Siddhis – außergewöhnliche Fähigkeiten
Am Anfang der ganzen Diskussion steht die Analyse einer Erfahrung, die man damals wie heute machen kann; sie lautet:
Es gibt Menschen, die über besondere, manchmal sogar außergewöhnliche Fähigkeiten verfügen; das Wort dafür lautet im Sanskrit siddhi oder vibhūthi.
Vibhūti-pāda ist das dritte Kapitel des Yoga Sūtra überschrieben, in dem in einer langen Aufzählung, die verschiedensten siddhis genannt werden, die durch Yoga möglich werden können.
Diese vielen siddhis interessieren Patañjali zu Beginn des vierten Kapitels nicht mehr besonders. An dieser Stelle ist es ihm wichtiger, nach den verschiedenen Ursachen zu fragen, die solchen Fähigkeiten einzelner Menschen zugrunde liegen. Mit deren Darstellung beginnt das vierte Kapitel.
Janma
In einer Aufzählung verschiedener Ursachen für siddhis nennt er dort an erster Stelle janma. Es bedeutet: bestimmte Menschen haben von Geburt an besondere Fähigkeiten und Eigenschaften. Das überrascht heute nicht mehr. So wie im Genie eines Mozart oder Yehudi Menuhin, eines Einstein oder Goethe etwas Angeborenes erkannt werden kann, so kannte und kennt Indien Menschen, denen ihr Genie, ihre besonderen Fähigkeiten in die Wiege gelegt wurden.
Auch heute noch glauben viele Menschen in Indien, dass bestimmte Menschen von Geburt an über ganz besondere Fähigkeiten verfügen, wie:
- aus Asche Gold zu machen
- über Wasser zu gehen
- Tote zum Leben zu erwecken
- tagelang ohne Atem auszukommen....
Der Begriff siddhi bezeichnet solche besonderen Fähigkeiten, die aber auch auf andere Weise erworben werden können. Patañjali sieht sie dann als Ergebnis einer Veränderung, die ein Mensch bewusst angestrebt hat. War er vor mehr oder weniger langer Zeit noch ein unauffälliger durchschnittlicher Zeitgenosse, so hat er sich verändert und beeindruckt nun durch Außergewöhnliches.
Patañjalis Begründungen mögen heute befremdlich erscheinen, aber sie zeigen, welche Vorstellungen damals in Indien üblich waren. Die historische und kulturelle Prägung dieser Erklärungsversuche ist unübersehbar, Patañjali beschreibt verschiedene: oṣadhi, mantra und tapas.
janma oṣadhi māntra tāpaḥ sāmādhijāḥ siddhyaḥ
Yoga Sūtra, 4. Kapitel - Sūtra 1
Besondere Fähigkeiten können sich entwickeln durch: Geburt, Kräuter, Mantra, Askese, den Yogaweg.
Oṣadhi
Neben den Glücklichen, die zu ihren siddhis ohne eigenes Zutun gekommen sind, galt es als möglich, über den Weg religiöser Rituale zu besonderen Fähigkeiten zu gelangen. Patañjali verwendet hier das Wort oṣadhi. Wörtlich übersetzt bedeutet es Kräuter, ein Hinweis darauf, dass es in früheren Zeiten üblich war, Rituale mit der Einnahme von heilenden oder bewusstseinsverändernden Pflanzen zu verbinden.
Aber auch allein die aktive Teilnahme von Menschen an priesterlich geleiteten Ritualen verändert in dieser Vorstellung Menschen und verleiht ihnen besondere Gaben. Ihre Fähigkeiten werden gleichsam als Geschenk Gottes in seiner vielfältigen Gestalt verstanden, den sie mithilfe der Priester und eines festgelegten Rituals angerufen haben.
Mantra
Eine dritte Möglichkeit, besondere Fähigkeiten zu entwickeln, besteht nach Patañjali in der Übertragung und Rezitation eines Mantras. Ein solches Mantra kann eine Passage aus den Veden sein, z. B. das Gāyatri-Mantra, oder eine Silbe wie Om oder Soham, um nur drei bekannte Mantren zu nennen.
Natürlich war es auch damals schon leicht, solche Silben zu hören oder sogar zu lesen – aber das machte sie noch lange nicht zu Mantren in dem hier beschriebenen Sinne.
Damit eine Silbe zum Mantra wurde, bedurfte es besonderer Rituale, Vorbereitungen, ganz besonderer Umstände.
So war es etwa üblich zu glauben, dass ein Mantra bereits bearbeitet, d. h. ausführlich praktiziert worden sein musste, bevor es wirksam an eine andere Person weitergegeben werden konnte. Dies bedeutete, dass die Person, die ein Mantra weitergab, zuvor viel eigene Erfahrung und Arbeit in die Praxis dieses Mantras investiert hatte. Einige Stimmen gingen sogar so weit zu behaupten, dass beim Weitergeben eines Mantras ein Teil der eigenen Energie verloren gehen könne.
Wenn ein Mensch mit Hilfe eines Mantras siddhi entwickeln wollte, bedurfte es neben dem oben Gesagten vor allem der eigenen Anstrengung.
Es entsprach einer weitverbreiteten Vorstellung, dass ein Mantra nur dann seinen Dienst tun könne, wenn man es wie ein Werkzeug benutzte. auch das ist übrigens eine Deutung des Wortes Mantra: Werkzeug für den Geist Das Mantra muss auf eine bestimmte Weise und mit einer bestimmten Regelmäßigkeit rezitiert werden, es muss Teil einer bestimmten Praxis werden, sonst wird es seine Wirkung nicht entfalten.
Tapas
Viel Respekt wurde in Indien aber auch den VertreterInnen eines anderen Weges zur Erlangung von siddhis entgegengebracht, Menschen, die oft spektakuläre außergewöhnliche Fähigkeiten entwickelten – den Asketen.
Durch Askese – tapas – zwingt man Körper und Geist seinen starken Willen auf. Solche Menschen sind auch heute noch in religiösen Zentren wie Rishikesh, Hardwar oder Varanasi sehr beliebt. Indische Touristen und Pilger lassen sich dort gerne von Asketen segnen, und für westliche Touristen gilt die Begegnung mit den oft exotisch anmutenden Asketen bisweilen immer noch als die Begegnung mit dem wahren Indien.
Tapas, wörtlich – die Glut, ist das Zaubermittel, aus dem die Fähigkeit erwächst, an zwei Orten gleichzeitig zu sein, Gewichte von ungeheurem Ausmaß zu heben oder zweifelsfrei in eine für andere ungewisse Zukunft zu blicken. Aber natürlich gab es immer auch Kritik an der Askese. Nicht nur, dass seine Wirksamkeit bezweifelt wurde, wie es etwa von Buddha überliefert ist. Auch wenn durch Askese tatsächlich besondere Fähigkeiten entwickelt werden, wurde zu allen Zeiten der Sinn dieser enormen Anstrengungen infrage gestellt.
Ein schönes Beispiel für diese skeptische Haltung gegenüber Asketen beschreibt eine kleine Geschichte, die über Ramakrishna, einen indischen Heiligen des letzten Jahrhunderts, erzählt wird: Als Ramakrishna eines Tages mit einigen seiner Anhänger am Ufer des Ganges in Varanasi spazieren ging, tauchte plötzlich ein Mann neben ihnen auf. Erstaunt fragte Ramakrishna ihn, wie er hierhergekommen sei. Er sei über das Wasser gekommen, teilte der Fremde nicht ohne Stolz mit und fügte hinzu, dass er dieses siddhi durch vierzig Jahre strengster Askese erlangt habe. Daraufhin habe Ramakrishna ihn kopfschüttelnd gefragt, ob er denn nicht die paar Rupien habe, um den Fährmann zu bezahlen.
Samādhi
Die bisher genannten Ursachen für siddhis liegen also offensichtlich außerhalb des Yogaweges, wie ihn Patañjali in den vorhergehenden Kapiteln des Yoga Sūtra dargelegt hat. Mit der letzten Methode, die Patañjali als Wegbereiter für außergewöhnliche Fähigkeiten bezeichnet, kehrt er nun zu seinem Yoga zurück.
Diese Methode ist jedem Yogapraktizierenden bekannt: samādhi. Im engeren Sinne bezeichnet samādhi im Yoga Sūtra das Ergebnis einer gelungenen Meditation. Es bedeutet, den Gegenstand der Meditation mit Verstand und Herz verstanden zu haben.
Samādhi steht für Patañjali hier aber als Inbegriff für den ganzen – gelungenen – Yogaweg. Samādhi bedeutet, so T. Krishnamacharya zu dieser Stelle, alle acht Aspekte des Yoga auf dem gelungenen Yogaweg unter dem sorgfältig wachenden Auge eines Lehrers.