Veränderung gestalten – Teil 1

Veränderung als positive Vision, Veränderung als Ziel von Yoga, Veränderung als Auslöser für leidvolle Erfahrungen. Veränderung als zu akzeptierendes Phänomen dieser Welt, Veränderung als etwas, auf das wir Einfluss nehmen können. Veränderung als Meditationsgegenstand, Veränderung als Erfahrung in jeder Praxis.

Mithilfe des Yoga machen wir uns auf unterschiedlichen Ebenen mit Veränderungen vertraut, verstehen besser, auf welche Art und Weise sie sich vollziehen und wann und wo man sich in diese Prozesse einbringen kann. Der Artikel zum Yoga Sūtra widmet sich dem Beginn des vierten Kapitels; dem Thema –Veränderung.

Veränderung gestalten – Teil 1

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Mithilfe des Yoga machen wir uns auf unterschiedlichen Ebenen mit Veränderungen vertraut, verstehen besser, auf welche Art und Weise sie sich vollziehen und wann und wo man sich in diese Prozesse einbringen kann. Der Artikel zum Yoga Sūtra widmet sich dem Beginn des vierten Kapitels; dem Thema –Veränderung.

Veränderung gestalten – Teil 1

Veränderung als positive Vision, Veränderung als Ziel von Yoga, Veränderung als Auslöser für leidvolle Erfahrungen. Veränderung als zu akzeptierendes Phänomen dieser Welt, Veränderung als etwas, auf das wir Einfluss nehmen können. Veränderung als Meditationsgegenstand, Veränderung als Erfahrung in jeder Praxis.

Mithilfe des Yoga machen wir uns auf unterschiedlichen Ebenen mit Veränderungen vertraut, verstehen besser, auf welche Art und Weise sie sich vollziehen und wann und wo man sich in diese Prozesse einbringen kann. Der Artikel zum Yoga Sūtra widmet sich dem Beginn des vierten Kapitels; dem Thema –Veränderung.

Veränderung durch Yoga

Das letzte Kapitel des Yoga Sūtra unterscheidet sich deutlich von seinen drei Vorgängern. Im ersten Kapitel geht es um den Zusammenhang zwischen Yoga und der Rolle, die unser Geist in unserem Leben spielt. Im zweiten Kapitel und zu Beginn des dritten Teils des Textes werden systematische Mittel und Wege aufgezeigt, wie wir auf unseren Geist einwirken können. Der dritte Teil behandelt dann ein weiteres Thema: Welche Errungenschaften sind einem Menschen, der sich mithilfe des Yoga verändert, schließlich möglich, welche können ihn befriedigen, wie kann oder soll er damit umgehen? Jeder der drei Teile spielt eine besondere Rolle in der Argumentation und in der Vermittlung dessen, was Yoga ist und was Yoga kann.

Wenn man jedoch das letzte Kapitel des Yoga Sūtra durchblättert, könnte man meinen, Patañjali hält nur Rückschau. Vieles kommt einem bekannt vor: Bereits angesprochene Themen werden noch einmal aufgegriffen, aus einem anderen Blickwinkel beleuchtet. Es werden Argumente ausgetauscht mit Diskussionspartnern, die nicht beim Namen genannt werden, die aber zur Zeit Patañjalis offenbar ernst zu nehmende, vom Yoga abweichende Positionen vertraten. Und es wird ein letzter Blick eröffnet auf Horizonte, zu denen die Yogapraxis einen Menschen führen kann: Freiheitkaivalya.

Aber auch dazu konnte man im zweiten Teil des Textes schon Wichtiges hören, sodass sich bei der Lektüre des vierten Kapitels die Frage aufdrängt:

Warum eigentlich dieses letzte, 4. Kapitel?

Und interessanterweise wurde diese Frage in indologischen Kreisen tatsächlich immer wieder gestellt und diskutiert, ob dieses Kapitel wirklich von Patañjali verfasst oder später von anderen hinzugefügt wurde. Wenn man sich aber, mit einem Interesse an der praktischen Relevanz des Yoga, dem vierten Kapitel zuwendet, wird man schnell feststellen, dass man vorrangig in den ersten vierzehn Sūtren auf Spannendes und Hilfreiches stößt.

Zwar behandeln auch diese Sūtren einen Fragenkomplex, der im Yoga Sūtra schon vielfach Thema war, aber sie diskutieren ihn hier noch einmal auf eine ganz neue Art und Weise: auf das Thema Veränderung.

So wird zu Beginn des vierten Kapitels das Thema Veränderung entlang wichtiger Fragen entfaltet, die sich stellen, wenn mit Yoga etwas bewirkt werden soll, wenn Yoga als Mittel zur Veränderung angeboten wird:

  • Wie entsteht Veränderung?
  • Was geschieht, wenn wir uns verändern und neue Fähigkeiten entwickeln?
  • Was ist der Kern von Veränderung, ihre Anatomie?
  • Welche Faktoren spielen bei der Veränderung von Menschen eine Rolle?
  • Welche Mittel sind notwendig, um etwas, das bisher nur potenziell vorhanden war, zur Entfaltung zu bringen – oder: Wie können wir Veränderung gezielt beeinflussen?
  • Was trägt zu einer wünschenswerten Veränderung bei und was nicht?
  • Welche Umstände sind dabei positiv zu bewerten, welche negativ?

Und hinter all dem steht die Frage:

  • Wie festgelegt sind wir und wie frei können wir sein und werden?

Siddhis – außergewöhnliche Fähigkeiten

Am Anfang der ganzen Diskussion steht die Analyse einer Erfahrung, die man damals wie heute machen kann; sie lautet:

Es gibt Menschen, die über besondere, manchmal sogar außergewöhnliche Fähigkeiten verfügen; das Wort dafür lautet im Sanskrit siddhi oder vibhūthi.

Vibhūti-pāda ist das dritte Kapitel des Yoga Sūtra überschrieben, in dem in einer langen Aufzählung, die verschiedensten siddhis genannt werden, die durch Yoga möglich werden können.

Diese vielen siddhis interessieren Patañjali zu Beginn des vierten Kapitels nicht mehr besonders. An dieser Stelle ist es ihm wichtiger, nach den verschiedenen Ursachen zu fragen, die solchen Fähigkeiten einzelner Menschen zugrunde liegen. Mit deren Darstellung beginnt das vierte Kapitel.

Janma

In einer Aufzählung verschiedener Ursachen für siddhis nennt er dort an erster Stelle janma. Es bedeutet: bestimmte Menschen haben von Geburt an besondere Fähigkeiten und Eigenschaften. Das überrascht heute nicht mehr. So wie im Genie eines Mozart oder Yehudi Menuhin, eines Einstein oder Goethe etwas Angeborenes erkannt werden kann, so kannte und kennt Indien Menschen, denen ihr Genie, ihre besonderen Fähigkeiten in die Wiege gelegt wurden.

Auch heute noch glauben viele Menschen in Indien, dass bestimmte Menschen von Geburt an über ganz besondere Fähigkeiten verfügen, wie:

  • aus Asche Gold zu machen
  • über Wasser zu gehen
  • Tote zum Leben zu erwecken
  • tagelang ohne Atem auszukommen....

Der Begriff siddhi bezeichnet solche besonderen Fähigkeiten, die aber auch auf andere Weise erworben werden können. Patañjali sieht sie dann als Ergebnis einer Veränderung, die ein Mensch bewusst angestrebt hat. War er vor mehr oder weniger langer Zeit noch ein unauffälliger durchschnittlicher Zeitgenosse, so hat er sich verändert und beeindruckt nun durch Außergewöhnliches.

Patañjalis Begründungen mögen heute befremdlich erscheinen, aber sie zeigen, welche Vorstellungen damals in Indien üblich waren. Die historische und kulturelle Prägung dieser Erklärungsversuche ist unübersehbar, Patañjali beschreibt verschiedene: oṣadhi, mantra und tapas.

janma oṣadhi māntra tāpaḥ sāmādhijāḥ siddhyaḥ
Yoga Sūtra, 4. Kapitel - Sūtra 1

Besondere Fähigkeiten können sich entwickeln durch: Geburt, Kräuter, Mantra, Askese, den Yogaweg.

Oṣadhi

Neben den Glücklichen, die zu ihren siddhis ohne eigenes Zutun gekommen sind, galt es als möglich, über den Weg religiöser Rituale zu besonderen Fähigkeiten zu gelangen. Patañjali verwendet hier das Wort oṣadhi. Wörtlich übersetzt bedeutet es Kräuter, ein Hinweis darauf, dass es in früheren Zeiten üblich war, Rituale mit der Einnahme von heilenden oder bewusstseinsverändernden Pflanzen zu verbinden.

Aber auch allein die aktive Teilnahme von Menschen an priesterlich geleiteten Ritualen verändert in dieser Vorstellung Menschen und verleiht ihnen besondere Gaben. Ihre Fähigkeiten werden gleichsam als Geschenk Gottes in seiner vielfältigen Gestalt verstanden, den sie mithilfe der Priester und eines festgelegten Rituals angerufen haben.

Mantra

Eine dritte Möglichkeit, besondere Fähigkeiten zu entwickeln, besteht nach Patañjali in der Übertragung und Rezitation eines Mantras. Ein solches Mantra kann eine Passage aus den Veden sein, z. B. das Gāyatri-Mantra, oder eine Silbe wie Om oder Soham, um nur drei bekannte Mantren zu nennen.

Natürlich war es auch damals schon leicht, solche Silben zu hören oder sogar zu lesen – aber das machte sie noch lange nicht zu Mantren in dem hier beschriebenen Sinne.

Damit eine Silbe zum Mantra wurde, bedurfte es besonderer Rituale, Vorbereitungen, ganz besonderer Umstände.

So war es etwa üblich zu glauben, dass ein Mantra bereits bearbeitet, d. h. ausführlich praktiziert worden sein musste, bevor es wirksam an eine andere Person weitergegeben werden konnte. Dies bedeutete, dass die Person, die ein Mantra weitergab, zuvor viel eigene Erfahrung und Arbeit in die Praxis dieses Mantras investiert hatte. Einige Stimmen gingen sogar so weit zu behaupten, dass beim Weitergeben eines Mantras ein Teil der eigenen Energie verloren gehen könne.

Wenn ein Mensch mit Hilfe eines Mantras siddhi entwickeln wollte, bedurfte es neben dem oben Gesagten vor allem der eigenen Anstrengung.

Es entsprach einer weitverbreiteten Vorstellung, dass ein Mantra nur dann seinen Dienst tun könne, wenn man es wie ein Werkzeug benutzte. auch das ist übrigens eine Deutung des Wortes Mantra: Werkzeug für den Geist Das Mantra muss auf eine bestimmte Weise und mit einer bestimmten Regelmäßigkeit rezitiert werden, es muss Teil einer bestimmten Praxis werden, sonst wird es seine Wirkung nicht entfalten.

Tapas

Viel Respekt wurde in Indien aber auch den VertreterInnen eines anderen Weges zur Erlangung von siddhis entgegengebracht, Menschen, die oft spektakuläre außergewöhnliche Fähigkeiten entwickelten – den Asketen.

Durch Askese – tapas – zwingt man Körper und Geist seinen starken Willen auf. Solche Menschen sind auch heute noch in religiösen Zentren wie Rishikesh, Hardwar oder Varanasi sehr beliebt. Indische Touristen und Pilger lassen sich dort gerne von Asketen segnen, und für westliche Touristen gilt die Begegnung mit den oft exotisch anmutenden Asketen bisweilen immer noch als die Begegnung mit dem wahren Indien.

Tapas, wörtlich – die Glut, ist das Zaubermittel, aus dem die Fähigkeit erwächst, an zwei Orten gleichzeitig zu sein, Gewichte von ungeheurem Ausmaß zu heben oder zweifelsfrei in eine für andere ungewisse Zukunft zu blicken. Aber natürlich gab es immer auch Kritik an der Askese. Nicht nur, dass seine Wirksamkeit bezweifelt wurde, wie es etwa von Buddha überliefert ist. Auch wenn durch Askese tatsächlich besondere Fähigkeiten entwickelt werden, wurde zu allen Zeiten der Sinn dieser enormen Anstrengungen infrage gestellt.

Ein schönes Beispiel für diese skeptische Haltung gegenüber Asketen beschreibt eine kleine Geschichte, die über Ramakrishna, einen indischen Heiligen des letzten Jahrhunderts, erzählt wird: Als Ramakrishna eines Tages mit einigen seiner Anhänger am Ufer des Ganges in Varanasi spazieren ging, tauchte plötzlich ein Mann neben ihnen auf. Erstaunt fragte Ramakrishna ihn, wie er hierhergekommen sei. Er sei über das Wasser gekommen, teilte der Fremde nicht ohne Stolz mit und fügte hinzu, dass er dieses siddhi durch vierzig Jahre strengster Askese erlangt habe. Daraufhin habe Ramakrishna ihn kopfschüttelnd gefragt, ob er denn nicht die paar Rupien habe, um den Fährmann zu bezahlen.

Samādhi

Die bisher genannten Ursachen für siddhis liegen also offensichtlich außerhalb des Yogaweges, wie ihn Patañjali in den vorhergehenden Kapiteln des Yoga Sūtra dargelegt hat. Mit der letzten Methode, die Patañjali als Wegbereiter für außergewöhnliche Fähigkeiten bezeichnet, kehrt er nun zu seinem Yoga zurück.

Diese Methode ist jedem Yogapraktizierenden bekannt: samādhi. Im engeren Sinne bezeichnet samādhi im Yoga Sūtra das Ergebnis einer gelungenen Meditation. Es bedeutet, den Gegenstand der Meditation mit Verstand und Herz verstanden zu haben.

Samādhi steht für Patañjali hier aber als Inbegriff für den ganzen – gelungenen – Yogaweg. Samādhi bedeutet, so T. Krishnamacharya zu dieser Stelle, alle acht Aspekte des Yoga auf dem gelungenen Yogaweg unter dem sorgfältig wachenden Auge eines Lehrers.

Was sind außergewöhnliche Fähigkeiten?

Gehören wir zu den Menschen, die Berichten über das Materialisieren von Gold aus Asche, das Gehen auf Wasser oder glühender Kohle Glauben schenken? Oder nehmen wir die abenteuerlichen Erzählungen über die Fähigkeiten von Yogis, wie sie der berühmte Indienreisende Paul Brunton in seinem Buch *Magier, Fakire, Yogis* beschrieben hat, für bare Münze?

Dann beschränkt sich unser Verständnis von siddhi im Sinne von außergewöhnlich auf Wunder und Magie. Siddhi kann aber auch etwas viel Bescheideneres bedeuten: Aus einem Menschen, der etwas nicht oder bisher nicht konnte (a-sadh), ist jemand geworden, der es nun kann (sadh). Er ist ein siddha geworden, einer, der jetzt über besondere Fähigkeiten verfügt, und das, was er jetzt kann, ist siddhi.

Was siddhi ist und was nicht, ist nicht immer auf den ersten Blick zu erkennen. Vielleicht würden wir alle dem folgenden die gleiche Bedeutung beimessen, wenn wir ein Kind betrachten, das vor einem halben Jahr noch nicht lesen konnte und jetzt über das siddhi des Lesens verfügt. Denn es liegt auf der Hand, was es für das Kind bedeutet, lesen zu können: Es eröffnet ihm eine vollkommen neue Welt, es schafft ihm Wege zu größerer Unabhängigkeit, es öffnet ihm Türen zu Räumen des Wissens und der Fantasie, die ihm ohne diese besondere Fähigkeit, dieses siddhi, völlig verschlossen waren und geblieben wären. Ein erwachsener Mensch hingegen wird, wenn er einen anderen erwachsenen Menschen betrachtet, nicht dazu neigen, Lesenkönnen als etwas Außergewöhnliches zu betrachten; aber schon wenn er einem der vielen Menschen begegnet, die erst im Erwachsenenalter lesen gelernt haben, wird ihm klar, welch außergewöhnliche Fähigkeit dies auch für einen Erwachsenen sein kann.

Oder denken wir an einen Menschen, der seine Wut nicht im Zaum halten kann, oder an einen anderen, den die Angst vor Krankheit versklavt. Für sie wäre es mehr als außergewöhnlich, wenn sie ihre Wut, ihre Angst verlieren könnten. Siddhi zu erlangen kann also, so verstanden, sehr Unterschiedliches bedeuten, mit anderen Worten:

Außergewöhnlich muss nicht gleichbedeutend sein mit magisch, übernatürlich, unerklärlich.

Genau das fällt bei der Darstellung der siddhis im dritten Kapitel der Yoga Sūtras auf: Patañjali sieht in ihnen nichts Übernatürliches. Vielmehr bemüht er sich, für viele der von ihm vorgestellten besonderen Fähigkeiten eine einleuchtende und nachvollziehbare Erklärung zu geben.

Lehrer/in sein – das siddhi der Begleitung

Das vierte Kapitel des Yoga Sūtra beginnt also mit der Darstellung der verschiedenen Wege, auf denen siddhis, neue Fähigkeiten, neue Potenziale, Veränderungen erreicht werden können.

T. Krishnamacharya hatte vorgeschlagen, dieses erste Sūtra als Auftakt zu einer Diskussion zu verstehen, die bis zu diesem Zeitpunkt im Yoga Sūtra nicht explizit geführt wurde, eine Diskussion über das Thema Lehrer.

Zwei Aspekte stehen dabei im Mittelpunkt:

  1. Auch Lehrende gehören zu den Menschen mit besonderen Fähigkeiten. Nicht jeder ist dazu geeignet, einem anderen Menschen etwas zu vermitteln, ihn in seiner Entwicklung erfolgreich zu begleiten. Dieser Gedanke ist nicht verwunderlich, wenn wir unsere eigenen Erfahrungen betrachten: Wenn wir uns an unsere Schulzeit erinnern, so gab es dort gute Lehrerinnen und solche, die wir nicht gut fanden. Was machte die Guten so besonders? Sie verstanden es, auf uns einzugehen, unsere Persönlichkeit zu respektieren, unsere Stärken zu erkennen, uns zu helfen, mit unseren Schwächen umzugehen, unser Interesse zu wecken.
    Sie haben zu unserer Veränderung, zu unserem Wachstum beigetragen. LehrerInnen müssen also einen guten Blick auf die verborgenen Möglichkeiten, für die Stärken und Schwächen ihrer SchülerInnen, für deren besonderen Charakter haben. Sie müssen verstehen, was diesem Schüler hilft, was jenem aber eher Schwierigkeiten bereitet, wie man jene anspricht und fordert, wie man jenen fördert.
    Gleiches gilt für die Weitergabe von Yogawissen und Yogaweisheiten, für die Begleitung eines Wachstumsprozesses persönlicher Art. Alle östlichen Traditionen, ob sie nun Vedānta, Buddhismus in seinen verschiedenen Ausprägungen, Sāṃkhya oder eben Yoga hießen, konnten sich einen persönlichen Wachstumsprozess ohne die enge Begleitung durch einen guten Lehrer, eine gute Lehrerin nicht vorstellen.
    Aber auch heute gelingt die Vermittlung einer Methode, einer Erfahrung, eines Wissens nur dann wirklich gut, wenn die Lernenden als Menschen erreicht werden. Und das berücksichtigt alle modernen pädagogischen Methoden. Soweit die Seite der Lehrenden.
  2. Die Menschen kommen zum Yoga, weil sie sich verändern wollen. Sicher wollen sie nicht lernen, trockenen Fußes, den Ganges zu überqueren, aber sie suchen nach neuen Möglichkeiten, wollen ihre Potenziale erweitern, wollen kompetenter werden im Umgang mit sich selbst, mit den Anforderungen des Lebens, suchen nach spiritueller Entwicklung.
    Welche Rolle kann eine Yogalehrerin, ein Yogalehrer in diesem Prozess spielen, wie kann sie, wie kann er – um in der Sprache der Yoga Sūtras zu sprechen – helfen, das gewünschte siddhi zu entwickeln? Diese beiden Aspekte des Yogalehrens, die persönliche Entwicklung der Yogalehrenden einerseits und ihre Rolle im Entwicklungsprozess ihrer Schülerinnen und Schüler andererseits, stellt T. Krishnamacharya in den Mittelpunkt der Betrachtung der ersten Sūtren des vierten Kapitels.

Ein Exkurs

Bevor mit diesem Thema weiter fortgefahren wird, zunächst ein kurzer Exkurs zu einer ganz grundsätzlichen Frage, die sich immer dann stellt, wenn verschiedene Interpretationen eines alten Textes wie des Yoga Sūtra voneinander abweichen. Sie ist wichtig, weil der Blick auf die Lehrerthematik in diesem Teil des Yoga Sūtra, so wie er in Folge dargestellt wird, nur in der Lesart T.Krishnamacharyas (und damit natürlich auch T.K.V. Desikachars) zu finden ist.

Daraus folgt die Frage: Gibt es nur eine oder gibt es mehrere Lesarten?

Alte Texte konfrontieren einen mit dem Problem, dass ihre Aussagen und Botschaften kontrovers verstanden werden können. Solche Verständnisunterschiede gibt es nicht nur bezogen auf das Yoga Sūtra, geschrieben in einem fremden Sanskrit, entstanden weit weg in Indien.

Auch die Arbeitslosenzahlen, das Gutachten der sogenannten Wirtschaftsweisen, der neueste Film von Woody Allen: Wie das alles zu verstehen ist, im Ganzen, aber auch im Detail, ist keineswegs eindeutig und unumstritten.

Das gilt natürlich erst recht für Begriffe und Texte, die nicht mehr mit denen diskutiert werden können, die sie vor Jahrhunderten entwickelt und niedergeschrieben haben, wie Kants Kritik der reinen Vernunft, Voltaires Schriften und andere. Und besonders schwierig wird es, wenn komplexe Sachverhalte nur stichwortartig dargestellt werden, wie dies im Yoga Sūtra der Fall ist. Wie kann man also bei alten Texten überhaupt sicher sein, dass die Lesarten späterer Generationen noch etwas mit den ursprünglichen Aussagen zu tun haben? Gibt es eine Hilfe, einen Hinweis, der im Erfassen und Verstehen der alten Schriften sicherer machen könnte? Und wo ist sie zu finden?

Yoga ist ein anuśāsanam

Wenn wir in einer gut sortierten Buchhandlung nach dem Yoga Sūtra fragen, werden uns verschiedene Ausgaben angeboten werden. Beim vergleichenden Lesen einiger Textstellen zeigen sich schnell große Unterschiede. Allenfalls der erste der 195 Sūtras klingt überall gleich: Nun folgt die Erklärung der Lehre des Yoga.

Doch dann wird es schwierig. Wir merken schnell, dass wir ab jetzt auf die Interpretation dessen angewiesen sind, dessen Übersetzung wir in Händen halten.

Diese Situation kann an einem Sūtra verdeutlicht werden, das später im Rahmen des Themas Wandel noch von Bedeutung sein wird. Es zeigt die unterschiedlichen Auffassungen am Beispiel des vierten Sūtras im vierten Kapitel: Die erschaffenen citta (stammen) aus der reinen (kosmischen) Ich-bin-Einheit. So übersetzt Helmut Maldoner. Yoga Sūtra, der Leitfaden des Patañjali, Papyrus-Verlag 1987 Bei Bettina Bäumer, die die Übersetzung des Yoga Sūtras von Deshpande ins Deutsche übertragen hat, liest sich dasselbe Sūtra wie folgt: Das (individuell) geschaffene Bewusstsein entsteht allein aus dem Ich-Bewusstsein. Die Wurzeln des Yoga, Scherz-Verlag 1982 I.K. Taimni übersetzt: Künstlich erschaffene Mentalkörper (entstehen) allein aus dem Ich-Bewußtsein. I.K. Taimni, die Wissenschaft des Yoga, Hirthammer Verlag 1982 Und T.K.V. Desikachar versteht das Sūtra so: Ein Mensch, der außergewöhnliche Fähigkeiten in seinem Geist entwickelt hat, kann eine Veränderung im Geist anderer Menschen bewirken. Über Freiheit und Meditation – das Yoga Sūtra des Patañjali – eine Einführung, Verlag Via Nova 1997

Wie es zu solch großen Unterschieden kommen kann, liegt hauptsächlich im Charakter des Yoga Sūtra selbst begründet. Das ist im Zusammenhang mit diesem Text schon oft gesagt worden: Patañjali hat ihn ausdrücklich als Leitfaden verfasst, an dem entlang die Inhalte des Systems Yoga dargelegt werden konnten und sollten. Ganz selbstverständlich ging man damals davon aus, dass eine verständliche Darlegung weit über die kurzen Aphorismen des Textes hinausgehen musste. Dazu bedurfte es eines mit diesem System vertrauten und sehr erfahrenen Menschen, und einer lebendigen Lehrsituation. Nur deshalb konnte der Text selbst so abgefasst werden, dass jedes Sūtra eher als Überschrift denn als umfassende Erklärung zu verstehen war. Eine Überschrift, die dann nach einer ausführlichen Darstellung der damit angesprochenen Inhalte verlangt.

Für die Erarbeitung dieser umfangreichen Inhalte der einzelnen Sūtras, also für ihre Lektüre, ihre Interpretation, gab es damals nur einen Weg: den persönlichen und individuellen Kontakt mit, die Lehrzeit bei einem Lehrer.

Diese enge Verbindung von Lehre und LehrerIn war übrigens nicht nur eine im Fernen Osten gepflegte Art der Wissensvermittlung und des Lehrsystems. Ähnlich war es früher auch in unserem Kulturkreis, beispielsweise in den Philosophenschulen des antiken Griechenlands oder den Klosterschulen und Mönchsorden des christlichen Mittelalters. Auch in den Geisteswissenschaften, der Psychologie, Mathematik und Physik prägten große Lehrerinnen und Lehrer maßgeblich den Fortschritt.

Und auch heute ist uns dieser Zusammenhang von Lehrerpersönlichkeit einerseits und vermitteltem Inhalt andererseits nicht vollkommen fremd. Das gilt für viele positive Erfahrungen mit Lehrerinnen und Lehrern in der Schule und in jedem Fall im Bereich der Musik und der Künste. Besonders deutlich wird dies bei den verschiedenen Formen der Körperarbeit, die oft die Namen der Lehrerinnen und Lehrer tragen, die die Methode begründet haben, wie Feldenkrais, Alexander, Goralewski oder Middendorf.

In den östlichen Traditionen, und damit auch im Yoga, wurde sehr viel Wert auf Sicherheit, Qualität und Kontinuität in der Weitergabe von Wissen, Lehren und Erfahrungen gelegt.

Wie kann es gelingen, eine Lehre, eine Anweisung, ein Wissen, ein System in seiner ursprünglichen Form zu erhalten?

Eine wesentliche Antwort auf diese Frage war die Entwicklung einer Methode, die primär im Yoga sorgfältig entwickelt und gepflegt wurde: Anuśāsanam, wörtlich: einer Lehre folgen.

Anuśāsanam beschreibt das Wie.

  • Wie kann ich Yoga überhaupt verstehen lernen?
  • Wie lerne ich am besten?
  • Unter welchen Bedingungen?

Für den Yoga bedeutete das:

  • Seine Inhalte waren nicht aus dem Lesen von schriftlichen Texten zu verstehen, sondern waren an eine Person als Lehrenden gebunden, die die Kompetenz über den Text ebenfalls mithilfe eines Lehrenden erworben hatte.
  • Der Lernprozess war von verschiedenen Verbindlichkeiten geprägt:
    • von einer persönlichen Lehr-Lern-Beziehung zwischen zwei Personen
    • von der Akzeptanz der Lehrenden durch die Lernenden
    • von der Bereitschaft und Geduld der Lernenden, sich auf den Text einzulassen
    • von der Fähigkeit der Lehrenden, auf alle Fragen und Schwierigkeiten der Lernenden einzugehen
    • von der Aufforderung zum kritischen Denken und der Ermutigung, das Verstandene in der Praxis zu überprüfen
  • Die eigene, erfolgreiche Erfahrung mit Yoga wurde als absolut notwendige Voraussetzung verstanden, um auch dessen Theorie vermitteln zu können.
  • Die Weitergabe des Gelernten und Verstandenen geschah nicht nach eigenem Gutdünken, sondern wurde vom Lehrer, von der Lehrerin initiiert. Im Idealfall verstand sich ein Yogalehrer also nicht nur als Mittler zwischen Text und Mensch, sondern sicherte sich diese Funktion auch durch die Einhaltung bestimmter Regeln im Unterrichtsprozess. Zu diesen Regeln gehörte, dass seine persönlichen Ambitionen darin nichts zu suchen hatten, dass seine Vorlieben und Abneigungen nicht in die Vermittlung des Textes einfließen durften.

Gut, könnte man nun sagen, wenn das so ist – warum gibt es dann nicht nur eine Version des Yoga Sūtra?

Dass die Methode des anuśāsanam eine Stärke hat, die gleichzeitig aber auch ihre Schwachstelle ist, das war schon den alten LehrerInnen bewusst. Sie ist an lebende Menschen gebunden.

  • Fand ein Lehrer, eine Lehrerin immer jemanden, der die Lehre weitergab?
  • Was, wenn jemand starb, bevor das Werk der Weitergabe vollendet war?
  • Was, wenn der Lehrer, die Lehrerin nicht so kompetent war, wie es den Anschein hatte; wenn die Lernenden nicht genug Ausdauer hatten und vorzeitig wegliefen?
  • Was, wenn ein Schüler dem Unterricht etwas Neues hinzufügte oder etwas wegließ?
  • Muss eine Methode nicht immer wieder an die sich verändernden Bedingungen des Lehrens, Lernens, Lebens und der Welt angepasst werden?
  • Wer darf das, wer kann das, wer soll das?

Schon die Entstehungsgeschichte des schriftlichen Textes der Yoga Sūtra zeigt, wie fragil diese Methode der Überlieferung war. Trotz aller Bemühungen um Kontinuität, um die Aufrechterhaltung einer lebendigen und ungebrochenen Weitergabe der Lehre, scheint es mehr als fraglich, ob dies wirklich gelungen ist.

Schon als Patañjalis Text zum ersten Mal in schriftlicher Form das Licht der Welt erblickte, wurde ihm eine Erklärung beigegeben: der berühmte Kommentar des Vyāsa. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass Vyāsa ein direkter Schüler Patañjalis war; er lebte wahrscheinlich etwa zweihundert Jahre später als dieser. Wir wissen nicht, von wem er das Yoga Sūtra gelernt hat. Es ist sogar möglich, dass der Lehrer-Schüler-Faden, den die anuśāsanam-Methode voraussetzt, von Anfang an abgerissen war. Übrigens gehen manche indischen Erzählungen in ihrem Bemühen, das immer wiederkehrende Phänomen des Traditionsabbruchs zu ignorieren, so weit, dass sie einigen Lehrern ein Leben von mehreren hundert Jahren zugestehen.

Der Wert der Methode anuśāsanam heute

Ist diese alte Methode also veraltet, hat sie sich überlebt oder hat sie sich als unzulänglich erwiesen, um den Anforderungen der verschiedenen Epochen gerecht zu werden? Können wir überhaupt noch etwas mit ihr anfangen?

Die Antwort ist ein doppeltes Ja und ein doppeltes Nein.

Es ist offensichtlich, dass die sozialen Beziehungen einen Grad an Komplexität erreicht haben, der das alte Lehrer-Schüler-Verhältnis bei weitem überfordert. Das alte Modell des Zusammenlebens und des Lehrens/Lernens in einem solchen persönlichen Kontext lässt sich nirgendwo mehr wirklich aufrechterhalten. Und doch hat die Methode des anuśāsanam einen unschätzbaren aktuellen Wert:

Sie stellt eine kontinuierliche, persönliche und mit der eigenen Erfahrung im Yoga verbundene Kommunikation über die zentralen Ideen des Yoga in den Mittelpunkt des Lernens.

Damit löst sie den Text aus einer akademischen Distanz und schafft die Grundlage für eine fruchtbare Auseinandersetzung zwischen Menschen. Dabei geht es nicht um einen Streit der Ideen, sondern um ein gemeinsames Ringen um das Verständnis von Fragen und Antworten, die sich aus einer bestimmten Erfahrung, einer bestimmten Praxis, einem Prozess der Veränderung, der Transformation ergeben.

Dort, wo das gelingt, ermöglicht sie auch etwas, was in unserer Zeit in Bezug auf Yoga immer wichtiger wird. Wenn sich eine Lehre ausbreitet und immer mehr Menschen erreicht, besteht immer die große Gefahr, dass der Inhalt verflacht. Das Wesentliche wird oft aufgegeben. Die Gründe dafür liegen in der Schnelllebigkeit von Interessen und Trends, aber auch in der Vermischung von Lehrinhalten mit dem Interesse, etwas gefällig zu machen, um damit seinen Lebensunterhalt zu verdienen.

Deshalb ist die Überprüfung der Qualität von Lehrenden und Lernenden, die in der Tradition des anuśāsanam steht, ein wichtiger Faktor. Und – das ist vielleicht die wichtigste Botschaft des anuśāsanam:

Yoga ist ein Werkzeug und entfaltet seinen Schatz erst im praktischen Lebenskontext.

Dieser ist in jeder Epoche, an jedem Ort, in jedem gesellschaftlichen Kontext anders. Nur in diesen Zusammenhängen entwickelt und verändert sich der Mensch. Nur in diesen Zusammenhängen kann sich ihr Prozess vollziehen.

  • Was nützen uns alle alten Weisheiten, wenn wir sie nicht auf unser heutiges Leben beziehen können?
  • Was nützen uns die alten Weisheiten, wenn sie heute nicht von zeitgenössischen Vertretern vorgetragen werden?

Beziehen wir diese Überlegungen auf die Frage nach der richtigen Übersetzung des Yoga Sūtra, so kann der folgende Rahmen eine Antwort bieten:

  1. Natürlich darf keine Übersetzung des Yoga Sūtra die Worte des Textes verfälschen. Es wurde schon darauf hingewiesen, dass viele Sanskritwörter ein weites Bedeutungsfeld haben und daher verschiedene Interpretationen zulassen. Deshalb gilt es sich immer wieder zu vergewissern, ob man sich noch in dem für den jeweiligen Begriff gültigen Feld bewegen.
  2. Unter dieser Voraussetzung lassen sich die verschiedenen Interpretationen des Yoga Sūtra für westliche Interessierte vielleicht am besten so beurteilen: Was kann ich mit einer vorgeschlagenen Lesart im Kontext meines Yogawegs, mit meiner Yogaarbeit, mit meinen Erfahrungen, meinen Zweifeln, meinen Erfolgen und meinen Enttäuschungen wirklich anfangen?
  3. Um Antworten auf diese Fragen zu finden, reicht ein einsames Lesen und Studieren des Textes nicht aus. Auch heute noch kann das Yoga Sūtra seine Tiefe, seine Vielschichtigkeit nur dann wirklich entfalten, wenn es lebendig, von Mensch zu Mensch weitergegeben wird.
  4. Gerade im Einzelunterricht erleben wir immer wieder, welch große Überzeugungskraft die Konzepte des Yoga Sūtra dann entfalten können, wenn sie sich als Erklärungen oder Denkanstöße mit ganz persönlichen Fragen, mit dem eigenen Leiden, mit den eigenen Wünschen und Zielen verbinden. Und wenn das Yoga Sūtra im Rahmen einer Gruppe vermittelt wird: Auch dort wird es erst dann lebendig, wenn die Teilnehmenden seine Inhalte mit ihren eigenen Erfahrungen, ihren eigenen Hindernissen, ihren eigenen Bemühungen im Yoga verbinden können.

Wenn die Widersprüche zwischen den verschiedenen Übersetzungen des Textes groß sind: Welcher Übersetzung eines Sūtra soll ich folgen? Eine hilfreiche Entscheidungshilfe wäre es daher, zu prüfen, wie sich eine bestimmte Lesart im Kontext des persönlichen Yogawegs bewährt, ob ihr Inhalt und die sich daraus ergebenden Konsequenzen helfen können, etwas zu erklären, Orientierung zu geben.

Die große Kompetenz von T. Krishnamacharya und seines Schülers TKV Desikachar in Bezug auf das Yoga Sūtra beruhte auf dem Ernstnehmen der alten Prinzipien des anuśāsanam.

T. Krishnamacharya war es durch viele glückliche Umstände vergönnt, den Wert einer von solchen Prinzipien geprägten Weitergabe von Texten durch und durch kennen und schätzen zu lernen. Diese Wertschätzung der Funktion des Lehrers im Rahmen des Yoga anuśāsanam kam ihm zudem nicht nur aus der eigenen Erfahrung als Schüler, d. h. aus den Jahren, die er mit seinem Lehrer im Himalaja verbrachte; es war ihm auch möglich, sie über siebzig lange Jahre aus der Perspektive des Lehrers zu erleben und zu praktizieren. Seine Kompetenz im Umgang mit Sanskrit, der Sprache des Yoga Sūtra, wurde zu seinen Lebzeiten ebenso geschätzt wie sein großes Wissen über die verschiedenen Traditionen und Schulen indischen Denkens und indischer Spiritualität.

Die Gründe, T. Krishnamacharyas vergleichsweise ungewöhnlicher Bezugnahme auf diese Sūtras des 4. Kapitels zu folgen und hier vorzustellen, liegen also in mehreren Punkten begründet:

  • T. Krishnamacharyas Kompetenz und Treue zur Tradition geben die Gewähr, dass kein Wort verbogen wird, dass die Kohärenz mit dem gesamten Text Patañjalis gewahrt bleibt.
  • Die vielen Gespräche, die mit T.K.V. Desikachar darüber geführt wurden.
  • Schließlich zeigt die oft wiederholte Erfahrung, dass das Verständnis der Sūtren eine wertvolle Hilfe dabei ist, die Beziehung zwischen Yogalehrer und Yogaschüler klarer zu gestalten. Es hilft, auf Fallstricke in dieser Beziehung zu achten, die Möglichkeiten und Grenzen des Yogawegs zu erkennen und die eigene Rolle als Yogalehrer oder Yogalehrerin besser zu verstehen.

Ich verändere mich – was verändert sich?

Zurück zum Text. Er hat damit begonnen, besondere Fähigkeiten als Ergebnis von Veränderung darzustellen.

Ein Mensch hat sich verändert – was ist geschehen? Die zweite Sūtra des vierten Kapitels gibt eine erste Antwort. Sie lautet: Wenn sich etwas verändert, was immer es auch sein mag, dann nicht, weil etwas Neues hinzugekommen ist.

jātyantarapariṇāmaḥ prakṛtyāpūrāt
Yoga Sūtra, 4. Kapitel - Sūtra 2

parināma - Wandel
jāti - besonderer Charakter, Qualität, Existenzform
antara - anders
āpūra - auffüllen, fluten

Der Wandel zu etwas anderem geschieht durch Verschiebung in der prakṛtī.

Oft haben wir den Eindruck, dass wir durch die Anhäufung bestimmter Informationen und Kenntnisse zu einem neuen Menschen werden. Oder durch ein paar neue Kleider, wie der berühmte Kaiser im Märchen. Yoga sieht das anders: Bei jeder Veränderung geschieht nichts anderes, als dass sich etwas innerhalb dessen, was sich verändert, verschiebt.

Wenn also Neues entsteht, wenn Veränderung sichtbar wird, dann hat sich Vorhandenes neu zusammengesetzt. Das gilt für Blumen, Steine und Tiere, für den gesamten Kosmos ebenso wie für uns Menschen. Die Grundlage für Veränderungen in allem, was unsere Welt ausmacht, nennt Patañjali prakṛti, und zu dieser prakṛti gehört für Patañjali ausdrücklich auch der menschliche Geist.

Auf dieser Grundlage gilt:

Veränderung fügt nichts Neues hinzu, sie setzt nur anders zusammen, was an Potenzial vorhanden ist, was mitgebracht wird.

Gesundheit und Krankheit sind unter anderem Ausdruck solcher Veränderungen, ebenso wie Freude und Trauer.

Ein Beispiel: Jeder wird den Unterschied zwischen einem kleinen neugeborenen Mädchen und der gleichen Person als erwachsener Frau feststellen; er ist sicherlich gewaltig. Und doch ist es nichts anderes als eine Art innere Verschiebung. War sie ein lebhaftes Kind, so entwickelt sie sich im Laufe der Jahre zu einer ruhigen, nachdenklichen Person, nur weil sie diese Möglichkeit schon als Kind in sich trug. Eine neue Zusammensetzung vorhandener Eigenschaften so sieht es der Yoga bringt diese neuen Qualitäten hervor.

Aus einem ängstlichen Wesen kann ein sehr mutiger Mensch werden und umgekehrt – und wenn wir das erleben, neigen wir dazu, das als eine ganz neu entstandene Eigenschaft zu sehen. Das ist es auch, aber nicht im Sinne eines Neuerwerbs, sondern im Sinne einer Verwandlung, einer neuen Kombination vorhandener Eigenschaften.

Dies geschieht aber nur, wenn eine solche Möglichkeit in ihm angelegt ist. Woher sollte sonst etwas Neues kommen? Wenn es sich um körperliche Eigenschaften handelt, scheint das leichter zu verstehen zu sein: Hat das Neugeborene blonde Haare, so kann es sich in eine Frau mit roten Haaren verwandeln. Warum? Weil es die Veranlagung zu rotem Haar schon in sich trug, als es noch weißblond war.

Wenn es aber um die subtilen mentalen und psychischen Aspekte geht, die eine Persönlichkeit ausmachen, tun wir uns schwerer. Tatsächlich liegt in diesem Modell auch die Gefahr, die Welt deterministisch zu verstehen: Alles ist determiniert, nichts ist wirklich veränderbar.

Aber genau darum geht es hier nicht, im Gegenteil: Es geht darum, Veränderung zu schaffen, zu fördern und zu verstehen.

Schauen wir uns ein Kind an, das heute mehr Rücksicht auf die Bedürfnisse seines Spielkameraden nimmt als gestern. Gestern hat es der Freundin einfach das Lieblingsspielzeug weggenommen und sich nicht darum gekümmert, wie viel Kummer es damit ausgelöst hat. Die Mutter hat es zufällig beobachtet und stellt es zur Rede: Sie erklärt, dass die Freundin verletzt ist, dass es nicht richtig war, so zu handeln: Stell dir vor, sie hätte das mit deiner Lieblingspuppe gemacht!

Diese Intervention zeigt am nächsten Tag Wirkung, das Kind respektiert, was der Spielgefährtin lieb und teuer ist. Diese Veränderung im Kind könnte so gedeutet werden: Etwas wurde von außen (von der Mutter) in das Kind hineingegeben, was vorher nicht in ihr war; eine Erkenntnis wurde ihr geschenkt (oder aufgezwungen?).

Abgesehen von der Schwierigkeit zu erklären, woher eine solche Erkenntnis bei der Mutter oder ihrer Mutter usw. gekommen sein soll, würde man in diesem Fall glauben, man könnte dem Kind nach Art des Nürnberger Trichters etwas einflößen.

Dass das Kind sich heute anders verhält als gestern, liegt an einer Möglichkeit, die bereits in ihm angelegt ist. Die Intervention der Mutter hat diese Möglichkeit hervorgebracht, die prakṛti des Kindes, hier Geist des Kindes, hat eine Verschiebung, eine Neuordnung erfahren.

Wenn dieser Idee Patañjalis gefolgt wird, hat das Konsequenzen für die Wahrnehmung anderer Menschen. Was ich heute sehe, wie sie mir heute begegnen, ist nur eine mögliche Variante ihrer Existenz. Wer Menschen auf diesen Ausschnitt festlegt, provoziert eine Täuschung – oder Enttäuschung. Niemand kann je von einem anderen Menschen wissen, was er an Möglichkeiten in sich trägt.

Das ist die offene Seite von Patañjalis Konzept. Aber es sollte auch so gelesen werden: Was nicht im Potenzial angelegt ist, kann sich nicht entfalten. Ein musikalisches Genie kann auch durch härteste Disziplin nicht erzeugt werden; der virtuose Umgang mit abstrakten Formeln in den höchsten Höhen der Mathematik kann niemandem beigebracht werden, indem die Fähigkeit dazu nicht angelegt ist. Es gibt also auch Grenzen für das Ergebnis einer Veränderung. Soviel zum Material, das jeder Mensch mitbringt, wenn er in einen Veränderungsprozess eintritt.

Wie viel Einfluss haben wir?

Viele, wenn nicht die meisten Veränderungen vollziehen sich völlig ohne willentliches Zutun von innen oder außen. Der kleine Bruder kann vielleicht jeden Abend zum lieben Gott beten, nicht so rote Haare zu bekommen wie seine Schwester – er wird darauf nicht viel Einfluss nehmen können (es sei denn, er nimmt später die Dienste einer guten Friseurin in Anspruch).

Aber auf andere Veränderungen, auf die neue Zusammensetzung der prakṛti, kann man sehr wohl Einfluss nehmen. Wäre Mozart ein so großer Künstler geworden, wenn er als Betteljunge täglich um seinen Lebensunterhalt hätte kämpfen müssen? Oder wenn er die Strenge und die Ansprüche seines Vaters nicht ertragen hätte? Wahrscheinlich nicht. Er wurde gefördert, aber er hat durch seine Disziplin auch einen großen Teil dazu beigetragen, dass heute die ganze Welt die Kleine Nachtmusik genießen kann.

Und zu ganz erstaunlichen Ergebnissen kann jemand kommen, der nicht besonders musikalisch ist, aber viel Freude am Singen hat und sich unbekümmert um jede abwertende Kritik von außen darin übt.

Wie groß der Einfluss ist und wie weit unsere Bemühungen tragen, lässt sich im Vorhinein kaum sagen. Es zeigt sich, wenn man es versucht.

Das ist eine ermutigende Botschaft. Menschen kommen oft zum Yoga, weil sie mit etwas in ihrem Leben unzufrieden sind und sich verändern wollen. Sie schaffen es nicht, innezuhalten, sie entfernen sich von sich selbst, sie sind zu zornig und wollen sanfter werden, sie sind zu gehemmt und wollen mutiger werden, sie sind nicht gut zu sich selbst und wollen liebevoller und respektvoller mit sich umgehen – und vieles mehr.

Welche Rolle dabei ihr eigener Beitrag spielt und was sie für diese bewusste Einflussnahme auf ihre eigenen Veränderungen benötigen und – welche Rolle ein Mensch spielen kann, der um Hilfe bei einer Veränderung gebeten und in Anspruch genommen wird, davon handelt der nächste Abschnitt.

Der Bauer öffnet den Damm

Die Methode, mit der wir auf Veränderung einwirken können, beschreibt Patañjali im dritten Sūtra des vierten Kapitels mithilfe einer Metapher. Es ist die eines Bauern, der durch Bewässerung des Feldes seine Ernte zum Wachsen bringt. Das Beispiel stammt aus Asien. Dort besteht eine wichtige Arbeit des Reisbauern darin, seine Felder nacheinander zu bewässern, indem er einen Damm durchbricht, der das trockene Feld vom Wasser trennt. (Abb. 1)

Abb. 1

Das Besondere an der beschriebenen Methode ist, dass sie indirekt wirkt – aprayojakam; ein Wegnehmen im Mittelpunkt steht: Ein Hindernis wird beseitigt.

nimittam aprayojakaṃ pakṛtīnām varaṇa bhedastu tataḥ kṣetrikavat
Yoga Sūtra, 4. Kapitel - Sūtra 3

nimittam - Ursache, instrumenteller Grund
aprayojakam - indirekt
kṣetrika - Bauer
varaṇa - Hindernis
bhedaḥ - durchstechen

Was eine (solche) Veränderung erzeugt, wirkt nur indirekt auf die prakṛti, so wie ein Bauer, der ein Hindernis durchsticht.

Dann fließt das Wasser von selbst und es wächst etwas (der Reis aus dem Reiskorn, das Gras aus dem Graskorn, das Regenwurmei im Boden zu einem Regenwurm).

Aprayojakam heißt: Es ist eigentlich nur ein Impuls, der in einen Prozess der Veränderung gegeben wird, der auch ohne ihn ständig stattfindet.

Dieser Impuls ist jedoch ein intelligenter und auf bestimmte Wirkungen ausgerichteter. Eine solche Methode erfordert Verständnis und Wissen. Der Bauer ist einer, der sein Feld kennt, aus Erfahrung, aus Beobachtung, aus dem Zuhören bei den Alten, seit er auf seine spätere Arbeit vorbereitet wurde; er ist einer, der experimentiert hat und der sich hauptsächlich immer wieder neu orientiert, jeden Morgen, jeden Sommer, jedes Jahr, an dem, was er draußen vorfindet. Und: Einer, der positive Gefühle für sein Land hegt, der es achtet und sich nicht schadlos daran hält.

Am Beispiel des Handelns eines solchen Bauern zeigt Patanjali das nimitta – das Handeln aus einer intelligenten Ursache. Aber natürlich will das Yoga Sūtra kein Handbuch für Bauern und Gärtner sein, sondern es geht um den Menschen, darum, wie sich ein Mensch, wie sich der Geist eines Menschen verändern kann, oder genauer: wie sich ein Mensch; der Geist eines Menschen mithilfe des Yoga verändern kann. Nimitta, die intelligente Ursache der Veränderung, kann in zwei Richtungen gelesen werden.

Nimitta

Die innere Instanz

Wir können die Metapher des Bauern auf jene Kraft in uns beziehen, die positive Veränderungen in Gang setzt und aufrechterhält. Die Hypothese des Yoga geht von der Existenz eines besonderen Potenzials in uns aus, das neben und in Zusammenarbeit mit dem bereits beschriebenen Potenzial der prakṛti existiert.

Der Name, den Patañjali dafür verwendet: puruṣa, draṣṭṛ oder cit.

Etwas schwieriger ist es, seine Bedeutung zu beschreiben. Anders als in den Upaniṣaden, die unter dem Begriff puruṣa das Bild eines kleinen Menschen in der Mitte unseres Herzens malt, daumengroß, wie es dort heißt, lässt sich das puruṣa des Yoga Sūtra besser als eine großartige Fähigkeit beschreiben, die uns Menschen innewohnt: die Fähigkeit zu verstehen.

Irrtum und Missverständnis beruhen nicht auf dem Fehlen dieser Fähigkeit, sondern darauf, dass es Strukturen und Tendenzen in uns gibt, die diese Fähigkeit behindern und in ihrer Wirkungsmöglichkeit einschränken.

Es ist dieses Potenzial, das allem Verstehen zugrunde liegt; es ist darauf angelegt, sich zu entfalten, und wenn es das tut, lässt es uns den für uns richtigen Weg erkennen. Es ist der Impuls dieser Kraft, der als nimitta positive Veränderungen in uns in Gang setzen kann. Aber nur so, wie es der erwähnte Bauer beim Bewässern seines Feldes kann: abhängig von dem, was an Strukturen, an Potenzialen vorhanden ist.

Lehrer – Kenner des Feldes

Die Metapher des Bauern wörtlich: kṛetrika – Kenner des Feldes kann auch anhand des Mutter-Kind-Beispiels verdeutlicht werden. Hier ist die Mutter – wie der Bauer, der ein Hindernis aus dem Weg räumt – der Auslöser für die Veränderung ihres Kindes. Sie hilft ihm, seine Unfähigkeit, die Spielgefährtin zu verstehen, seine mangelnde Reflexion über die Konsequenzen seines Handelns in Empathie und Mitgefühl zu verwandeln.

Im Kontext einer Veränderung durch Yoga ist es die Yogalehrerin, der Yogalehrer, die mit den Mitteln des Yoga Impulse geben.

Für die Frage, wie Veränderung auf dem Yogaweg möglich wird, war und ist eine Definition der Rolle der Lehrerin, des Lehrers wesentlich. Am Beispiel des Bauern, der den Damm durchsticht und den folgenden Sūtren, kann diese Rolle gewinnbringend dargestellt und diskutiert werden.

Die Yogalehrerin als Bäuerin, als Impulsgeberin, als Initiatorin für Veränderung – das Feld ist dann der Mensch, der mithilfe einer Lehrerin, eines Lehrers Yoga übt.

Man ist sich einig, dass ein Begleiter, eine Begleiterin in einem solchen Prozess in der Lage sein muss, sich auf die besonderen Eigenschaften, Fähigkeiten und Wünsche des Menschen, der die Veränderung anstrebt, zu beziehen. Auf diese Situation trifft zu, was Patañjalis Bild vom Bauern aussagt. Wie dieser benötigt jeder Yogalehrende Wachheit und eine gute Beobachtungsgabe, wenn er aus dem großen Schatz der Yogamittel die für den Übenden passenden auswählt, um damit einen Impuls zu geben.

Wie ein Kenner des Feldes muss der Yoga-Lehrer einerseits sein Handwerkszeug kennen, andererseits aber auch zum Kenner seines Gegenübers werden, um das in ihm verborgene Potenzial zu erkennen.

Respekt vor dem Yoga übenden, wie ihn ein guter Landwirt vor der Erde hat, Achtsamkeit und Sorgfalt sind die Grundlage für eine erfolgreiche Begleitung eines Veränderungsprozesses mit den Mitteln des Yoga.

Was haben wir als Yogalehrende also mit den ersten drei Sūtren des Textes zu tun? Was können wir aus ihnen für unsere Arbeit mitnehmen?

Yogalehrende sind in doppelter Weise in den bisher diskutierten Wandel eingebunden:

Ihre Möglichkeiten sind selbst aus einem eigenen persönlichen Veränderungsprozess hervorgegangen; sie haben in sich die Fähigkeit geweckt oder ausgebildet, andere Menschen in bestimmten Prozessen zu unterstützen. Etwas, das sie vor der Arbeit an sich selbst nicht konnten. Sie haben auch auf unterschiedliche und vielfältige Weise erfahren, dass diese Entwicklung von Impulsen mitgeprägt wurde, die ihnen von Menschen gegeben wurden, die auf ihrem Weg zum Yogalehrer eine Rolle gespielt haben.

Mit diesen Fähigkeiten sind sie nun Menschen, die andere Menschen beeinflussen, die selbst Impulse geben, Potenziale wecken, Veränderungen in Gang setzen.

Wovon es abhängt, ob diese Arbeit erfolgreich ist oder scheitert, welche Fehler gemacht werden können und wie sie zu vermeiden sind, das ist Inhalt des zweiten Teils. ▼

Veränderung durch Yoga

Das letzte Kapitel des Yoga Sūtra unterscheidet sich deutlich von seinen drei Vorgängern. Im ersten Kapitel geht es um den Zusammenhang zwischen Yoga und der Rolle, die unser Geist in unserem Leben spielt. Im zweiten Kapitel und zu Beginn des dritten Teils des Textes werden systematische Mittel und Wege aufgezeigt, wie wir auf unseren Geist einwirken können. Der dritte Teil behandelt dann ein weiteres Thema: Welche Errungenschaften sind einem Menschen, der sich mithilfe des Yoga verändert, schließlich möglich, welche können ihn befriedigen, wie kann oder soll er damit umgehen? Jeder der drei Teile spielt eine besondere Rolle in der Argumentation und in der Vermittlung dessen, was Yoga ist und was Yoga kann.

Wenn man jedoch das letzte Kapitel des Yoga Sūtra durchblättert, könnte man meinen, Patañjali hält nur Rückschau. Vieles kommt einem bekannt vor: Bereits angesprochene Themen werden noch einmal aufgegriffen, aus einem anderen Blickwinkel beleuchtet. Es werden Argumente ausgetauscht mit Diskussionspartnern, die nicht beim Namen genannt werden, die aber zur Zeit Patañjalis offenbar ernst zu nehmende, vom Yoga abweichende Positionen vertraten. Und es wird ein letzter Blick eröffnet auf Horizonte, zu denen die Yogapraxis einen Menschen führen kann: Freiheitkaivalya.

Aber auch dazu konnte man im zweiten Teil des Textes schon Wichtiges hören, sodass sich bei der Lektüre des vierten Kapitels die Frage aufdrängt:

Warum eigentlich dieses letzte, 4. Kapitel?

Und interessanterweise wurde diese Frage in indologischen Kreisen tatsächlich immer wieder gestellt und diskutiert, ob dieses Kapitel wirklich von Patañjali verfasst oder später von anderen hinzugefügt wurde. Wenn man sich aber, mit einem Interesse an der praktischen Relevanz des Yoga, dem vierten Kapitel zuwendet, wird man schnell feststellen, dass man vorrangig in den ersten vierzehn Sūtren auf Spannendes und Hilfreiches stößt.

Zwar behandeln auch diese Sūtren einen Fragenkomplex, der im Yoga Sūtra schon vielfach Thema war, aber sie diskutieren ihn hier noch einmal auf eine ganz neue Art und Weise: auf das Thema Veränderung.

So wird zu Beginn des vierten Kapitels das Thema Veränderung entlang wichtiger Fragen entfaltet, die sich stellen, wenn mit Yoga etwas bewirkt werden soll, wenn Yoga als Mittel zur Veränderung angeboten wird:

  • Wie entsteht Veränderung?
  • Was geschieht, wenn wir uns verändern und neue Fähigkeiten entwickeln?
  • Was ist der Kern von Veränderung, ihre Anatomie?
  • Welche Faktoren spielen bei der Veränderung von Menschen eine Rolle?
  • Welche Mittel sind notwendig, um etwas, das bisher nur potenziell vorhanden war, zur Entfaltung zu bringen – oder: Wie können wir Veränderung gezielt beeinflussen?
  • Was trägt zu einer wünschenswerten Veränderung bei und was nicht?
  • Welche Umstände sind dabei positiv zu bewerten, welche negativ?

Und hinter all dem steht die Frage:

  • Wie festgelegt sind wir und wie frei können wir sein und werden?

Siddhis – außergewöhnliche Fähigkeiten

Am Anfang der ganzen Diskussion steht die Analyse einer Erfahrung, die man damals wie heute machen kann; sie lautet:

Es gibt Menschen, die über besondere, manchmal sogar außergewöhnliche Fähigkeiten verfügen; das Wort dafür lautet im Sanskrit siddhi oder vibhūthi.

Vibhūti-pāda ist das dritte Kapitel des Yoga Sūtra überschrieben, in dem in einer langen Aufzählung, die verschiedensten siddhis genannt werden, die durch Yoga möglich werden können.

Diese vielen siddhis interessieren Patañjali zu Beginn des vierten Kapitels nicht mehr besonders. An dieser Stelle ist es ihm wichtiger, nach den verschiedenen Ursachen zu fragen, die solchen Fähigkeiten einzelner Menschen zugrunde liegen. Mit deren Darstellung beginnt das vierte Kapitel.

Janma

In einer Aufzählung verschiedener Ursachen für siddhis nennt er dort an erster Stelle janma. Es bedeutet: bestimmte Menschen haben von Geburt an besondere Fähigkeiten und Eigenschaften. Das überrascht heute nicht mehr. So wie im Genie eines Mozart oder Yehudi Menuhin, eines Einstein oder Goethe etwas Angeborenes erkannt werden kann, so kannte und kennt Indien Menschen, denen ihr Genie, ihre besonderen Fähigkeiten in die Wiege gelegt wurden.

Auch heute noch glauben viele Menschen in Indien, dass bestimmte Menschen von Geburt an über ganz besondere Fähigkeiten verfügen, wie:

  • aus Asche Gold zu machen
  • über Wasser zu gehen
  • Tote zum Leben zu erwecken
  • tagelang ohne Atem auszukommen....

Der Begriff siddhi bezeichnet solche besonderen Fähigkeiten, die aber auch auf andere Weise erworben werden können. Patañjali sieht sie dann als Ergebnis einer Veränderung, die ein Mensch bewusst angestrebt hat. War er vor mehr oder weniger langer Zeit noch ein unauffälliger durchschnittlicher Zeitgenosse, so hat er sich verändert und beeindruckt nun durch Außergewöhnliches.

Patañjalis Begründungen mögen heute befremdlich erscheinen, aber sie zeigen, welche Vorstellungen damals in Indien üblich waren. Die historische und kulturelle Prägung dieser Erklärungsversuche ist unübersehbar, Patañjali beschreibt verschiedene: oṣadhi, mantra und tapas.

janma oṣadhi māntra tāpaḥ sāmādhijāḥ siddhyaḥ
Yoga Sūtra, 4. Kapitel - Sūtra 1

Besondere Fähigkeiten können sich entwickeln durch: Geburt, Kräuter, Mantra, Askese, den Yogaweg.

Oṣadhi

Neben den Glücklichen, die zu ihren siddhis ohne eigenes Zutun gekommen sind, galt es als möglich, über den Weg religiöser Rituale zu besonderen Fähigkeiten zu gelangen. Patañjali verwendet hier das Wort oṣadhi. Wörtlich übersetzt bedeutet es Kräuter, ein Hinweis darauf, dass es in früheren Zeiten üblich war, Rituale mit der Einnahme von heilenden oder bewusstseinsverändernden Pflanzen zu verbinden.

Aber auch allein die aktive Teilnahme von Menschen an priesterlich geleiteten Ritualen verändert in dieser Vorstellung Menschen und verleiht ihnen besondere Gaben. Ihre Fähigkeiten werden gleichsam als Geschenk Gottes in seiner vielfältigen Gestalt verstanden, den sie mithilfe der Priester und eines festgelegten Rituals angerufen haben.

Mantra

Eine dritte Möglichkeit, besondere Fähigkeiten zu entwickeln, besteht nach Patañjali in der Übertragung und Rezitation eines Mantras. Ein solches Mantra kann eine Passage aus den Veden sein, z. B. das Gāyatri-Mantra, oder eine Silbe wie Om oder Soham, um nur drei bekannte Mantren zu nennen.

Natürlich war es auch damals schon leicht, solche Silben zu hören oder sogar zu lesen – aber das machte sie noch lange nicht zu Mantren in dem hier beschriebenen Sinne.

Damit eine Silbe zum Mantra wurde, bedurfte es besonderer Rituale, Vorbereitungen, ganz besonderer Umstände.

So war es etwa üblich zu glauben, dass ein Mantra bereits bearbeitet, d. h. ausführlich praktiziert worden sein musste, bevor es wirksam an eine andere Person weitergegeben werden konnte. Dies bedeutete, dass die Person, die ein Mantra weitergab, zuvor viel eigene Erfahrung und Arbeit in die Praxis dieses Mantras investiert hatte. Einige Stimmen gingen sogar so weit zu behaupten, dass beim Weitergeben eines Mantras ein Teil der eigenen Energie verloren gehen könne.

Wenn ein Mensch mit Hilfe eines Mantras siddhi entwickeln wollte, bedurfte es neben dem oben Gesagten vor allem der eigenen Anstrengung.

Es entsprach einer weitverbreiteten Vorstellung, dass ein Mantra nur dann seinen Dienst tun könne, wenn man es wie ein Werkzeug benutzte. auch das ist übrigens eine Deutung des Wortes Mantra: Werkzeug für den Geist Das Mantra muss auf eine bestimmte Weise und mit einer bestimmten Regelmäßigkeit rezitiert werden, es muss Teil einer bestimmten Praxis werden, sonst wird es seine Wirkung nicht entfalten.

Tapas

Viel Respekt wurde in Indien aber auch den VertreterInnen eines anderen Weges zur Erlangung von siddhis entgegengebracht, Menschen, die oft spektakuläre außergewöhnliche Fähigkeiten entwickelten – den Asketen.

Durch Askese – tapas – zwingt man Körper und Geist seinen starken Willen auf. Solche Menschen sind auch heute noch in religiösen Zentren wie Rishikesh, Hardwar oder Varanasi sehr beliebt. Indische Touristen und Pilger lassen sich dort gerne von Asketen segnen, und für westliche Touristen gilt die Begegnung mit den oft exotisch anmutenden Asketen bisweilen immer noch als die Begegnung mit dem wahren Indien.

Tapas, wörtlich – die Glut, ist das Zaubermittel, aus dem die Fähigkeit erwächst, an zwei Orten gleichzeitig zu sein, Gewichte von ungeheurem Ausmaß zu heben oder zweifelsfrei in eine für andere ungewisse Zukunft zu blicken. Aber natürlich gab es immer auch Kritik an der Askese. Nicht nur, dass seine Wirksamkeit bezweifelt wurde, wie es etwa von Buddha überliefert ist. Auch wenn durch Askese tatsächlich besondere Fähigkeiten entwickelt werden, wurde zu allen Zeiten der Sinn dieser enormen Anstrengungen infrage gestellt.

Ein schönes Beispiel für diese skeptische Haltung gegenüber Asketen beschreibt eine kleine Geschichte, die über Ramakrishna, einen indischen Heiligen des letzten Jahrhunderts, erzählt wird: Als Ramakrishna eines Tages mit einigen seiner Anhänger am Ufer des Ganges in Varanasi spazieren ging, tauchte plötzlich ein Mann neben ihnen auf. Erstaunt fragte Ramakrishna ihn, wie er hierhergekommen sei. Er sei über das Wasser gekommen, teilte der Fremde nicht ohne Stolz mit und fügte hinzu, dass er dieses siddhi durch vierzig Jahre strengster Askese erlangt habe. Daraufhin habe Ramakrishna ihn kopfschüttelnd gefragt, ob er denn nicht die paar Rupien habe, um den Fährmann zu bezahlen.

Samādhi

Die bisher genannten Ursachen für siddhis liegen also offensichtlich außerhalb des Yogaweges, wie ihn Patañjali in den vorhergehenden Kapiteln des Yoga Sūtra dargelegt hat. Mit der letzten Methode, die Patañjali als Wegbereiter für außergewöhnliche Fähigkeiten bezeichnet, kehrt er nun zu seinem Yoga zurück.

Diese Methode ist jedem Yogapraktizierenden bekannt: samādhi. Im engeren Sinne bezeichnet samādhi im Yoga Sūtra das Ergebnis einer gelungenen Meditation. Es bedeutet, den Gegenstand der Meditation mit Verstand und Herz verstanden zu haben.

Samādhi steht für Patañjali hier aber als Inbegriff für den ganzen – gelungenen – Yogaweg. Samādhi bedeutet, so T. Krishnamacharya zu dieser Stelle, alle acht Aspekte des Yoga auf dem gelungenen Yogaweg unter dem sorgfältig wachenden Auge eines Lehrers.

Was sind außergewöhnliche Fähigkeiten?

Gehören wir zu den Menschen, die Berichten über das Materialisieren von Gold aus Asche, das Gehen auf Wasser oder glühender Kohle Glauben schenken? Oder nehmen wir die abenteuerlichen Erzählungen über die Fähigkeiten von Yogis, wie sie der berühmte Indienreisende Paul Brunton in seinem Buch *Magier, Fakire, Yogis* beschrieben hat, für bare Münze?

Dann beschränkt sich unser Verständnis von siddhi im Sinne von außergewöhnlich auf Wunder und Magie. Siddhi kann aber auch etwas viel Bescheideneres bedeuten: Aus einem Menschen, der etwas nicht oder bisher nicht konnte (a-sadh), ist jemand geworden, der es nun kann (sadh). Er ist ein siddha geworden, einer, der jetzt über besondere Fähigkeiten verfügt, und das, was er jetzt kann, ist siddhi.

Was siddhi ist und was nicht, ist nicht immer auf den ersten Blick zu erkennen. Vielleicht würden wir alle dem folgenden die gleiche Bedeutung beimessen, wenn wir ein Kind betrachten, das vor einem halben Jahr noch nicht lesen konnte und jetzt über das siddhi des Lesens verfügt. Denn es liegt auf der Hand, was es für das Kind bedeutet, lesen zu können: Es eröffnet ihm eine vollkommen neue Welt, es schafft ihm Wege zu größerer Unabhängigkeit, es öffnet ihm Türen zu Räumen des Wissens und der Fantasie, die ihm ohne diese besondere Fähigkeit, dieses siddhi, völlig verschlossen waren und geblieben wären. Ein erwachsener Mensch hingegen wird, wenn er einen anderen erwachsenen Menschen betrachtet, nicht dazu neigen, Lesenkönnen als etwas Außergewöhnliches zu betrachten; aber schon wenn er einem der vielen Menschen begegnet, die erst im Erwachsenenalter lesen gelernt haben, wird ihm klar, welch außergewöhnliche Fähigkeit dies auch für einen Erwachsenen sein kann.

Oder denken wir an einen Menschen, der seine Wut nicht im Zaum halten kann, oder an einen anderen, den die Angst vor Krankheit versklavt. Für sie wäre es mehr als außergewöhnlich, wenn sie ihre Wut, ihre Angst verlieren könnten. Siddhi zu erlangen kann also, so verstanden, sehr Unterschiedliches bedeuten, mit anderen Worten:

Außergewöhnlich muss nicht gleichbedeutend sein mit magisch, übernatürlich, unerklärlich.

Genau das fällt bei der Darstellung der siddhis im dritten Kapitel der Yoga Sūtras auf: Patañjali sieht in ihnen nichts Übernatürliches. Vielmehr bemüht er sich, für viele der von ihm vorgestellten besonderen Fähigkeiten eine einleuchtende und nachvollziehbare Erklärung zu geben.

Lehrer/in sein – das siddhi der Begleitung

Das vierte Kapitel des Yoga Sūtra beginnt also mit der Darstellung der verschiedenen Wege, auf denen siddhis, neue Fähigkeiten, neue Potenziale, Veränderungen erreicht werden können.

T. Krishnamacharya hatte vorgeschlagen, dieses erste Sūtra als Auftakt zu einer Diskussion zu verstehen, die bis zu diesem Zeitpunkt im Yoga Sūtra nicht explizit geführt wurde, eine Diskussion über das Thema Lehrer.

Zwei Aspekte stehen dabei im Mittelpunkt:

  1. Auch Lehrende gehören zu den Menschen mit besonderen Fähigkeiten. Nicht jeder ist dazu geeignet, einem anderen Menschen etwas zu vermitteln, ihn in seiner Entwicklung erfolgreich zu begleiten. Dieser Gedanke ist nicht verwunderlich, wenn wir unsere eigenen Erfahrungen betrachten: Wenn wir uns an unsere Schulzeit erinnern, so gab es dort gute Lehrerinnen und solche, die wir nicht gut fanden. Was machte die Guten so besonders? Sie verstanden es, auf uns einzugehen, unsere Persönlichkeit zu respektieren, unsere Stärken zu erkennen, uns zu helfen, mit unseren Schwächen umzugehen, unser Interesse zu wecken.
    Sie haben zu unserer Veränderung, zu unserem Wachstum beigetragen. LehrerInnen müssen also einen guten Blick auf die verborgenen Möglichkeiten, für die Stärken und Schwächen ihrer SchülerInnen, für deren besonderen Charakter haben. Sie müssen verstehen, was diesem Schüler hilft, was jenem aber eher Schwierigkeiten bereitet, wie man jene anspricht und fordert, wie man jenen fördert.
    Gleiches gilt für die Weitergabe von Yogawissen und Yogaweisheiten, für die Begleitung eines Wachstumsprozesses persönlicher Art. Alle östlichen Traditionen, ob sie nun Vedānta, Buddhismus in seinen verschiedenen Ausprägungen, Sāṃkhya oder eben Yoga hießen, konnten sich einen persönlichen Wachstumsprozess ohne die enge Begleitung durch einen guten Lehrer, eine gute Lehrerin nicht vorstellen.
    Aber auch heute gelingt die Vermittlung einer Methode, einer Erfahrung, eines Wissens nur dann wirklich gut, wenn die Lernenden als Menschen erreicht werden. Und das berücksichtigt alle modernen pädagogischen Methoden. Soweit die Seite der Lehrenden.
  2. Die Menschen kommen zum Yoga, weil sie sich verändern wollen. Sicher wollen sie nicht lernen, trockenen Fußes, den Ganges zu überqueren, aber sie suchen nach neuen Möglichkeiten, wollen ihre Potenziale erweitern, wollen kompetenter werden im Umgang mit sich selbst, mit den Anforderungen des Lebens, suchen nach spiritueller Entwicklung.
    Welche Rolle kann eine Yogalehrerin, ein Yogalehrer in diesem Prozess spielen, wie kann sie, wie kann er – um in der Sprache der Yoga Sūtras zu sprechen – helfen, das gewünschte siddhi zu entwickeln? Diese beiden Aspekte des Yogalehrens, die persönliche Entwicklung der Yogalehrenden einerseits und ihre Rolle im Entwicklungsprozess ihrer Schülerinnen und Schüler andererseits, stellt T. Krishnamacharya in den Mittelpunkt der Betrachtung der ersten Sūtren des vierten Kapitels.

Ein Exkurs

Bevor mit diesem Thema weiter fortgefahren wird, zunächst ein kurzer Exkurs zu einer ganz grundsätzlichen Frage, die sich immer dann stellt, wenn verschiedene Interpretationen eines alten Textes wie des Yoga Sūtra voneinander abweichen. Sie ist wichtig, weil der Blick auf die Lehrerthematik in diesem Teil des Yoga Sūtra, so wie er in Folge dargestellt wird, nur in der Lesart T.Krishnamacharyas (und damit natürlich auch T.K.V. Desikachars) zu finden ist.

Daraus folgt die Frage: Gibt es nur eine oder gibt es mehrere Lesarten?

Alte Texte konfrontieren einen mit dem Problem, dass ihre Aussagen und Botschaften kontrovers verstanden werden können. Solche Verständnisunterschiede gibt es nicht nur bezogen auf das Yoga Sūtra, geschrieben in einem fremden Sanskrit, entstanden weit weg in Indien.

Auch die Arbeitslosenzahlen, das Gutachten der sogenannten Wirtschaftsweisen, der neueste Film von Woody Allen: Wie das alles zu verstehen ist, im Ganzen, aber auch im Detail, ist keineswegs eindeutig und unumstritten.

Das gilt natürlich erst recht für Begriffe und Texte, die nicht mehr mit denen diskutiert werden können, die sie vor Jahrhunderten entwickelt und niedergeschrieben haben, wie Kants Kritik der reinen Vernunft, Voltaires Schriften und andere. Und besonders schwierig wird es, wenn komplexe Sachverhalte nur stichwortartig dargestellt werden, wie dies im Yoga Sūtra der Fall ist. Wie kann man also bei alten Texten überhaupt sicher sein, dass die Lesarten späterer Generationen noch etwas mit den ursprünglichen Aussagen zu tun haben? Gibt es eine Hilfe, einen Hinweis, der im Erfassen und Verstehen der alten Schriften sicherer machen könnte? Und wo ist sie zu finden?

Yoga ist ein anuśāsanam

Wenn wir in einer gut sortierten Buchhandlung nach dem Yoga Sūtra fragen, werden uns verschiedene Ausgaben angeboten werden. Beim vergleichenden Lesen einiger Textstellen zeigen sich schnell große Unterschiede. Allenfalls der erste der 195 Sūtras klingt überall gleich: Nun folgt die Erklärung der Lehre des Yoga.

Doch dann wird es schwierig. Wir merken schnell, dass wir ab jetzt auf die Interpretation dessen angewiesen sind, dessen Übersetzung wir in Händen halten.

Diese Situation kann an einem Sūtra verdeutlicht werden, das später im Rahmen des Themas Wandel noch von Bedeutung sein wird. Es zeigt die unterschiedlichen Auffassungen am Beispiel des vierten Sūtras im vierten Kapitel: Die erschaffenen citta (stammen) aus der reinen (kosmischen) Ich-bin-Einheit. So übersetzt Helmut Maldoner. Yoga Sūtra, der Leitfaden des Patañjali, Papyrus-Verlag 1987 Bei Bettina Bäumer, die die Übersetzung des Yoga Sūtras von Deshpande ins Deutsche übertragen hat, liest sich dasselbe Sūtra wie folgt: Das (individuell) geschaffene Bewusstsein entsteht allein aus dem Ich-Bewusstsein. Die Wurzeln des Yoga, Scherz-Verlag 1982 I.K. Taimni übersetzt: Künstlich erschaffene Mentalkörper (entstehen) allein aus dem Ich-Bewußtsein. I.K. Taimni, die Wissenschaft des Yoga, Hirthammer Verlag 1982 Und T.K.V. Desikachar versteht das Sūtra so: Ein Mensch, der außergewöhnliche Fähigkeiten in seinem Geist entwickelt hat, kann eine Veränderung im Geist anderer Menschen bewirken. Über Freiheit und Meditation – das Yoga Sūtra des Patañjali – eine Einführung, Verlag Via Nova 1997

Wie es zu solch großen Unterschieden kommen kann, liegt hauptsächlich im Charakter des Yoga Sūtra selbst begründet. Das ist im Zusammenhang mit diesem Text schon oft gesagt worden: Patañjali hat ihn ausdrücklich als Leitfaden verfasst, an dem entlang die Inhalte des Systems Yoga dargelegt werden konnten und sollten. Ganz selbstverständlich ging man damals davon aus, dass eine verständliche Darlegung weit über die kurzen Aphorismen des Textes hinausgehen musste. Dazu bedurfte es eines mit diesem System vertrauten und sehr erfahrenen Menschen, und einer lebendigen Lehrsituation. Nur deshalb konnte der Text selbst so abgefasst werden, dass jedes Sūtra eher als Überschrift denn als umfassende Erklärung zu verstehen war. Eine Überschrift, die dann nach einer ausführlichen Darstellung der damit angesprochenen Inhalte verlangt.

Für die Erarbeitung dieser umfangreichen Inhalte der einzelnen Sūtras, also für ihre Lektüre, ihre Interpretation, gab es damals nur einen Weg: den persönlichen und individuellen Kontakt mit, die Lehrzeit bei einem Lehrer.

Diese enge Verbindung von Lehre und LehrerIn war übrigens nicht nur eine im Fernen Osten gepflegte Art der Wissensvermittlung und des Lehrsystems. Ähnlich war es früher auch in unserem Kulturkreis, beispielsweise in den Philosophenschulen des antiken Griechenlands oder den Klosterschulen und Mönchsorden des christlichen Mittelalters. Auch in den Geisteswissenschaften, der Psychologie, Mathematik und Physik prägten große Lehrerinnen und Lehrer maßgeblich den Fortschritt.

Und auch heute ist uns dieser Zusammenhang von Lehrerpersönlichkeit einerseits und vermitteltem Inhalt andererseits nicht vollkommen fremd. Das gilt für viele positive Erfahrungen mit Lehrerinnen und Lehrern in der Schule und in jedem Fall im Bereich der Musik und der Künste. Besonders deutlich wird dies bei den verschiedenen Formen der Körperarbeit, die oft die Namen der Lehrerinnen und Lehrer tragen, die die Methode begründet haben, wie Feldenkrais, Alexander, Goralewski oder Middendorf.

In den östlichen Traditionen, und damit auch im Yoga, wurde sehr viel Wert auf Sicherheit, Qualität und Kontinuität in der Weitergabe von Wissen, Lehren und Erfahrungen gelegt.

Wie kann es gelingen, eine Lehre, eine Anweisung, ein Wissen, ein System in seiner ursprünglichen Form zu erhalten?

Eine wesentliche Antwort auf diese Frage war die Entwicklung einer Methode, die primär im Yoga sorgfältig entwickelt und gepflegt wurde: Anuśāsanam, wörtlich: einer Lehre folgen.

Anuśāsanam beschreibt das Wie.

  • Wie kann ich Yoga überhaupt verstehen lernen?
  • Wie lerne ich am besten?
  • Unter welchen Bedingungen?

Für den Yoga bedeutete das:

  • Seine Inhalte waren nicht aus dem Lesen von schriftlichen Texten zu verstehen, sondern waren an eine Person als Lehrenden gebunden, die die Kompetenz über den Text ebenfalls mithilfe eines Lehrenden erworben hatte.
  • Der Lernprozess war von verschiedenen Verbindlichkeiten geprägt:
    • von einer persönlichen Lehr-Lern-Beziehung zwischen zwei Personen
    • von der Akzeptanz der Lehrenden durch die Lernenden
    • von der Bereitschaft und Geduld der Lernenden, sich auf den Text einzulassen
    • von der Fähigkeit der Lehrenden, auf alle Fragen und Schwierigkeiten der Lernenden einzugehen
    • von der Aufforderung zum kritischen Denken und der Ermutigung, das Verstandene in der Praxis zu überprüfen
  • Die eigene, erfolgreiche Erfahrung mit Yoga wurde als absolut notwendige Voraussetzung verstanden, um auch dessen Theorie vermitteln zu können.
  • Die Weitergabe des Gelernten und Verstandenen geschah nicht nach eigenem Gutdünken, sondern wurde vom Lehrer, von der Lehrerin initiiert. Im Idealfall verstand sich ein Yogalehrer also nicht nur als Mittler zwischen Text und Mensch, sondern sicherte sich diese Funktion auch durch die Einhaltung bestimmter Regeln im Unterrichtsprozess. Zu diesen Regeln gehörte, dass seine persönlichen Ambitionen darin nichts zu suchen hatten, dass seine Vorlieben und Abneigungen nicht in die Vermittlung des Textes einfließen durften.

Gut, könnte man nun sagen, wenn das so ist – warum gibt es dann nicht nur eine Version des Yoga Sūtra?

Dass die Methode des anuśāsanam eine Stärke hat, die gleichzeitig aber auch ihre Schwachstelle ist, das war schon den alten LehrerInnen bewusst. Sie ist an lebende Menschen gebunden.

  • Fand ein Lehrer, eine Lehrerin immer jemanden, der die Lehre weitergab?
  • Was, wenn jemand starb, bevor das Werk der Weitergabe vollendet war?
  • Was, wenn der Lehrer, die Lehrerin nicht so kompetent war, wie es den Anschein hatte; wenn die Lernenden nicht genug Ausdauer hatten und vorzeitig wegliefen?
  • Was, wenn ein Schüler dem Unterricht etwas Neues hinzufügte oder etwas wegließ?
  • Muss eine Methode nicht immer wieder an die sich verändernden Bedingungen des Lehrens, Lernens, Lebens und der Welt angepasst werden?
  • Wer darf das, wer kann das, wer soll das?

Schon die Entstehungsgeschichte des schriftlichen Textes der Yoga Sūtra zeigt, wie fragil diese Methode der Überlieferung war. Trotz aller Bemühungen um Kontinuität, um die Aufrechterhaltung einer lebendigen und ungebrochenen Weitergabe der Lehre, scheint es mehr als fraglich, ob dies wirklich gelungen ist.

Schon als Patañjalis Text zum ersten Mal in schriftlicher Form das Licht der Welt erblickte, wurde ihm eine Erklärung beigegeben: der berühmte Kommentar des Vyāsa. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass Vyāsa ein direkter Schüler Patañjalis war; er lebte wahrscheinlich etwa zweihundert Jahre später als dieser. Wir wissen nicht, von wem er das Yoga Sūtra gelernt hat. Es ist sogar möglich, dass der Lehrer-Schüler-Faden, den die anuśāsanam-Methode voraussetzt, von Anfang an abgerissen war. Übrigens gehen manche indischen Erzählungen in ihrem Bemühen, das immer wiederkehrende Phänomen des Traditionsabbruchs zu ignorieren, so weit, dass sie einigen Lehrern ein Leben von mehreren hundert Jahren zugestehen.

Der Wert der Methode anuśāsanam heute

Ist diese alte Methode also veraltet, hat sie sich überlebt oder hat sie sich als unzulänglich erwiesen, um den Anforderungen der verschiedenen Epochen gerecht zu werden? Können wir überhaupt noch etwas mit ihr anfangen?

Die Antwort ist ein doppeltes Ja und ein doppeltes Nein.

Es ist offensichtlich, dass die sozialen Beziehungen einen Grad an Komplexität erreicht haben, der das alte Lehrer-Schüler-Verhältnis bei weitem überfordert. Das alte Modell des Zusammenlebens und des Lehrens/Lernens in einem solchen persönlichen Kontext lässt sich nirgendwo mehr wirklich aufrechterhalten. Und doch hat die Methode des anuśāsanam einen unschätzbaren aktuellen Wert:

Sie stellt eine kontinuierliche, persönliche und mit der eigenen Erfahrung im Yoga verbundene Kommunikation über die zentralen Ideen des Yoga in den Mittelpunkt des Lernens.

Damit löst sie den Text aus einer akademischen Distanz und schafft die Grundlage für eine fruchtbare Auseinandersetzung zwischen Menschen. Dabei geht es nicht um einen Streit der Ideen, sondern um ein gemeinsames Ringen um das Verständnis von Fragen und Antworten, die sich aus einer bestimmten Erfahrung, einer bestimmten Praxis, einem Prozess der Veränderung, der Transformation ergeben.

Dort, wo das gelingt, ermöglicht sie auch etwas, was in unserer Zeit in Bezug auf Yoga immer wichtiger wird. Wenn sich eine Lehre ausbreitet und immer mehr Menschen erreicht, besteht immer die große Gefahr, dass der Inhalt verflacht. Das Wesentliche wird oft aufgegeben. Die Gründe dafür liegen in der Schnelllebigkeit von Interessen und Trends, aber auch in der Vermischung von Lehrinhalten mit dem Interesse, etwas gefällig zu machen, um damit seinen Lebensunterhalt zu verdienen.

Deshalb ist die Überprüfung der Qualität von Lehrenden und Lernenden, die in der Tradition des anuśāsanam steht, ein wichtiger Faktor. Und – das ist vielleicht die wichtigste Botschaft des anuśāsanam:

Yoga ist ein Werkzeug und entfaltet seinen Schatz erst im praktischen Lebenskontext.

Dieser ist in jeder Epoche, an jedem Ort, in jedem gesellschaftlichen Kontext anders. Nur in diesen Zusammenhängen entwickelt und verändert sich der Mensch. Nur in diesen Zusammenhängen kann sich ihr Prozess vollziehen.

  • Was nützen uns alle alten Weisheiten, wenn wir sie nicht auf unser heutiges Leben beziehen können?
  • Was nützen uns die alten Weisheiten, wenn sie heute nicht von zeitgenössischen Vertretern vorgetragen werden?

Beziehen wir diese Überlegungen auf die Frage nach der richtigen Übersetzung des Yoga Sūtra, so kann der folgende Rahmen eine Antwort bieten:

  1. Natürlich darf keine Übersetzung des Yoga Sūtra die Worte des Textes verfälschen. Es wurde schon darauf hingewiesen, dass viele Sanskritwörter ein weites Bedeutungsfeld haben und daher verschiedene Interpretationen zulassen. Deshalb gilt es sich immer wieder zu vergewissern, ob man sich noch in dem für den jeweiligen Begriff gültigen Feld bewegen.
  2. Unter dieser Voraussetzung lassen sich die verschiedenen Interpretationen des Yoga Sūtra für westliche Interessierte vielleicht am besten so beurteilen: Was kann ich mit einer vorgeschlagenen Lesart im Kontext meines Yogawegs, mit meiner Yogaarbeit, mit meinen Erfahrungen, meinen Zweifeln, meinen Erfolgen und meinen Enttäuschungen wirklich anfangen?
  3. Um Antworten auf diese Fragen zu finden, reicht ein einsames Lesen und Studieren des Textes nicht aus. Auch heute noch kann das Yoga Sūtra seine Tiefe, seine Vielschichtigkeit nur dann wirklich entfalten, wenn es lebendig, von Mensch zu Mensch weitergegeben wird.
  4. Gerade im Einzelunterricht erleben wir immer wieder, welch große Überzeugungskraft die Konzepte des Yoga Sūtra dann entfalten können, wenn sie sich als Erklärungen oder Denkanstöße mit ganz persönlichen Fragen, mit dem eigenen Leiden, mit den eigenen Wünschen und Zielen verbinden. Und wenn das Yoga Sūtra im Rahmen einer Gruppe vermittelt wird: Auch dort wird es erst dann lebendig, wenn die Teilnehmenden seine Inhalte mit ihren eigenen Erfahrungen, ihren eigenen Hindernissen, ihren eigenen Bemühungen im Yoga verbinden können.

Wenn die Widersprüche zwischen den verschiedenen Übersetzungen des Textes groß sind: Welcher Übersetzung eines Sūtra soll ich folgen? Eine hilfreiche Entscheidungshilfe wäre es daher, zu prüfen, wie sich eine bestimmte Lesart im Kontext des persönlichen Yogawegs bewährt, ob ihr Inhalt und die sich daraus ergebenden Konsequenzen helfen können, etwas zu erklären, Orientierung zu geben.

Die große Kompetenz von T. Krishnamacharya und seines Schülers TKV Desikachar in Bezug auf das Yoga Sūtra beruhte auf dem Ernstnehmen der alten Prinzipien des anuśāsanam.

T. Krishnamacharya war es durch viele glückliche Umstände vergönnt, den Wert einer von solchen Prinzipien geprägten Weitergabe von Texten durch und durch kennen und schätzen zu lernen. Diese Wertschätzung der Funktion des Lehrers im Rahmen des Yoga anuśāsanam kam ihm zudem nicht nur aus der eigenen Erfahrung als Schüler, d. h. aus den Jahren, die er mit seinem Lehrer im Himalaja verbrachte; es war ihm auch möglich, sie über siebzig lange Jahre aus der Perspektive des Lehrers zu erleben und zu praktizieren. Seine Kompetenz im Umgang mit Sanskrit, der Sprache des Yoga Sūtra, wurde zu seinen Lebzeiten ebenso geschätzt wie sein großes Wissen über die verschiedenen Traditionen und Schulen indischen Denkens und indischer Spiritualität.

Die Gründe, T. Krishnamacharyas vergleichsweise ungewöhnlicher Bezugnahme auf diese Sūtras des 4. Kapitels zu folgen und hier vorzustellen, liegen also in mehreren Punkten begründet:

  • T. Krishnamacharyas Kompetenz und Treue zur Tradition geben die Gewähr, dass kein Wort verbogen wird, dass die Kohärenz mit dem gesamten Text Patañjalis gewahrt bleibt.
  • Die vielen Gespräche, die mit T.K.V. Desikachar darüber geführt wurden.
  • Schließlich zeigt die oft wiederholte Erfahrung, dass das Verständnis der Sūtren eine wertvolle Hilfe dabei ist, die Beziehung zwischen Yogalehrer und Yogaschüler klarer zu gestalten. Es hilft, auf Fallstricke in dieser Beziehung zu achten, die Möglichkeiten und Grenzen des Yogawegs zu erkennen und die eigene Rolle als Yogalehrer oder Yogalehrerin besser zu verstehen.

Ich verändere mich – was verändert sich?

Zurück zum Text. Er hat damit begonnen, besondere Fähigkeiten als Ergebnis von Veränderung darzustellen.

Ein Mensch hat sich verändert – was ist geschehen? Die zweite Sūtra des vierten Kapitels gibt eine erste Antwort. Sie lautet: Wenn sich etwas verändert, was immer es auch sein mag, dann nicht, weil etwas Neues hinzugekommen ist.

jātyantarapariṇāmaḥ prakṛtyāpūrāt
Yoga Sūtra, 4. Kapitel - Sūtra 2

parināma - Wandel
jāti - besonderer Charakter, Qualität, Existenzform
antara - anders
āpūra - auffüllen, fluten

Der Wandel zu etwas anderem geschieht durch Verschiebung in der prakṛtī.

Oft haben wir den Eindruck, dass wir durch die Anhäufung bestimmter Informationen und Kenntnisse zu einem neuen Menschen werden. Oder durch ein paar neue Kleider, wie der berühmte Kaiser im Märchen. Yoga sieht das anders: Bei jeder Veränderung geschieht nichts anderes, als dass sich etwas innerhalb dessen, was sich verändert, verschiebt.

Wenn also Neues entsteht, wenn Veränderung sichtbar wird, dann hat sich Vorhandenes neu zusammengesetzt. Das gilt für Blumen, Steine und Tiere, für den gesamten Kosmos ebenso wie für uns Menschen. Die Grundlage für Veränderungen in allem, was unsere Welt ausmacht, nennt Patañjali prakṛti, und zu dieser prakṛti gehört für Patañjali ausdrücklich auch der menschliche Geist.

Auf dieser Grundlage gilt:

Veränderung fügt nichts Neues hinzu, sie setzt nur anders zusammen, was an Potenzial vorhanden ist, was mitgebracht wird.

Gesundheit und Krankheit sind unter anderem Ausdruck solcher Veränderungen, ebenso wie Freude und Trauer.

Ein Beispiel: Jeder wird den Unterschied zwischen einem kleinen neugeborenen Mädchen und der gleichen Person als erwachsener Frau feststellen; er ist sicherlich gewaltig. Und doch ist es nichts anderes als eine Art innere Verschiebung. War sie ein lebhaftes Kind, so entwickelt sie sich im Laufe der Jahre zu einer ruhigen, nachdenklichen Person, nur weil sie diese Möglichkeit schon als Kind in sich trug. Eine neue Zusammensetzung vorhandener Eigenschaften so sieht es der Yoga bringt diese neuen Qualitäten hervor.

Aus einem ängstlichen Wesen kann ein sehr mutiger Mensch werden und umgekehrt – und wenn wir das erleben, neigen wir dazu, das als eine ganz neu entstandene Eigenschaft zu sehen. Das ist es auch, aber nicht im Sinne eines Neuerwerbs, sondern im Sinne einer Verwandlung, einer neuen Kombination vorhandener Eigenschaften.

Dies geschieht aber nur, wenn eine solche Möglichkeit in ihm angelegt ist. Woher sollte sonst etwas Neues kommen? Wenn es sich um körperliche Eigenschaften handelt, scheint das leichter zu verstehen zu sein: Hat das Neugeborene blonde Haare, so kann es sich in eine Frau mit roten Haaren verwandeln. Warum? Weil es die Veranlagung zu rotem Haar schon in sich trug, als es noch weißblond war.

Wenn es aber um die subtilen mentalen und psychischen Aspekte geht, die eine Persönlichkeit ausmachen, tun wir uns schwerer. Tatsächlich liegt in diesem Modell auch die Gefahr, die Welt deterministisch zu verstehen: Alles ist determiniert, nichts ist wirklich veränderbar.

Aber genau darum geht es hier nicht, im Gegenteil: Es geht darum, Veränderung zu schaffen, zu fördern und zu verstehen.

Schauen wir uns ein Kind an, das heute mehr Rücksicht auf die Bedürfnisse seines Spielkameraden nimmt als gestern. Gestern hat es der Freundin einfach das Lieblingsspielzeug weggenommen und sich nicht darum gekümmert, wie viel Kummer es damit ausgelöst hat. Die Mutter hat es zufällig beobachtet und stellt es zur Rede: Sie erklärt, dass die Freundin verletzt ist, dass es nicht richtig war, so zu handeln: Stell dir vor, sie hätte das mit deiner Lieblingspuppe gemacht!

Diese Intervention zeigt am nächsten Tag Wirkung, das Kind respektiert, was der Spielgefährtin lieb und teuer ist. Diese Veränderung im Kind könnte so gedeutet werden: Etwas wurde von außen (von der Mutter) in das Kind hineingegeben, was vorher nicht in ihr war; eine Erkenntnis wurde ihr geschenkt (oder aufgezwungen?).

Abgesehen von der Schwierigkeit zu erklären, woher eine solche Erkenntnis bei der Mutter oder ihrer Mutter usw. gekommen sein soll, würde man in diesem Fall glauben, man könnte dem Kind nach Art des Nürnberger Trichters etwas einflößen.

Dass das Kind sich heute anders verhält als gestern, liegt an einer Möglichkeit, die bereits in ihm angelegt ist. Die Intervention der Mutter hat diese Möglichkeit hervorgebracht, die prakṛti des Kindes, hier Geist des Kindes, hat eine Verschiebung, eine Neuordnung erfahren.

Wenn dieser Idee Patañjalis gefolgt wird, hat das Konsequenzen für die Wahrnehmung anderer Menschen. Was ich heute sehe, wie sie mir heute begegnen, ist nur eine mögliche Variante ihrer Existenz. Wer Menschen auf diesen Ausschnitt festlegt, provoziert eine Täuschung – oder Enttäuschung. Niemand kann je von einem anderen Menschen wissen, was er an Möglichkeiten in sich trägt.

Das ist die offene Seite von Patañjalis Konzept. Aber es sollte auch so gelesen werden: Was nicht im Potenzial angelegt ist, kann sich nicht entfalten. Ein musikalisches Genie kann auch durch härteste Disziplin nicht erzeugt werden; der virtuose Umgang mit abstrakten Formeln in den höchsten Höhen der Mathematik kann niemandem beigebracht werden, indem die Fähigkeit dazu nicht angelegt ist. Es gibt also auch Grenzen für das Ergebnis einer Veränderung. Soviel zum Material, das jeder Mensch mitbringt, wenn er in einen Veränderungsprozess eintritt.

Wie viel Einfluss haben wir?

Viele, wenn nicht die meisten Veränderungen vollziehen sich völlig ohne willentliches Zutun von innen oder außen. Der kleine Bruder kann vielleicht jeden Abend zum lieben Gott beten, nicht so rote Haare zu bekommen wie seine Schwester – er wird darauf nicht viel Einfluss nehmen können (es sei denn, er nimmt später die Dienste einer guten Friseurin in Anspruch).

Aber auf andere Veränderungen, auf die neue Zusammensetzung der prakṛti, kann man sehr wohl Einfluss nehmen. Wäre Mozart ein so großer Künstler geworden, wenn er als Betteljunge täglich um seinen Lebensunterhalt hätte kämpfen müssen? Oder wenn er die Strenge und die Ansprüche seines Vaters nicht ertragen hätte? Wahrscheinlich nicht. Er wurde gefördert, aber er hat durch seine Disziplin auch einen großen Teil dazu beigetragen, dass heute die ganze Welt die Kleine Nachtmusik genießen kann.

Und zu ganz erstaunlichen Ergebnissen kann jemand kommen, der nicht besonders musikalisch ist, aber viel Freude am Singen hat und sich unbekümmert um jede abwertende Kritik von außen darin übt.

Wie groß der Einfluss ist und wie weit unsere Bemühungen tragen, lässt sich im Vorhinein kaum sagen. Es zeigt sich, wenn man es versucht.

Das ist eine ermutigende Botschaft. Menschen kommen oft zum Yoga, weil sie mit etwas in ihrem Leben unzufrieden sind und sich verändern wollen. Sie schaffen es nicht, innezuhalten, sie entfernen sich von sich selbst, sie sind zu zornig und wollen sanfter werden, sie sind zu gehemmt und wollen mutiger werden, sie sind nicht gut zu sich selbst und wollen liebevoller und respektvoller mit sich umgehen – und vieles mehr.

Welche Rolle dabei ihr eigener Beitrag spielt und was sie für diese bewusste Einflussnahme auf ihre eigenen Veränderungen benötigen und – welche Rolle ein Mensch spielen kann, der um Hilfe bei einer Veränderung gebeten und in Anspruch genommen wird, davon handelt der nächste Abschnitt.

Der Bauer öffnet den Damm

Die Methode, mit der wir auf Veränderung einwirken können, beschreibt Patañjali im dritten Sūtra des vierten Kapitels mithilfe einer Metapher. Es ist die eines Bauern, der durch Bewässerung des Feldes seine Ernte zum Wachsen bringt. Das Beispiel stammt aus Asien. Dort besteht eine wichtige Arbeit des Reisbauern darin, seine Felder nacheinander zu bewässern, indem er einen Damm durchbricht, der das trockene Feld vom Wasser trennt. (Abb. 1)

Abb. 1

Das Besondere an der beschriebenen Methode ist, dass sie indirekt wirkt – aprayojakam; ein Wegnehmen im Mittelpunkt steht: Ein Hindernis wird beseitigt.

nimittam aprayojakaṃ pakṛtīnām varaṇa bhedastu tataḥ kṣetrikavat
Yoga Sūtra, 4. Kapitel - Sūtra 3

nimittam - Ursache, instrumenteller Grund
aprayojakam - indirekt
kṣetrika - Bauer
varaṇa - Hindernis
bhedaḥ - durchstechen

Was eine (solche) Veränderung erzeugt, wirkt nur indirekt auf die prakṛti, so wie ein Bauer, der ein Hindernis durchsticht.

Dann fließt das Wasser von selbst und es wächst etwas (der Reis aus dem Reiskorn, das Gras aus dem Graskorn, das Regenwurmei im Boden zu einem Regenwurm).

Aprayojakam heißt: Es ist eigentlich nur ein Impuls, der in einen Prozess der Veränderung gegeben wird, der auch ohne ihn ständig stattfindet.

Dieser Impuls ist jedoch ein intelligenter und auf bestimmte Wirkungen ausgerichteter. Eine solche Methode erfordert Verständnis und Wissen. Der Bauer ist einer, der sein Feld kennt, aus Erfahrung, aus Beobachtung, aus dem Zuhören bei den Alten, seit er auf seine spätere Arbeit vorbereitet wurde; er ist einer, der experimentiert hat und der sich hauptsächlich immer wieder neu orientiert, jeden Morgen, jeden Sommer, jedes Jahr, an dem, was er draußen vorfindet. Und: Einer, der positive Gefühle für sein Land hegt, der es achtet und sich nicht schadlos daran hält.

Am Beispiel des Handelns eines solchen Bauern zeigt Patanjali das nimitta – das Handeln aus einer intelligenten Ursache. Aber natürlich will das Yoga Sūtra kein Handbuch für Bauern und Gärtner sein, sondern es geht um den Menschen, darum, wie sich ein Mensch, wie sich der Geist eines Menschen verändern kann, oder genauer: wie sich ein Mensch; der Geist eines Menschen mithilfe des Yoga verändern kann. Nimitta, die intelligente Ursache der Veränderung, kann in zwei Richtungen gelesen werden.

Nimitta

Die innere Instanz

Wir können die Metapher des Bauern auf jene Kraft in uns beziehen, die positive Veränderungen in Gang setzt und aufrechterhält. Die Hypothese des Yoga geht von der Existenz eines besonderen Potenzials in uns aus, das neben und in Zusammenarbeit mit dem bereits beschriebenen Potenzial der prakṛti existiert.

Der Name, den Patañjali dafür verwendet: puruṣa, draṣṭṛ oder cit.

Etwas schwieriger ist es, seine Bedeutung zu beschreiben. Anders als in den Upaniṣaden, die unter dem Begriff puruṣa das Bild eines kleinen Menschen in der Mitte unseres Herzens malt, daumengroß, wie es dort heißt, lässt sich das puruṣa des Yoga Sūtra besser als eine großartige Fähigkeit beschreiben, die uns Menschen innewohnt: die Fähigkeit zu verstehen.

Irrtum und Missverständnis beruhen nicht auf dem Fehlen dieser Fähigkeit, sondern darauf, dass es Strukturen und Tendenzen in uns gibt, die diese Fähigkeit behindern und in ihrer Wirkungsmöglichkeit einschränken.

Es ist dieses Potenzial, das allem Verstehen zugrunde liegt; es ist darauf angelegt, sich zu entfalten, und wenn es das tut, lässt es uns den für uns richtigen Weg erkennen. Es ist der Impuls dieser Kraft, der als nimitta positive Veränderungen in uns in Gang setzen kann. Aber nur so, wie es der erwähnte Bauer beim Bewässern seines Feldes kann: abhängig von dem, was an Strukturen, an Potenzialen vorhanden ist.

Lehrer – Kenner des Feldes

Die Metapher des Bauern wörtlich: kṛetrika – Kenner des Feldes kann auch anhand des Mutter-Kind-Beispiels verdeutlicht werden. Hier ist die Mutter – wie der Bauer, der ein Hindernis aus dem Weg räumt – der Auslöser für die Veränderung ihres Kindes. Sie hilft ihm, seine Unfähigkeit, die Spielgefährtin zu verstehen, seine mangelnde Reflexion über die Konsequenzen seines Handelns in Empathie und Mitgefühl zu verwandeln.

Im Kontext einer Veränderung durch Yoga ist es die Yogalehrerin, der Yogalehrer, die mit den Mitteln des Yoga Impulse geben.

Für die Frage, wie Veränderung auf dem Yogaweg möglich wird, war und ist eine Definition der Rolle der Lehrerin, des Lehrers wesentlich. Am Beispiel des Bauern, der den Damm durchsticht und den folgenden Sūtren, kann diese Rolle gewinnbringend dargestellt und diskutiert werden.

Die Yogalehrerin als Bäuerin, als Impulsgeberin, als Initiatorin für Veränderung – das Feld ist dann der Mensch, der mithilfe einer Lehrerin, eines Lehrers Yoga übt.

Man ist sich einig, dass ein Begleiter, eine Begleiterin in einem solchen Prozess in der Lage sein muss, sich auf die besonderen Eigenschaften, Fähigkeiten und Wünsche des Menschen, der die Veränderung anstrebt, zu beziehen. Auf diese Situation trifft zu, was Patañjalis Bild vom Bauern aussagt. Wie dieser benötigt jeder Yogalehrende Wachheit und eine gute Beobachtungsgabe, wenn er aus dem großen Schatz der Yogamittel die für den Übenden passenden auswählt, um damit einen Impuls zu geben.

Wie ein Kenner des Feldes muss der Yoga-Lehrer einerseits sein Handwerkszeug kennen, andererseits aber auch zum Kenner seines Gegenübers werden, um das in ihm verborgene Potenzial zu erkennen.

Respekt vor dem Yoga übenden, wie ihn ein guter Landwirt vor der Erde hat, Achtsamkeit und Sorgfalt sind die Grundlage für eine erfolgreiche Begleitung eines Veränderungsprozesses mit den Mitteln des Yoga.

Was haben wir als Yogalehrende also mit den ersten drei Sūtren des Textes zu tun? Was können wir aus ihnen für unsere Arbeit mitnehmen?

Yogalehrende sind in doppelter Weise in den bisher diskutierten Wandel eingebunden:

Ihre Möglichkeiten sind selbst aus einem eigenen persönlichen Veränderungsprozess hervorgegangen; sie haben in sich die Fähigkeit geweckt oder ausgebildet, andere Menschen in bestimmten Prozessen zu unterstützen. Etwas, das sie vor der Arbeit an sich selbst nicht konnten. Sie haben auch auf unterschiedliche und vielfältige Weise erfahren, dass diese Entwicklung von Impulsen mitgeprägt wurde, die ihnen von Menschen gegeben wurden, die auf ihrem Weg zum Yogalehrer eine Rolle gespielt haben.

Mit diesen Fähigkeiten sind sie nun Menschen, die andere Menschen beeinflussen, die selbst Impulse geben, Potenziale wecken, Veränderungen in Gang setzen.

Wovon es abhängt, ob diese Arbeit erfolgreich ist oder scheitert, welche Fehler gemacht werden können und wie sie zu vermeiden sind, das ist Inhalt des zweiten Teils. ▼

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