst dann die Milch hineinzugießen und sie zu erhitzen. Genauso müssen wir verfahren, wenn wir die Erfahrung dessen machen wollen, was so einzigartig und schön in uns ruht.

Neben anderen Absichten ist es grundsätzliches Ziel der Körper- und Atemübungen des Yoga: das Gefäß zu reinigen.

Es ist, als ob jede Einatmung Reinigungsmittel in das Gefäß füllte, jede Atemverhaltung es scheuerte und jede Ausatmung die Verunreinigungen wieder entfernte.

Ist dies getan, kann die Milch in das Gefäß gefüllt werden und wir können die Erfahrung kosten.

Bereit sein

Unsere indischen Modelle für die spirituelle Praxis verlangen einen inneren Prozess, in dem ich ein Bewusstsein entwickle, das ich wie folgt zusammenfassen würde.

Jetzt bin ich bereit. Ich meine damit, dass ich das Gefäß reinigen kann. Ich weiß auch, wo es sich befindet und ich bin mir sicher, dass es tatsächlich um dieses bestimmte Gefäß geht. Was immer auch geschehen wird, dank einer großen inneren Kraft werde ich nun dies tun und nichts anderes.

Wir nennen dies ein saṅkalpa. Es ist ein fester Vorsatz, der in einer bewussten Art und Weise abläuft.

Ich muss mich entscheiden, ernsthaft zu handeln. Ich fasse einen Entschluss. Zum Beginn muss ich mich erst einmal vergewissern, dass ich nicht mit anderen Dingen überlastet bin. Denn wenn ich nicht wirklich bereit bin, werde ich nicht bei meinem Entschluss bleiben können. Wenn ich diese Prozedur nicht korrekt vollziehe, riskiere ich, das Gefäß zu verunreinigen, anstatt es zu säubern.

Was heißt das alles nun übertragen auf einen Menschen? Sie wissen sicher, dass der Yoga jenes Gefäß, das gereinigt werden muss, als unseren Geist identifiziert hat.

Es ist unser Geist, der einem Prozess der Klärung zu unterziehen ist.

Ich muss zugeben, dass der Geist nicht leicht zu reinigen ist, trotz aller Techniken, über die wir verfügen. Manche Örtlichkeiten und Gegenstände können mit sehr sanften Reinigungsmitteln gesäubert werden, für andere benötigt man ausgesprochen starke Mittel.

Der Geist indessen erfordert ein wirksames, kraftvolles Mittel, aber zugleich muss auch sichergestellt sein, dass das Mittel ihm keinen Schaden zufügt oder ihn gar zerstört. Was als ein wirksames Mittel für die Klärung des Geistes taugt, kann nur ermittelt werden, wenn der kulturelle und lebensgeschichtliche Hintergrund der jeweiligen Person genügend Berücksichtigung findet.

Platz schaffen für das Licht in uns

Betrachten wir das menschliche Wesen, so ist es das Schöne am spirituellen Prozess, dass Menschen überhaupt keine Milch in das Gefäß gießen müssen. Es reicht aus, unseren Geist regelmäßig zu klären, damit etwas erscheinen kann: In uns ist beständig ein großes Licht anwesend und aktiv, unabhängig davon, ob wir es wahrnehmen oder nicht.

Aus dem Blickwinkel des Yoga ist es dieses Licht, das erscheinen kann. Nach der schönen Nachricht nun die bedauerliche: Leider sind wir so beschaffen, dass im Laufe unseres Lebens unser Geist ohne Unterlass mit Verunreinigungen beladen wird, die dieses innere Leuchten verschleiern. Auch wenn es sich in der Praxis immer als langwierig und oft sehr vertrackt erweist, bleibt das Prinzip des Yoga ein ausgesprochen einfaches:

Je mehr wir reinigen, um so mehr erstrahlt dieses innere Leuchten. Und dies aus seiner eigenen Kraft heraus. Für diesen Prozess ist es nicht nötig, irgendetwas von außen, was auch immer es sein mag, hinzuzufügen.

Im Wesentlichen besteht also der Prozess des Yoga darin, zu eliminieren. Der Rest geschieht dann von allein. Wenn wir uns an die Sonne wenden, möchten wir, dass sie die Wolken vertreibt, die das strahlende Scheinen des Lichtes verhindern. Im Falle unseres Geistes verlangt es jedoch eine große Kraft und eine Stetigkeit im Bemühen, um die Wolken zu vertreiben. Wenn das Licht scheint, erlaubt es uns, die äußere Welt zu sehen. Wenn es getrübt ist, ist es unsere Sicht von der Welt ebenso.

Ich bestehe auf diesem Punkt, weil es nicht nur eine innere Wirklichkeit gibt. Das Außen ist ebenfalls real und es geht darum, die Welt so zu sehen, wie sie ist, und nicht so, wie wir sie uns vorstellen.

Zusammenfassend kann man also sagen: Wir besitzen in uns ein wunderbares Licht. Aber da es verborgen ist, erreichen wir nicht immer das, was uns eigentlich möglich ist. Beschäftigt mit dem Versuch, auf die Anforderungen des Lebens eine Antwort zu finden, vernachlässigen wir in aller Regel die Struktur unseres Geistes, der dadurch trüb wird. Letztlich kommen wir dahin, zu glauben, dass das Licht sich außen befände, was dazu führt, dass wir eine Menge Energie auf der falschen Seite investieren.

Das wirkliche Licht befindet sich in uns. Der Name, dem wir diesem Licht geben (Gott, Bewusstsein oder anderes), ist unwichtig. Yoga ist der Prozess des Wiedererkennens und des Aufleuchten-Lassens dieses Lichtes. ▼

Ein Einstieg

Um das Thema Spiritualität und Yoga anzugehen, möchte ich Sie zuerst auf eine Reise zu den Spuren unserer Vorfahren mitnehmen. Die alten Weisen haben sich auf eine langwierige Suche vom Sichtbaren hin zum Unsichtbaren begeben. Warum taten sie dies, obwohl sie ein Leben führten, das sehr viel härter war als das unsrige?

Vielleicht verfügten sie nicht über genügend Wissen, um glücklich zu sein, vielleicht hatten sie Freude am Suchen? Ich weiß es nicht. Jedenfalls glaubten sie zunächst, dass das, was sie vor Augen hatten, die einzige Realität sei: Wasser, Feuer, Wind, Erde …

Später stellten sie fest, dass es Unterschiede zwischen diesen Naturausformungen und den menschlichen Lebewesen gibt. Sie erkannten, dass Menschen noch etwas Zusätzliches besitzen, das wir sonst in der Natur nicht beobachten können. Die Natur ist sehr mächtig, aber der Mensch kann auf sie einwirken. Er kann sie beobachten und sie verstehen.

Und sie fragten sich: Welcher Mechanismus macht dieses Untersuchen möglich?

Bewusst-Sein ist vielfältig

Die Weisen unter unseren Vorfahren begannen nun, eine Methode zu entwickeln und auf den Punkt zu bringen, mit der man nicht nur die Phänomene der Natur beobachten konnte, sondern auch die Werkzeuge, die wir als Menschen bei der Beobachtung von grob- und feinstofflichen Dingen benutzen. So konnten sie durch genaue Selbstbeobachtung drei menschliche Zustände feststellen:

  • Im ersten Zustand sind wir anwesend: Wir können etwas berühren und wir können wahrnehmen und empfinden: Wir sind wach.
  • Im zweiten Zustand sind wir offenkundig abwesend; es ist so, als ob nichts mehr existiert und dennoch kommen wir später wieder zum Vorschein: Das ist der tiefe, traumlose Schlaf.
  • Der dritte Zustand befindet sich zwischen den zwei vorigen. Er lässt sich so beschreiben: Wir können bestimmte Dinge sehen, sie sogar wertschätzen. Wir können Angst empfinden oder uns freuen. Wollen wir uns in der Realität aber noch einmal davon überzeugen, so verschwindet alles. Das ist der Traum.

Wir sind uns bewusst, dass wir uns in jedem dieser drei Zustände schon einmal befunden haben. Aber welcher ist wirklich? In welchem befindet sich die Wahrheit?

Es gibt eine Geschichte, die diese drei verschiedenen Aspekte gut illustriert.

Ein großer König, der sehr weise und von allen geschätzt war, schlief ganz friedlich, als man ihm eines Tages die Nachricht überbrachte, dass er in großer Gefahr sei. Er solle aus seinem Palast fliehen und sein Land schnellstmöglich verlassen. In größter Hast tat er wie ihm geheißen und kam bis an die Grenzen seines Landes. Völlig ausgehungert und erschöpft sah er sich nach einem Ort um, an dem er sich ausruhen und etwas zu sich nehmen konnte.
Er entdeckte einen Platz, an dem man Essen an Bettler verteilte. Aber alle Bettler hatten ihr Mahl schon beendet und waren verschwunden. Durch eine glückliche Fügung entdeckte der König in der Küche aber noch etwas Reis auf dem Boden eines Topfes. Hocherfreut trug er ihn nach draußen und wusch sich – wie es der Brauch will – das Gesicht und die Hände. Als er zurückkam, war gerade ein Rabe damit beschäftigt, die letzten Reis­körner aus dem Topf herauszupicken. Völlig verzweifelt schrie der König: „Mein Gott! Es ist nichts übrig geblieben!“ Bei diesen Worten erwachte er.
Es war nur ein Traum gewesen. Aber von diesem Tag an wurde der König depressiv. Er sprach nicht mehr und sah krank aus. Wenn man ihn fragte, was geschehen war, antwortete er nur beständig „Wo ist die Wahrheit?“
Niemand verstand ihn, weil er das Erlebnis des Traumes mit niemandem geteilt hatte. Sein Zustand verschlimmerte sich und endlich vertraute er sich seinem Ratgeber an. „Man sagt, ich sei ein König, obwohl ich doch um meine Nahrung betteln musste und als ich sie nicht erhielt, zu schreien anfing. Was ist wirklich? Bin ich ein König, ein Bettler oder vielleicht noch etwas ganz anderes?“

„Vergiss, dass Du der König bist!“, antwortete der Meister. „Vergiss, dass du ein Bettler bist. Aber vergiss nicht, dass etwas in Dir beide Situationen kennt und noch viele andere mehr. Dieses Etwas ist die Wahrheit, die Wirklichkeit.“

„Es nimmt manchmal die Maske des Traumes an, manchmal die des Wachseins oder auch die von verschiedenen anderen Zuständen. Aber stets hast du diese Wahrheit in dir, die von allem weiß, was geschehen ist.“

Zu dem Thema, das den König und seinen Ratgeber beschäftigte, äußert sich der Yoga folgendermaßen:

Die Fähigkeit zu sehen oder zu beobachten existiert in uns, egal, ob wir wach sind, ob wir schlafen oder ob wir träumen. Wenn wir darin fest verankert sind, lassen wir uns von all den Veränderungen, die ringsumher geschehen, nicht mehr verwirren. Andernfalls können wir von allem, was sich bewegt, in jedem Moment fortgerissen werden und völlig durcheinander geraten.

Sich nicht mehr ins Außen verlieren

Ich weiß nicht, was das Wort Spiritualität genau meint, es gibt dafür in der indischen Tradition keinen entsprechenden Begriff.

Aber ich habe das Gefühl, dass sie in dem Augenblick beginnt, in dem wir aufhören, uns in dem, was außen ist, zu verlieren.

Die äußere Wirklichkeit verändert sich ständig. Manchmal ist sie vorhersehbar – manchmal nicht. Versuchen wir, das mithilfe eines Bildes zu verstehen:

Stellen Sie sich ein Rad vor! Die grundsätzliche Idee wäre dann, sich ins Zentrum dieses Rades zu begeben und der äußeren Realität beim Kreisen zuzusehen, das Spektakel wertzuschätzen, aber sich nicht dadurch darin zu verlieren, dass wir am äußeren Rand des Rades haften.

Sich zurückziehen, um bei sich selbst zu sein

Übertragen auf den Yoga heißt dies: Zwei grundsätzliche Ausrichtungen sind möglich.

  • Einerseits nach außen. Das entspricht einer Art zu leben wie ein Fluss, den die Strömung immer nur in eine Richtung fließen lässt.
  • Die andere besteht darin, das Wasser des Flusses zurückzuhalten, damit es sich nach innen ergießt – zu uns selbst hin.

Wenn wir vom Außen angezogen werden, identifizieren wir uns damit. Wir verwechseln es mit unserem Zentrum und der Yoga glaubt, dass wir dadurch verhindern, zu erkennen, wer wir sind.
Hier und an diesem Tag heute machen wir auf einem Symposium gerade gemeinsam eine schöne Erfahrung. Morgen werde ich aber ganz wo anderes sein, unter anderen Menschen, in einer anderen Umgebung, mit ganz anderen Aufgaben.

Es kann leicht passieren, dass ich die Situation hier, die Erfahrungen, die Aufgaben, die sich hier ergeben, auf eine solche Weise mit mir trage, dass ich keine Hand frei habe, nach einer neuen Erfahrung zu greifen.

Ich finde dann keine Klarheit darüber, wo genau ich mich befinde. Wenn ich mich aber nach der heutigen Erfahrung für eine Zeit zurückziehe, nur bei mir selbst bin, kann ich mich so frei von ihr machen, dass ich offen werde für die folgende Erfahrung und dort ganz und gar präsent bin.

Im Yoga gibt es die Idee, sich für eine bestimmte Zeit von der äußeren Welt zurückzuziehen. Ich tue dies aber nicht um meiner selbst willen, sondern um für mich meinen eigenen Platz zu finden und völlig bei dem zu sein, was kommen wird.

Ich muss also zunächst einen Schritt rückwärts machen, um etwas Abstand zu bekommen. Dann kann ich den nächsten Schritt vorwärts tun, und mich mit etwas Neuem verbinden.

In Indien verlangen einige bedeutsame Tempel sehr hohe Eintrittsgelder und außerdem muss man einen Platz sehr lange im Voraus reservieren. Manche wichtige Leute gehen gerne dorthin. Wenn sie sich dort begegnen, sind sie nur zur Hälfte wirklich dort im Tempel. Manchmal begleite ich meine Familie dorthin und habe bei dieser Gelegenheit Leute im Allerheiligsten von Geschäften reden hören, nur weil zufällig ihr Geschäftspartner neben ihnen kniete. Im Büro haben dieselben Leute noch ständig davon gesprochen, dass sie diesen bedeutungsvollen Tempel aufsuchen würden. Wenn sie sich nur ein wenig in sich selbst zurückgezogen hätten, wären all ihre Anstrengungen, die sie unternommen haben, um einen Platz im Tempel zu erhalten und dort Segnungen zu empfangen, belohnt worden.

Hier noch eine Geschichte aus der heutigen Zeit.

Ein Mann, der sich in Schwierigkeiten befand, betete zu Gott, um einen Rat von ihm zu erhalten. Der Herr erschien ihm im Traum und sagte: „Sei an einem bestimmten Ort um 18.30 Uhr.“ Ich werde dort sein und Dir Ratschläge erteilen!“.
Der Mann begab sich nun zu dem angegebenen Ort; aber um 18.25 Uhr klingelte sein Handy. Er begann ein Gespräch mit dem Anrufer und als er wieder auf seine Uhr sah, war es 18.40 Uhr. Er sah sich um, aber Gott war abwesend. Also sagte er sich „Wie dumm bin ich nur. Es war doch ein Traum. Ich hätte ihn nicht für wahr nehmen sollen.“

Die Moral von der Geschichte: Es reicht nicht aus, in den Tempel zu gehen. Man muss dabei auch sein Handy ausschalten, sich loslösen von allem, wofür es steht, um wirklich aufnahmebereit zu sein, für alles, was es dort zu empfangen gibt.

Yoga: Sich entlasten, sich klären

Man kann sagen, dass Yoga der Prozess ist, in dem die Möglichkeit geschaffen wird, eine spirituelle Erfahrung zu machen. Ohne Yoga wären wir mit dem Handy im Tempel oder wir würden dort über geschäftliche Angelegenheiten reden.

Mein Vater (T. Krishnamacharya) beschrieb dies mit einem sehr einfachen Beispiel: Wenn man Milch in einem Gefäß zum Kochen bringt, in dem man zuvor andere Speisen zubereitet hat, ohne ihn zuvor zu reinigen, wird diese Milch anbrennen.

Normalerweise muss ich damit anfangen, zunächst das Gefäß zu reinigen und erst dann die Milch hineinzugießen und sie zu erhitzen. Genauso müssen wir verfahren, wenn wir die Erfahrung dessen machen wollen, was so einzigartig und schön in uns ruht.

Neben anderen Absichten ist es grundsätzliches Ziel der Körper- und Atemübungen des Yoga: das Gefäß zu reinigen.

Es ist, als ob jede Einatmung Reinigungsmittel in das Gefäß füllte, jede Atemverhaltung es scheuerte und jede Ausatmung die Verunreinigungen wieder entfernte.

Ist dies getan, kann die Milch in das Gefäß gefüllt werden und wir können die Erfahrung kosten.

Bereit sein

Unsere indischen Modelle für die spirituelle Praxis verlangen einen inneren Prozess, in dem ich ein Bewusstsein entwickle, das ich wie folgt zusammenfassen würde.

Jetzt bin ich bereit. Ich meine damit, dass ich das Gefäß reinigen kann. Ich weiß auch, wo es sich befindet und ich bin mir sicher, dass es tatsächlich um dieses bestimmte Gefäß geht. Was immer auch geschehen wird, dank einer großen inneren Kraft werde ich nun dies tun und nichts anderes.

Wir nennen dies ein saṅkalpa. Es ist ein fester Vorsatz, der in einer bewussten Art und Weise abläuft.

Ich muss mich entscheiden, ernsthaft zu handeln. Ich fasse einen Entschluss. Zum Beginn muss ich mich erst einmal vergewissern, dass ich nicht mit anderen Dingen überlastet bin. Denn wenn ich nicht wirklich bereit bin, werde ich nicht bei meinem Entschluss bleiben können. Wenn ich diese Prozedur nicht korrekt vollziehe, riskiere ich, das Gefäß zu verunreinigen, anstatt es zu säubern.

Was heißt das alles nun übertragen auf einen Menschen? Sie wissen sicher, dass der Yoga jenes Gefäß, das gereinigt werden muss, als unseren Geist identifiziert hat.

Es ist unser Geist, der einem Prozess der Klärung zu unterziehen ist.

Ich muss zugeben, dass der Geist nicht leicht zu reinigen ist, trotz aller Techniken, über die wir verfügen. Manche Örtlichkeiten und Gegenstände können mit sehr sanften Reinigungsmitteln gesäubert werden, für andere benötigt man ausgesprochen starke Mittel.

Der Geist indessen erfordert ein wirksames, kraftvolles Mittel, aber zugleich muss auch sichergestellt sein, dass das Mittel ihm keinen Schaden zufügt oder ihn gar zerstört. Was als ein wirksames Mittel für die Klärung des Geistes taugt, kann nur ermittelt werden, wenn der kulturelle und lebensgeschichtliche Hintergrund der jeweiligen Person genügend Berücksichtigung findet.

Platz schaffen für das Licht in uns

Betrachten wir das menschliche Wesen, so ist es das Schöne am spirituellen Prozess, dass Menschen überhaupt keine Milch in das Gefäß gießen müssen. Es reicht aus, unseren Geist regelmäßig zu klären, damit etwas erscheinen kann: In uns ist beständig ein großes Licht anwesend und aktiv, unabhängig davon, ob wir es wahrnehmen oder nicht.

Aus dem Blickwinkel des Yoga ist es dieses Licht, das erscheinen kann. Nach der schönen Nachricht nun die bedauerliche: Leider sind wir so beschaffen, dass im Laufe unseres Lebens unser Geist ohne Unterlass mit Verunreinigungen beladen wird, die dieses innere Leuchten verschleiern. Auch wenn es sich in der Praxis immer als langwierig und oft sehr vertrackt erweist, bleibt das Prinzip des Yoga ein ausgesprochen einfaches:

Je mehr wir reinigen, um so mehr erstrahlt dieses innere Leuchten. Und dies aus seiner eigenen Kraft heraus. Für diesen Prozess ist es nicht nötig, irgendetwas von außen, was auch immer es sein mag, hinzuzufügen.

Im Wesentlichen besteht also der Prozess des Yoga darin, zu eliminieren. Der Rest geschieht dann von allein. Wenn wir uns an die Sonne wenden, möchten wir, dass sie die Wolken vertreibt, die das strahlende Scheinen des Lichtes verhindern. Im Falle unseres Geistes verlangt es jedoch eine große Kraft und eine Stetigkeit im Bemühen, um die Wolken zu vertreiben. Wenn das Licht scheint, erlaubt es uns, die äußere Welt zu sehen. Wenn es getrübt ist, ist es unsere Sicht von der Welt ebenso.

Ich bestehe auf diesem Punkt, weil es nicht nur eine innere Wirklichkeit gibt. Das Außen ist ebenfalls real und es geht darum, die Welt so zu sehen, wie sie ist, und nicht so, wie wir sie uns vorstellen.

Zusammenfassend kann man also sagen: Wir besitzen in uns ein wunderbares Licht. Aber da es verborgen ist, erreichen wir nicht immer das, was uns eigentlich möglich ist. Beschäftigt mit dem Versuch, auf die Anforderungen des Lebens eine Antwort zu finden, vernachlässigen wir in aller Regel die Struktur unseres Geistes, der dadurch trüb wird. Letztlich kommen wir dahin, zu glauben, dass das Licht sich außen befände, was dazu führt, dass wir eine Menge Energie auf der falschen Seite investieren.

Das wirkliche Licht befindet sich in uns. Der Name, dem wir diesem Licht geben (Gott, Bewusstsein oder anderes), ist unwichtig. Yoga ist der Prozess des Wiedererkennens und des Aufleuchten-Lassens dieses Lichtes. ▼

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