Gehirn, Geist & Bewusstsein – und die Angst vor der Wissenschaft

Unser heutiges Wissen über den Menschen stellt vieles in Frage, dessen wir bisher als vertraute Sicherheiten ganz gewiss waren. Das gilt vor allem auch für unser Verständnis von Geist und Bewusstsein. Wo Neues entsteht, ist auch Platz für Ängste und Befürchtungen. Manche sind berechtigt, andere unbegründet. Der folgende Artikel plädiert für einen unverkrampften und offenen Umgang mit den vielen neuen auf wissenschaftliche Art gewonnenen Erkenntnissen über die Strukturen und die Arbeitsweise des Geistes. Sie werden helfen, seine Möglichkeiten und Grenzen und damit uns selbst – nicht nur im Zusammenhang mit Yoga – besser zu verstehen.

Gehirn, Geist & Bewusstsein – und die Angst vor der Wissenschaft

Unser heutiges Wissen über den Menschen stellt vieles in Frage, dessen wir bisher als vertraute Sicherheiten ganz gewiss waren. Das gilt vor allem auch für unser Verständnis von Geist und Bewusstsein. Wo Neues entsteht, ist auch Platz für Ängste und Befürchtungen. Manche sind berechtigt, andere unbegründet. Der folgende Artikel plädiert für einen unverkrampften und offenen Umgang mit den vielen neuen auf wissenschaftliche Art gewonnenen Erkenntnissen über die Strukturen und die Arbeitsweise des Geistes. Sie werden helfen, seine Möglichkeiten und Grenzen und damit uns selbst – nicht nur im Zusammenhang mit Yoga – besser zu verstehen.

Gehirn, Geist & Bewusstsein – und die Angst vor der Wissenschaft

Unser heutiges Wissen über den Menschen stellt vieles in Frage, dessen wir bisher als vertraute Sicherheiten ganz gewiss waren. Das gilt vor allem auch für unser Verständnis von Geist und Bewusstsein. Wo Neues entsteht, ist auch Platz für Ängste und Befürchtungen. Manche sind berechtigt, andere unbegründet. Der folgende Artikel plädiert für einen unverkrampften und offenen Umgang mit den vielen neuen auf wissenschaftliche Art gewonnenen Erkenntnissen über die Strukturen und die Arbeitsweise des Geistes. Sie werden helfen, seine Möglichkeiten und Grenzen und damit uns selbst – nicht nur im Zusammenhang mit Yoga – besser zu verstehen.

Einleitung

»Es ist Sommer 1848. Wir befinden uns in Neuengland. Aus heiterem Himmel schickt sich das Verhängnis an, Phineas P. Gage, einen vielversprechenden jungen Mann von fünfundzwanzig Jahren, Vorarbeiter bei einer Eisenbahngesellschaft, zugrunde zu richten. Anderthalb Jahrhunderte später wird sein Schicksal die Menschen immer noch beschäftigen.«

So beginnt Antonio R. Damasios 1994 erstmals erschienenes Buch mit dem Titel »Descartes’ Irrtum«. Er illustriert damit seine These, dass Liebe, Hass und Schmerz, Eigenschaften wie Freundlichkeit und Grausamkeit alle auf neuronalen Ereignissen im Gehirn beruhen. Antonio R. Damasio: Descartes’ Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn, List 2004

Was ist Phineas P. Gage geschehen, was hat ihn so berühmt gemacht? Gage war Vorarbeiter eines Bautrupps, die eine neue Eisenbahnstrecke durch Vermont verlegte. Für die dafür notwendigen Sprengungen wurden Löcher in den Stein gebohrt, mit Sprengpulver gefüllt und dann mit Sand geschlossen. Mit kräftigen Stößen einer Eisenstange wurde das Ganze schließlich festgestampft. Eine Nachlässigkeit bei der Abdeckung mit dem Sand, ein Funken und es geschieht der schreckliche Unfall: Die Sprengladung explodiert zu früh, die Eisenstange wird mit großer Wucht aus dem Bohrloch geschleudert und verletzt Gage schwer. Sie bohrt sich durch die linke Wange, durchschlägt die Schädelbasis, durchquert den vorderen Teil seines Gehirns und tritt aus dem Schädeldach wieder aus. Erst 30 Meter hinter ihm fällt die Stange zu Boden.

Die folgende Krankengeschichte wurde von Dr. Harlow, einem Arzt des nahe gelegenen Städtchens Cavendish sorgfältig protokolliert und damit für die Nachwelt festgehalten. Sie begann für alle Zeugen des Unfalls mit einer Überraschung. Gage überlebte die furchtbare Kopfverletzung nicht nur, sondern er blieb bei Bewusstsein, konnte sofort wieder gehen und sprach mit dem herbeigerufenen Arzt in vollkommen normaler und verständlicher Weise. In den folgenden Tagen und Wochen schritt seine Genesung zügig voran, er kam wieder zu Kräften, konnte ohne Einschränkungen fühlen, hören und sprechen. Keine Lähmungen schränkten ihn ein, seine Bewegungen blieben sicher. Zwar war er auf dem linken Auge erblindet, das rechte behielt aber die volle Sehkraft.

So erfolgreich allerdings Gages körperliche Heilung verlief, so auffällig und betrüblich entwickelte sich die Veränderung seines Wesens, die nach dem Unfall einsetzte. Phineas P. Gage war bekannt gewesen für seine Achtsamkeit anderen gegenüber, seine Sorge um die ihm unterstellten Arbeiter, seine Besonnenheit bei wichtigen Entscheidungen. Er war beliebt, heute würden wir sagen, er zeichnete sich durch eine hohe soziale Kompetenz aus. Alle diese Qualitäten standen Gage nun nicht mehr zur Verfügung. Seine Bekannten stellten vielmehr fest, dass »Gage nicht mehr Gage war«. Er zeigte seinen Mitmenschen gegenüber oft Verachtung, war launisch, halsstarrig, ungeduldig. Ihm fehlte jenes Einfühlungsvermögen, das ihn so beliebt und respektiert gemacht hatte. Rasch verlor er seine sozialen Kontakte und musste wegen ständiger Konflikte mit seinen Kollegen bald entlassen werden. Danach begann für ihn eine rastlose Odyssee, die ihn nach Chile und schließlich San Francisco verschlug, wo er 1861 vereinsamt starb.

Die Dokumentation und Interpretation dieser traurigen Geschichte durch den Arzt Dr. Harlow wurde zu einem Meilenstein in der Geschichte der Neurowissenschaft. Sie legte einen Schluss nahe, der das damalige Menschenverständnis radikal in Frage stellte:

Für die Realisierung ganz wesentlicher zutiefst menschlicher Eigenschaften – wie die Fähigkeit sich einzufühlen oder Verantwortung zu übernehmen – sind bestimmte Bereiche in unserem Gehirn verantwortlich.

Damit wurde eine der entscheidenden Fragen für die Zukunft der Erforschung des menschlichen Geistes gestellt.

Ist unser Geist auch in seinen größten Leistungen und seinem intensivsten Erleben, ist unser Bewusstsein letztlich getragen von einer – wenn auch unvorstellbar komplexen – Aktivität unseres Gehirns? Und wenn ja, wie kann man sich diesen Prozess vorstellen und in welchem Zusammenhang steht er mit den vielfältigen anderen Prozessen in unserem Körper? Und weiter: Lässt sich unser Geist, unser Bewusstsein überhaupt so erforschen wie alle anderen Naturphänomene auf unserer Erde und im Kosmos auch?

Es ist bemerkenswert, dass vor zweieinhalbtausend Jahren diese Fragen schon einmal gestellt und ganz ähnlich beantwortet wurden.

»Die Menschen sollten wissen, dass aus nichts anderem als dem Gehirn Freuden, Wonnen, Gelächter, Spott sowie Kummer, Leid, Verzweiflung und Wehklagen hervorkommen. Und dadurch erlangen wir auf besondere Weise Weisheit und Erkenntnis, und wir sehen und hören und wissen, was unanständig und was anständig, was schlecht und was gut, was süß und was ungenießbar ist. ... Und durch dasselbe Organ werden wir verrückt und reden irre und Ängste und Schrecken überfallen uns, manche bei Nacht manche bei Tag. ... Alle diese Dinge erleiden wir durch das Gehirn, wenn es nicht gesund ist. .. So bin ich der Meinung, dass das Gehirn die größte Macht auf den Menschen ausübt.«

So der griechische Philosoph und Arzt Hippokrates im 4. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung in seiner Schrift »Über die heilige Krankheit«.1 Heute hat die Forschung die bei Phineas Gage verletzten Teile des Gehirns tatsächlich als die Gehirnareale identifiziert, die eine wesentliche Rolle spielen für die Fähigkeit mitfühlen zu können, angemessen auf unsere Umgebung zu reagieren und achtsam anderen und uns selbst gegenüber zu sein. Je mehr von der Arbeitsweise unseres Gehirns in Verbindung mit unserem Körper verstanden wird, umso deutlicher treten die engen und nicht auflösbaren Zusammenhänge zwischen Gehirnstruktur und Gehirnfunktion einerseits und dem Erleben andererseits zutage. Solche Vorstellungen bleiben natürlich auch heute nicht unumstritten. Die daraus entstandenen Diskussionen sind intensiv und erfassen inzwischen Wissenschaften wie die Philosophie, die Psychologie, die Pädagogik und nicht zuletzt auch die Medizin.

___

1 Als »Heilige Krankheit« wurde im alten Griechenland die Epilepsie verstanden. Sie galt als ein »Besessensein von der göttlichen Macht«. Dagegen wendet sich Hippokrates in seiner berühmten Schrift und besteht darauf, dass auch in dieser Krankheit natürliche Ursachen am Wirken sind. Hundert Jahre später greift Aristoteles allerdings wieder den alten Glauben auf, nach dem bei den Organen das Herz dem Gehirn übergeordnet sei. Das Gehirn dient seiner Ansicht nach nur der Kühlung des Körpers. Weil die christliche Philosophie den Lehren des Aristoteles weitgehend folgte, prägte seine Vorstellung das Bild des Körpers bis zum Beginn der Neuzeit und klingt auch noch heute an in der Rede vom kühlen und damit auch rationalen Kopf im Gegensatz zum gefühlvollen Herzen.

Ein neuer Blick auf alte Fragen

Aber auch außerhalb des Wissenschaftsbetriebs stößt das Unterfangen der Neurowissenschaft, Geist und Bewusstsein natürlichen und überprüfbaren Erklärungen zugänglich zu machen auf großes Interesse. Als unter dem Titel »Wer bin ich und wenn ja wie viele?« Richard David Precht: Wer bin ich und wenn ja wie viele. Eine philosophische Reise – Goldmann 2007 auf spannende Art ein gut lesbarer Einblick in die damals aktuelle neurowissenschaftliche Diskussion erschien, wurde das Buch schnell zu einem Bestseller.

Dieses Interesse ist auch aus dem Yogaunterricht bekannt. »Wie lässt sich das denn heutzutage erklären?« erscheint dort vielen als eine ganz selbstverständliche Frage angesichts der unterschiedlichen positiven Erfahrungen, die sie mit der Praxis von Yoga machen. Und gefragt wird dabei immer häufiger nach Erklärungen, die nicht aus einem mittelalterlichen Weltbild schöpfen, sondern Bezug nehmen auf unser heutiges Wissen, unsere heutige Kultur. Die Neugierde an der Erkundung des menschlichen Geistes und Bewusstseins wird sicher auch unterstützt durch den neuen Ton, der in wissenschaftlichen Diskussionen immer häufiger gepflegt wird. Man gefällt sich dort nicht mehr in der Abgeschiedenheit des berühmten Elfenbeinturms, sondern bemüht sich um Verständlichkeit. Dabei berühren viele Fragestellungen der Neurowissenschaft unmittelbar unseren Alltag und liefern wichtige Ergänzungen zu unserem psychologischen und medizinischen Wissen über den Menschen.

So, wenn es um die Aufdeckung krank machender Mechanismen von Stress geht. Oder um den Zusammenhang bestimmter Stoffwechselprozesse im Gehirn bei Krankheiten wie Alzheimer, Depression oder Parkinson und der damit möglichen Suche nach entsprechenden Therapien. Oder um die Biologie von Süchten oder die »Biologie der Angst«. Gerard Hüther: Biologie der Angst. Wie aus Stress Gefühle werden, Vandenhoek, 10. Auflage 2009

Manchmal finden sich auch Antworten auf Fragen, die wir uns schon als Kinder gestellt haben. Wie, warum wir uns selbst nicht kitzeln können? Und inzwischen hat die Diskussion um Gehirn, Geist und Bewusstsein auch Übungsweisen wie Yoga erreicht. Es wird darüber geforscht, auf welche Weise Körperübungen einem Menschen Glücksgefühle verschaffen, das Immunsystem beeinflussen oder unterstützen können, eine Depression zu heilen. Man beginnt sich dafür zu interessieren, was im Gehirn geschieht, wenn meditiert oder sich auf den Atem ausgerichtet wird. Dass sich die Wissenschaft solcher Themen so intensiv annimmt, ist allerdings für manche, die im Yoga unterwegs sind, auch beängstigend. Warum?

Wenn Wissen Angst macht

Ein Grund dafür mag in der Befürchtung liegen, dass etwas seine Tiefe, seinen Zauber verliert, wenn es einer wissenschaftlichen Erklärung zugänglich wird. Wie kalt wäre eine Welt ohne Geheimnisse, reduziert auf nüchterne Fakten und mathematische Formeln? So alt und hartnäckig diese Angst ist, so sehr hat sie sich in der langen Geschichte der Wissenschaften immer wieder als unberechtigt erwiesen.

Der Regenbogen gilt als gutes Beispiel dafür, wie wenig die wissenschaftliche Erklärung einem Naturphänomen die Kraft nimmt, uns zu berühren und zu verzaubern.

Wir wissen heute (wenn auch erst seit 1704 ziemlich und seit 1908 sehr genau), dass der Regenbogen durch eine komplexe Brechung des Sonnenlichts in Abertausenden von Regentropfen hervorgerufen wird. Wir wissen deshalb auch, dass es den Regenbogen am Himmel »so« gar nicht gibt. Er entsteht vielmehr als sichtbarer Bogen erst genau an dem Ort, an dem diese Lichtbrechungen auf unsere Augen treffen. Ein Betrachter direkt neben uns sieht deshalb nicht »unseren«, sondern eben »seinen« Regenbogen. Wir wissen auch, dass an den Enden des Bogens keine Goldtöpfchen auf uns warten. Und trotzdem setzt uns ein Regenbogen immer wieder in Erstaunen, wir halten inne, bewundern sein Farbenspiel und lassen uns davon ergreifen.

Seine Entstehung wissenschaftlich erklären zu können nimmt uns offensichtlich nichts von der Freude an der Schönheit dieses Phänomens, nichts von seiner Eindrücklichkeit und Erhabenheit. Ebenso verliert eine Sonnenfinsternis nicht deshalb ihre Magie für uns, weil wir wissen, dass es der Mond ist, der die Sonne verdunkelt und nicht die Götter, die auf diese Weise den Menschen von schlechten Zeiten künden wollen. Und das Flattern im Bauch wird nicht weniger, wenn wir wissen, dass jedes sich-verliebt-Fühlen die Ausschüttung bestimmter Botenstoffe im Gehirn zur Bedingung hat.

Damit uns etwas berührt, muss es nicht unerklärbar bleiben. Viele Menschen machen vielmehr eine ganz andere Erfahrung. Sie beschreiben, wie ein immer besseres Verständnis dieser wunderbaren Welt und ihrer BewohnerInnen ihre Ehrfurcht davor und ihr Staunen darüber nicht schmälert, sondern vielmehr vergrößert.

Und sie erleben, wie der Zuwachs an Wissen um die so unendlich vielfältigen Zusammenhänge auf unserem Planeten ihnen ihre Eingebundenheit in diese Welt bewusster macht und sie das Gefühl der Verantwortung dafür umso intensiver spüren lässt.

Durch eine wissenschaftlich fundierte Betrachtung wird sich kein Phänomen jemals ändern – weder der Regenbogen noch die Verliebtheit. Was sich ändert ist allein die Erklärung, die sich schließlich dafür finden lässt.

Deshalb kann uns die Wissenschaft weder das Staunen über den Regenbogen noch die Verliebtheit stehlen, und sie will es auch gar nicht. Auch ein anderes Missverständnis sei hier gleich mit geklärt. Kaum jemand aus den Kreisen der Wissenschaft behauptet ernsthaft, die wissenschaftliche Methode sei die einzige Form von Erkenntnisgewinn.

Geist, Bewusstsein und Natur

Angst vor einem Einmischen der modernen Wissenschaft in die alten Themen des Yoga mag auch deshalb entstehen, weil die wissenschaftliche Erkundung unseres Geistes und unseres Bewusstseins althergebrachte Vorstellungen infrage stellt.

Kann es sein, dass aus dem Zusammenspiel von Abermilliarden von Zellen, Verbindungen, Netzwerken, aus Milliarden gleichzeitig über Nervenzellen, Hormonen, Neurotransmittern in uns kreisenden Botschaften etwas entsteht, das uns die Welt um uns erleben lässt? Und darüber hinaus etwas, das es möglich macht, uns unserer selbst bewusst zu werden und danach zu fragen, wer wir eigentlich sind? Manchen erscheint es als eine provokante These, was Gerhard Roth, einer der »Väter« der modernen Hirnforschung in Deutschland so zusammenfasst: Gerhard Roth: Wie einzigartig ist der Mensch? Die lange Evolution der Gehirne und des Geistes, Spektrum 2010.

»Geist und Bewusstsein sind natürlichen Ursprungs und das Produkt einer langen biologischen Evolution. Innerhalb dieser Evolution haben wir trotz sorgfältiger Suche keinerlei unerklärliche Sprünge entdecken können, und dies gilt auch für den menschlichen Geist. Vielmehr können die Unterschiede in den verschiedenen Stufen des Bewusstseins und unterschiedlichen mentalen Leistungen bei Tieren auch im Vergleich zum Menschen mit Unterschieden in den entsprechenden Gehirnstrukturen und Gehirnfunktionen in Verbindung gebracht werden. Diese Erkenntnis ist mit einer dualistischen Auffassung von Geist und Gehirn nicht vereinbar, denn es gibt keine kognitiven-geistigen Leistungen ohne spezifische neuronale Strukturen und Funktionen. Es gibt auch keine Hinweise auf eine rein »mentale Verursachung«, also das Wirken eines Geistes auf das Gehirn außerhalb der Grenzen des Naturgeschehens.«

Darüber hinaus schreibt er: » ..., dass Bewusstsein in einigen Gehirnen zur Ausbildung einer »mentalen Welt« führt, in der ein fiktiver Akteur – beim Menschen verbunden mit einer Ich-Empfindung – wahrnimmt, denkt, fühlt und plant.«

Mit anderen Worten: Bewusstsein ist das Ergebnis eines langen Prozesses innerhalb der Entwicklung des Lebens auf unserer Erde. Es gibt kein Geistiges getrennt und unabhängig vom lebendigen Menschen. Vielmehr gilt umgekehrt: Alles Geistige, unser Erleben – ob im hektischen Alltag, in der tiefsten Meditation oder im Traum, unsere Gefühle, sei es Mitgefühl oder Hass – ist Ausdruck der Lebendigkeit, Komplexität und Struktur eines Menschen und in besonderer Weise an die Gehirnfunktionen gebunden.

Das Gehirn ist die zentrale Bedingung des Menschseins.

Aber auch Gerhard Roth hält in Übereinstimmung mit der großen Mehrheit seiner Kollegen nichts von einem simplen Materialismus, der Neurowissenschaftler wie ihm oft unterstellt wird: »Wir gehen davon aus, dass der Geist auch in der Form bewussten Erlebens ein Zustand ist, der nur unter bestimmten materiellen, energetischen und funktionalen Bedingungen auftritt, wie sie in komplexen Gehirnen herrschen. Diese Auffassung ist mit einem reduktionistischen Materialismus unvereinbar, der im Geist und Bewusstsein nichts anderes als das Feuern von Neuronen sieht. Eine solche Vorstellung verwechselt den Mechanismus mit seinen Leistungen. Sowenig wir daran zweifeln können, dass unser Gehirn … für das Auftreten von Geist und Bewusstsein verantwortlich ist, so wenig kann man Geist und Bewusstsein mit den sie hervorbringenden neuronalen Mechanismen gleichsetzen.«

So versteht die Mehrzahl der Neurowissenschaftler unser Erleben als Teil unendlich komplexer menschlicher Lebensprozesse, deren Verständnis sehr viel mehr erfordert als ein Wissen von Physik, Chemie und Biologie. Das Bewusstsein soll nicht auf bestimmte Gehirnaktivitäten reduziert werden. Vielmehr geht es darum, auch für geistige Phänomene wie Bewusstsein, Erfahrung und, Erinnerung brauchbare, nachvollziehbare und dem heutigen Wissen über die Natur angemessene Erklärungen zu finden. Und manche mag es vielleicht beruhigen, dass die Möglichkeiten der Wissenschaft begrenzt sind und dass das von eigentlich allen Beteiligten auch so gesehen wird.

Oliver Sacks, einer der berühmtesten Pioniere der Kognitionsforschung, wurde gefragt Interview mit Oliver Sacks: Spiegel 2/2011, S. 130: Nehmen wir an, wir könnten die Prozesse der Wahrnehmung, der Sprache und des Denkens vollständig verstehen. Wären wir dann in der Lage, die innere Welt einer anderen Person zu betreten und uns in deren Geist hineinzuversetzen?

Sacks: Eine primitive Form des Gedankenlesens ist ja heute bereits möglich – mit bildgebenden Verfahren in der Medizin. Wenn Menschen sich ein Musikstück oder eine Farbe vorstellen oder ein Gedicht im Kopf aufsagen, lässt sich Aktivität in ganz bestimmten Gehirnarealen nachweisen. Anspruchsvollere Gedankenleserei wird allerdings niemals Realität werden, weil jeder Mensch neu und einzigartig ist. Das Gehirn jedes Einzelnen entwickelt sich auf ganz spezifische Weise. Selbst wenn man – theoretisch – die eigenen Gehirnzellen in den Kopf eines anderen übertragen könnte, hätte dieser andere keine Ahnung, was er damit anfangen soll.

Frage: Warum nicht?

Sacks: Weil die Sprache der Einzigartigkeit und Subjektivität niemals durch die Sprache der Physiologie ersetzt werden wird. Wenn Sie zum Beispiel an einen wundervollen Moment Ihres Lebens denken – vielleicht als Sie zweiundzwanzig und verliebt waren, der Mond an einem sternklaren Himmel aufging und alles einfach fabelhaft war –, wie prägt sich ein solcher Moment ins Gehirn ein? Wir wissen es nicht. Unsere Methoden sind zu grob. Es gibt Millionen und Abermillionen Neuronen mit zehntausenden Verbindungen zu anderen Neuronen. Unsere medizinische Bildgebung wird zwar immer besser. Aber ich glaube nicht, dass sie jemals gut genug werden kann, um dem Kosmos des Gehirns gerecht zu werden.

Manche Befürchtungen gegenüber der Neurowissenschaft sind hauptsächlich Ausdruck einer Unkenntnis ihrer wirklichen Ziele: der Erforschung des Bewusstseins, unserer Erfahrungen, der Strukturen und Möglichkeiten unseres Geistes. All dies wird selbstverständlich auch weiterhin Gegenstand etwa der Psychologie, Pädagogik oder Philosophie bleiben. Und natürlich auch Gegenstand von Konzepten und Übungswegen wie denen des Yoga. Allerdings gelten der heutigen Wissenschaft die bisherigen Vorstellungen der Psychologie, der Philosophie oder der alten Traditionen über die Strukturen unseres Bewusstseins und über den Geist aus gutem Grund nicht mehr als die einzig mögliche Wahrheit.

Infolge der umfang­reichen Forschungen und Diskussionen der letzten hundert Jahre müssen wir uns dabei der einfachen Tatsache stellen, dass sich manche traditionelle Vorstellung über das Wesen des Menschen heute wohl kaum mehr aufrechterhalten lässt. Dazu gehört unter anderem der Glaube an die Trennung von Geist und natürlichen Lebenspro­zessen, von Bewusstsein und Körper. Zu viele der umfangreichen Erkenntnisse, die wir inzwischen über die Arbeit des menschlichen Gehirns, des Nervensystems und des gesamten Körpers gewonnen haben, sprechen eine andere Sprache.

Wer darf mitreden?

Schließlich soll nicht vergessen werden, einen weiteren Aspekt der Angst vor der wissenschaftlichen Erkundung unseres Geistes zu erwähnen. Von ihm werden nämlich gerade manche Lehrenden des Yoga und ähnlicher Übungswege offensichtlich in ganz besonderer Weise berührt. Es ist die Angst vor dem Verlust ihrer bisher unbestrittenen Deutungshoheit da, wo es um Praxis, Erfahrung und Konzepte von Āsana, Pranayama und Meditation geht oder etwa um die Interpretationen spiritueller Erlebnisse.

Je mehr die Deutung von Erfahrungen auf dem Übungsweg esoterisch oder religiös gebunden ist, umso schwerer wird eine offene Diskussion um alternative Interpretationen möglich sein. Wer Yoga also als die Wahrheit versteht, So fand sich in einem Yogajournal der schwergewichtige Satz: »Yoga ist keine Religion, sondern herauskristallisierte Wahrheit«, wird vielleicht bisweilen ein leises Bangen spüren, den so behaupteten exklusiven Besitz dieser Wahrheit könnte jemand doch einmal streitig machen. Und Angst lauert wohl auch dort, wo sich in spirituellen Kreisen Hochmut breitgemacht hat und in Sätzen ausdrückt wie diesem: »Wissenschaft schwatzt und benimmt sich, als hätte sie alle Erkenntnis bereits gewonnen. Weisheit hört nur den Widerhall ihrer einsamen Schritte am Rande eines unermesslichen Ozeans.«) Das Zitat stammt von Sri Aurobindo (1872-1950) Ebenso ignoriert eine solche Rede das oft von großer Bescheidenheit und Ehrfurcht geprägte Denken vieler bedeutender Wissenschaftler.

Wege in die Zukunft

Natürlich blüht auch auf Seiten der Wissenschaft bisweilen Selbstüberschätzung und Intoleranz. Auch scheinbar sicherem Wissen gegenüber ist ein kritischer und offener Blick angebracht; das lehren nicht zuletzt die innerhalb der Wissenschaften selbst oft sehr kontrovers geführten Diskussionen. Aber gerade innerhalb der Neurowissenschaften werden solche Diskussionen sehr intensiv und offen geführt, es gibt keine Denkverbote, immer wieder werden alte und neue Erkenntnisse kritisch hinterfragt und durch bessere, der Wirklichkeit angemessenere Konzepte ersetzt.

Es lohnt sich also, sich auf den immer intensiveren und fruchtbaren Dialog zwischen moderner Wissenschaft und traditionellen Übungswegen mit ihren Erfahrungen und Konzepten einzulassen. Ein Meilenstein in diesem neuen Miteinander war der erste sogenannte »Mind and Life Dialog« in Dharamshala 1987.

Dort traf unter anderem der 14. Dalai Lama (dessen jüngerer Bruder ein Mitinitiator der Konferenz war) auf den damals schon berühmten Neurobiologen Francis Varela und andere Wissenschaftler, die sich intensiv mit Fragen des Bewusstseins beschäftigten. Es begann ein interessanter und folgenreicher Dialog zwischen Menschen mit gänzlich anderem kulturellem Hintergrund und völlig verschiedenem Herangehen an die Frage von Geist und Bewusstsein.2 In den folgenden Jahren inspirierten erste Studienergebnisse und die Offenheit des Dalai Lama gegenüber neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen und Fragen viele Forscher, Institute und Universitätseinrichtungen in den USA dazu, sich intensiver als bisher den Prozessen und Wirkungen von Meditation zu widmen. Man lud zum Beispiel tibetische Mönche ein und untersuchte mithilfe moderner bildgebender Verfahren ihre Gehirnaktivitäten während der Meditation; vorwiegend buddhistisch orientierte meditative Verfahren wurden in therapeutischen Zusammenhängen erprobt und ihre Wirkung erforscht.

Die vom Mind & Life Institut organisierten Treffen finden noch immer regelmäßig statt; ihr Schwerpunkt ist der Dialog zwischen Wissenschaft und tibetischem Buddhismus geblieben. Darüber hinaus hat sich aber inzwischen auch eine weltanschaulich ungebundene und immer vielfältigere Forschergemeinschaft entwickelt, die sich um ein wissenschaftlich fundiertes Verständnis von Meditation und anderen Übungsmethoden bemüht. Noch werden die meisten Forschungsvorhaben an Universitäten und Instituten in den USA konzipiert und durchgeführt. Aber auch im deutschsprachigen Raum nimmt die Zahl von Wissenschaftlern zu, die über diese Themen forschen und diskutieren. So trafen sich etwa einige ihrer wichtigsten Vertreter auf einem im November 2010 in Berlin abgehaltenen 1. Kongress über Wissenschaft und Meditation. Bemerkenswert dabei ist, dass offensichtlich fast alle Neurowissenschaftler, Therapeuten und Philosophen, die dort ihren wissenschaftlichen Blick auf meditative Praxis und Erfahrungen darlegten, selbst auf eine oft jahrzehntelange Meditationspraxis zurückblicken.

Das Interesse an der wissenschaftlichen Erforschung des Bewusstseins hat für viele von ihnen seinen Ursprung weniger in einer akademischen Fragestellung. Vielmehr waren häufig die Erfahrungen aus eigener kontemplativer Praxis der entscheidende Impuls, dieses Thema auch zum Gegenstand ihrer wissenschaftlichen Profession zu machen. Dass sich die erste Garde der in Deutschland (und übrigens auch in den USA) über Meditation forschenden Wissenschaftler mehrheitlich durch solche Biografien auszeichnet, ist typisch für die Offenheit heutiger wissenschaftlicher Erkundungen des menschlichen Bewusstseins und Geistes.

Statt also ängstlich eine angeblich um sich greifende Wissenschaftsgläubigkeit zu beklagen, können wir im Yoga uns ganz entspannt freuen auf zukünftige neue und sicher auch überraschende Erkenntnisse über den Menschen und die großartigen Fähigkeiten seines Geistes und seines Bewusstseins. Sie werden uns in unseren Diskussionen und in unserer Arbeit unterstützen. ▼

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2  Ein Bericht über diese Konferenz erschien als Buch, das nur noch antiquarisch erhältlich ist: Gewagte Denkwege. Wissenschaftler im Gespräch mit dem Dalai Lama, Piper 1996. Die bekannteste und auch noch erhältliche Veröffentlichung bezieht sich auf die 8. »Mind and Life« Konferenz 2000 in Daramshala: Dialog mit dem Dalai Lama – wie wir destruktive Emotionen überwinden können, dtv, 2005

Dieser Artikel ist ursprünglich
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Einleitung

»Es ist Sommer 1848. Wir befinden uns in Neuengland. Aus heiterem Himmel schickt sich das Verhängnis an, Phineas P. Gage, einen vielversprechenden jungen Mann von fünfundzwanzig Jahren, Vorarbeiter bei einer Eisenbahngesellschaft, zugrunde zu richten. Anderthalb Jahrhunderte später wird sein Schicksal die Menschen immer noch beschäftigen.«

So beginnt Antonio R. Damasios 1994 erstmals erschienenes Buch mit dem Titel »Descartes’ Irrtum«. Er illustriert damit seine These, dass Liebe, Hass und Schmerz, Eigenschaften wie Freundlichkeit und Grausamkeit alle auf neuronalen Ereignissen im Gehirn beruhen. Antonio R. Damasio: Descartes’ Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn, List 2004

Was ist Phineas P. Gage geschehen, was hat ihn so berühmt gemacht? Gage war Vorarbeiter eines Bautrupps, die eine neue Eisenbahnstrecke durch Vermont verlegte. Für die dafür notwendigen Sprengungen wurden Löcher in den Stein gebohrt, mit Sprengpulver gefüllt und dann mit Sand geschlossen. Mit kräftigen Stößen einer Eisenstange wurde das Ganze schließlich festgestampft. Eine Nachlässigkeit bei der Abdeckung mit dem Sand, ein Funken und es geschieht der schreckliche Unfall: Die Sprengladung explodiert zu früh, die Eisenstange wird mit großer Wucht aus dem Bohrloch geschleudert und verletzt Gage schwer. Sie bohrt sich durch die linke Wange, durchschlägt die Schädelbasis, durchquert den vorderen Teil seines Gehirns und tritt aus dem Schädeldach wieder aus. Erst 30 Meter hinter ihm fällt die Stange zu Boden.

Die folgende Krankengeschichte wurde von Dr. Harlow, einem Arzt des nahe gelegenen Städtchens Cavendish sorgfältig protokolliert und damit für die Nachwelt festgehalten. Sie begann für alle Zeugen des Unfalls mit einer Überraschung. Gage überlebte die furchtbare Kopfverletzung nicht nur, sondern er blieb bei Bewusstsein, konnte sofort wieder gehen und sprach mit dem herbeigerufenen Arzt in vollkommen normaler und verständlicher Weise. In den folgenden Tagen und Wochen schritt seine Genesung zügig voran, er kam wieder zu Kräften, konnte ohne Einschränkungen fühlen, hören und sprechen. Keine Lähmungen schränkten ihn ein, seine Bewegungen blieben sicher. Zwar war er auf dem linken Auge erblindet, das rechte behielt aber die volle Sehkraft.

So erfolgreich allerdings Gages körperliche Heilung verlief, so auffällig und betrüblich entwickelte sich die Veränderung seines Wesens, die nach dem Unfall einsetzte. Phineas P. Gage war bekannt gewesen für seine Achtsamkeit anderen gegenüber, seine Sorge um die ihm unterstellten Arbeiter, seine Besonnenheit bei wichtigen Entscheidungen. Er war beliebt, heute würden wir sagen, er zeichnete sich durch eine hohe soziale Kompetenz aus. Alle diese Qualitäten standen Gage nun nicht mehr zur Verfügung. Seine Bekannten stellten vielmehr fest, dass »Gage nicht mehr Gage war«. Er zeigte seinen Mitmenschen gegenüber oft Verachtung, war launisch, halsstarrig, ungeduldig. Ihm fehlte jenes Einfühlungsvermögen, das ihn so beliebt und respektiert gemacht hatte. Rasch verlor er seine sozialen Kontakte und musste wegen ständiger Konflikte mit seinen Kollegen bald entlassen werden. Danach begann für ihn eine rastlose Odyssee, die ihn nach Chile und schließlich San Francisco verschlug, wo er 1861 vereinsamt starb.

Die Dokumentation und Interpretation dieser traurigen Geschichte durch den Arzt Dr. Harlow wurde zu einem Meilenstein in der Geschichte der Neurowissenschaft. Sie legte einen Schluss nahe, der das damalige Menschenverständnis radikal in Frage stellte:

Für die Realisierung ganz wesentlicher zutiefst menschlicher Eigenschaften – wie die Fähigkeit sich einzufühlen oder Verantwortung zu übernehmen – sind bestimmte Bereiche in unserem Gehirn verantwortlich.

Damit wurde eine der entscheidenden Fragen für die Zukunft der Erforschung des menschlichen Geistes gestellt.

Ist unser Geist auch in seinen größten Leistungen und seinem intensivsten Erleben, ist unser Bewusstsein letztlich getragen von einer – wenn auch unvorstellbar komplexen – Aktivität unseres Gehirns? Und wenn ja, wie kann man sich diesen Prozess vorstellen und in welchem Zusammenhang steht er mit den vielfältigen anderen Prozessen in unserem Körper? Und weiter: Lässt sich unser Geist, unser Bewusstsein überhaupt so erforschen wie alle anderen Naturphänomene auf unserer Erde und im Kosmos auch?

Es ist bemerkenswert, dass vor zweieinhalbtausend Jahren diese Fragen schon einmal gestellt und ganz ähnlich beantwortet wurden.

»Die Menschen sollten wissen, dass aus nichts anderem als dem Gehirn Freuden, Wonnen, Gelächter, Spott sowie Kummer, Leid, Verzweiflung und Wehklagen hervorkommen. Und dadurch erlangen wir auf besondere Weise Weisheit und Erkenntnis, und wir sehen und hören und wissen, was unanständig und was anständig, was schlecht und was gut, was süß und was ungenießbar ist. ... Und durch dasselbe Organ werden wir verrückt und reden irre und Ängste und Schrecken überfallen uns, manche bei Nacht manche bei Tag. ... Alle diese Dinge erleiden wir durch das Gehirn, wenn es nicht gesund ist. .. So bin ich der Meinung, dass das Gehirn die größte Macht auf den Menschen ausübt.«

So der griechische Philosoph und Arzt Hippokrates im 4. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung in seiner Schrift »Über die heilige Krankheit«.1 Heute hat die Forschung die bei Phineas Gage verletzten Teile des Gehirns tatsächlich als die Gehirnareale identifiziert, die eine wesentliche Rolle spielen für die Fähigkeit mitfühlen zu können, angemessen auf unsere Umgebung zu reagieren und achtsam anderen und uns selbst gegenüber zu sein. Je mehr von der Arbeitsweise unseres Gehirns in Verbindung mit unserem Körper verstanden wird, umso deutlicher treten die engen und nicht auflösbaren Zusammenhänge zwischen Gehirnstruktur und Gehirnfunktion einerseits und dem Erleben andererseits zutage. Solche Vorstellungen bleiben natürlich auch heute nicht unumstritten. Die daraus entstandenen Diskussionen sind intensiv und erfassen inzwischen Wissenschaften wie die Philosophie, die Psychologie, die Pädagogik und nicht zuletzt auch die Medizin.

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1 Als »Heilige Krankheit« wurde im alten Griechenland die Epilepsie verstanden. Sie galt als ein »Besessensein von der göttlichen Macht«. Dagegen wendet sich Hippokrates in seiner berühmten Schrift und besteht darauf, dass auch in dieser Krankheit natürliche Ursachen am Wirken sind. Hundert Jahre später greift Aristoteles allerdings wieder den alten Glauben auf, nach dem bei den Organen das Herz dem Gehirn übergeordnet sei. Das Gehirn dient seiner Ansicht nach nur der Kühlung des Körpers. Weil die christliche Philosophie den Lehren des Aristoteles weitgehend folgte, prägte seine Vorstellung das Bild des Körpers bis zum Beginn der Neuzeit und klingt auch noch heute an in der Rede vom kühlen und damit auch rationalen Kopf im Gegensatz zum gefühlvollen Herzen.

Ein neuer Blick auf alte Fragen

Aber auch außerhalb des Wissenschaftsbetriebs stößt das Unterfangen der Neurowissenschaft, Geist und Bewusstsein natürlichen und überprüfbaren Erklärungen zugänglich zu machen auf großes Interesse. Als unter dem Titel »Wer bin ich und wenn ja wie viele?« Richard David Precht: Wer bin ich und wenn ja wie viele. Eine philosophische Reise – Goldmann 2007 auf spannende Art ein gut lesbarer Einblick in die damals aktuelle neurowissenschaftliche Diskussion erschien, wurde das Buch schnell zu einem Bestseller.

Dieses Interesse ist auch aus dem Yogaunterricht bekannt. »Wie lässt sich das denn heutzutage erklären?« erscheint dort vielen als eine ganz selbstverständliche Frage angesichts der unterschiedlichen positiven Erfahrungen, die sie mit der Praxis von Yoga machen. Und gefragt wird dabei immer häufiger nach Erklärungen, die nicht aus einem mittelalterlichen Weltbild schöpfen, sondern Bezug nehmen auf unser heutiges Wissen, unsere heutige Kultur. Die Neugierde an der Erkundung des menschlichen Geistes und Bewusstseins wird sicher auch unterstützt durch den neuen Ton, der in wissenschaftlichen Diskussionen immer häufiger gepflegt wird. Man gefällt sich dort nicht mehr in der Abgeschiedenheit des berühmten Elfenbeinturms, sondern bemüht sich um Verständlichkeit. Dabei berühren viele Fragestellungen der Neurowissenschaft unmittelbar unseren Alltag und liefern wichtige Ergänzungen zu unserem psychologischen und medizinischen Wissen über den Menschen.

So, wenn es um die Aufdeckung krank machender Mechanismen von Stress geht. Oder um den Zusammenhang bestimmter Stoffwechselprozesse im Gehirn bei Krankheiten wie Alzheimer, Depression oder Parkinson und der damit möglichen Suche nach entsprechenden Therapien. Oder um die Biologie von Süchten oder die »Biologie der Angst«. Gerard Hüther: Biologie der Angst. Wie aus Stress Gefühle werden, Vandenhoek, 10. Auflage 2009

Manchmal finden sich auch Antworten auf Fragen, die wir uns schon als Kinder gestellt haben. Wie, warum wir uns selbst nicht kitzeln können? Und inzwischen hat die Diskussion um Gehirn, Geist und Bewusstsein auch Übungsweisen wie Yoga erreicht. Es wird darüber geforscht, auf welche Weise Körperübungen einem Menschen Glücksgefühle verschaffen, das Immunsystem beeinflussen oder unterstützen können, eine Depression zu heilen. Man beginnt sich dafür zu interessieren, was im Gehirn geschieht, wenn meditiert oder sich auf den Atem ausgerichtet wird. Dass sich die Wissenschaft solcher Themen so intensiv annimmt, ist allerdings für manche, die im Yoga unterwegs sind, auch beängstigend. Warum?

Wenn Wissen Angst macht

Ein Grund dafür mag in der Befürchtung liegen, dass etwas seine Tiefe, seinen Zauber verliert, wenn es einer wissenschaftlichen Erklärung zugänglich wird. Wie kalt wäre eine Welt ohne Geheimnisse, reduziert auf nüchterne Fakten und mathematische Formeln? So alt und hartnäckig diese Angst ist, so sehr hat sie sich in der langen Geschichte der Wissenschaften immer wieder als unberechtigt erwiesen.

Der Regenbogen gilt als gutes Beispiel dafür, wie wenig die wissenschaftliche Erklärung einem Naturphänomen die Kraft nimmt, uns zu berühren und zu verzaubern.

Wir wissen heute (wenn auch erst seit 1704 ziemlich und seit 1908 sehr genau), dass der Regenbogen durch eine komplexe Brechung des Sonnenlichts in Abertausenden von Regentropfen hervorgerufen wird. Wir wissen deshalb auch, dass es den Regenbogen am Himmel »so« gar nicht gibt. Er entsteht vielmehr als sichtbarer Bogen erst genau an dem Ort, an dem diese Lichtbrechungen auf unsere Augen treffen. Ein Betrachter direkt neben uns sieht deshalb nicht »unseren«, sondern eben »seinen« Regenbogen. Wir wissen auch, dass an den Enden des Bogens keine Goldtöpfchen auf uns warten. Und trotzdem setzt uns ein Regenbogen immer wieder in Erstaunen, wir halten inne, bewundern sein Farbenspiel und lassen uns davon ergreifen.

Seine Entstehung wissenschaftlich erklären zu können nimmt uns offensichtlich nichts von der Freude an der Schönheit dieses Phänomens, nichts von seiner Eindrücklichkeit und Erhabenheit. Ebenso verliert eine Sonnenfinsternis nicht deshalb ihre Magie für uns, weil wir wissen, dass es der Mond ist, der die Sonne verdunkelt und nicht die Götter, die auf diese Weise den Menschen von schlechten Zeiten künden wollen. Und das Flattern im Bauch wird nicht weniger, wenn wir wissen, dass jedes sich-verliebt-Fühlen die Ausschüttung bestimmter Botenstoffe im Gehirn zur Bedingung hat.

Damit uns etwas berührt, muss es nicht unerklärbar bleiben. Viele Menschen machen vielmehr eine ganz andere Erfahrung. Sie beschreiben, wie ein immer besseres Verständnis dieser wunderbaren Welt und ihrer BewohnerInnen ihre Ehrfurcht davor und ihr Staunen darüber nicht schmälert, sondern vielmehr vergrößert.

Und sie erleben, wie der Zuwachs an Wissen um die so unendlich vielfältigen Zusammenhänge auf unserem Planeten ihnen ihre Eingebundenheit in diese Welt bewusster macht und sie das Gefühl der Verantwortung dafür umso intensiver spüren lässt.

Durch eine wissenschaftlich fundierte Betrachtung wird sich kein Phänomen jemals ändern – weder der Regenbogen noch die Verliebtheit. Was sich ändert ist allein die Erklärung, die sich schließlich dafür finden lässt.

Deshalb kann uns die Wissenschaft weder das Staunen über den Regenbogen noch die Verliebtheit stehlen, und sie will es auch gar nicht. Auch ein anderes Missverständnis sei hier gleich mit geklärt. Kaum jemand aus den Kreisen der Wissenschaft behauptet ernsthaft, die wissenschaftliche Methode sei die einzige Form von Erkenntnisgewinn.

Geist, Bewusstsein und Natur

Angst vor einem Einmischen der modernen Wissenschaft in die alten Themen des Yoga mag auch deshalb entstehen, weil die wissenschaftliche Erkundung unseres Geistes und unseres Bewusstseins althergebrachte Vorstellungen infrage stellt.

Kann es sein, dass aus dem Zusammenspiel von Abermilliarden von Zellen, Verbindungen, Netzwerken, aus Milliarden gleichzeitig über Nervenzellen, Hormonen, Neurotransmittern in uns kreisenden Botschaften etwas entsteht, das uns die Welt um uns erleben lässt? Und darüber hinaus etwas, das es möglich macht, uns unserer selbst bewusst zu werden und danach zu fragen, wer wir eigentlich sind? Manchen erscheint es als eine provokante These, was Gerhard Roth, einer der »Väter« der modernen Hirnforschung in Deutschland so zusammenfasst: Gerhard Roth: Wie einzigartig ist der Mensch? Die lange Evolution der Gehirne und des Geistes, Spektrum 2010.

»Geist und Bewusstsein sind natürlichen Ursprungs und das Produkt einer langen biologischen Evolution. Innerhalb dieser Evolution haben wir trotz sorgfältiger Suche keinerlei unerklärliche Sprünge entdecken können, und dies gilt auch für den menschlichen Geist. Vielmehr können die Unterschiede in den verschiedenen Stufen des Bewusstseins und unterschiedlichen mentalen Leistungen bei Tieren auch im Vergleich zum Menschen mit Unterschieden in den entsprechenden Gehirnstrukturen und Gehirnfunktionen in Verbindung gebracht werden. Diese Erkenntnis ist mit einer dualistischen Auffassung von Geist und Gehirn nicht vereinbar, denn es gibt keine kognitiven-geistigen Leistungen ohne spezifische neuronale Strukturen und Funktionen. Es gibt auch keine Hinweise auf eine rein »mentale Verursachung«, also das Wirken eines Geistes auf das Gehirn außerhalb der Grenzen des Naturgeschehens.«

Darüber hinaus schreibt er: » ..., dass Bewusstsein in einigen Gehirnen zur Ausbildung einer »mentalen Welt« führt, in der ein fiktiver Akteur – beim Menschen verbunden mit einer Ich-Empfindung – wahrnimmt, denkt, fühlt und plant.«

Mit anderen Worten: Bewusstsein ist das Ergebnis eines langen Prozesses innerhalb der Entwicklung des Lebens auf unserer Erde. Es gibt kein Geistiges getrennt und unabhängig vom lebendigen Menschen. Vielmehr gilt umgekehrt: Alles Geistige, unser Erleben – ob im hektischen Alltag, in der tiefsten Meditation oder im Traum, unsere Gefühle, sei es Mitgefühl oder Hass – ist Ausdruck der Lebendigkeit, Komplexität und Struktur eines Menschen und in besonderer Weise an die Gehirnfunktionen gebunden.

Das Gehirn ist die zentrale Bedingung des Menschseins.

Aber auch Gerhard Roth hält in Übereinstimmung mit der großen Mehrheit seiner Kollegen nichts von einem simplen Materialismus, der Neurowissenschaftler wie ihm oft unterstellt wird: »Wir gehen davon aus, dass der Geist auch in der Form bewussten Erlebens ein Zustand ist, der nur unter bestimmten materiellen, energetischen und funktionalen Bedingungen auftritt, wie sie in komplexen Gehirnen herrschen. Diese Auffassung ist mit einem reduktionistischen Materialismus unvereinbar, der im Geist und Bewusstsein nichts anderes als das Feuern von Neuronen sieht. Eine solche Vorstellung verwechselt den Mechanismus mit seinen Leistungen. Sowenig wir daran zweifeln können, dass unser Gehirn … für das Auftreten von Geist und Bewusstsein verantwortlich ist, so wenig kann man Geist und Bewusstsein mit den sie hervorbringenden neuronalen Mechanismen gleichsetzen.«

So versteht die Mehrzahl der Neurowissenschaftler unser Erleben als Teil unendlich komplexer menschlicher Lebensprozesse, deren Verständnis sehr viel mehr erfordert als ein Wissen von Physik, Chemie und Biologie. Das Bewusstsein soll nicht auf bestimmte Gehirnaktivitäten reduziert werden. Vielmehr geht es darum, auch für geistige Phänomene wie Bewusstsein, Erfahrung und, Erinnerung brauchbare, nachvollziehbare und dem heutigen Wissen über die Natur angemessene Erklärungen zu finden. Und manche mag es vielleicht beruhigen, dass die Möglichkeiten der Wissenschaft begrenzt sind und dass das von eigentlich allen Beteiligten auch so gesehen wird.

Oliver Sacks, einer der berühmtesten Pioniere der Kognitionsforschung, wurde gefragt Interview mit Oliver Sacks: Spiegel 2/2011, S. 130: Nehmen wir an, wir könnten die Prozesse der Wahrnehmung, der Sprache und des Denkens vollständig verstehen. Wären wir dann in der Lage, die innere Welt einer anderen Person zu betreten und uns in deren Geist hineinzuversetzen?

Sacks: Eine primitive Form des Gedankenlesens ist ja heute bereits möglich – mit bildgebenden Verfahren in der Medizin. Wenn Menschen sich ein Musikstück oder eine Farbe vorstellen oder ein Gedicht im Kopf aufsagen, lässt sich Aktivität in ganz bestimmten Gehirnarealen nachweisen. Anspruchsvollere Gedankenleserei wird allerdings niemals Realität werden, weil jeder Mensch neu und einzigartig ist. Das Gehirn jedes Einzelnen entwickelt sich auf ganz spezifische Weise. Selbst wenn man – theoretisch – die eigenen Gehirnzellen in den Kopf eines anderen übertragen könnte, hätte dieser andere keine Ahnung, was er damit anfangen soll.

Frage: Warum nicht?

Sacks: Weil die Sprache der Einzigartigkeit und Subjektivität niemals durch die Sprache der Physiologie ersetzt werden wird. Wenn Sie zum Beispiel an einen wundervollen Moment Ihres Lebens denken – vielleicht als Sie zweiundzwanzig und verliebt waren, der Mond an einem sternklaren Himmel aufging und alles einfach fabelhaft war –, wie prägt sich ein solcher Moment ins Gehirn ein? Wir wissen es nicht. Unsere Methoden sind zu grob. Es gibt Millionen und Abermillionen Neuronen mit zehntausenden Verbindungen zu anderen Neuronen. Unsere medizinische Bildgebung wird zwar immer besser. Aber ich glaube nicht, dass sie jemals gut genug werden kann, um dem Kosmos des Gehirns gerecht zu werden.

Manche Befürchtungen gegenüber der Neurowissenschaft sind hauptsächlich Ausdruck einer Unkenntnis ihrer wirklichen Ziele: der Erforschung des Bewusstseins, unserer Erfahrungen, der Strukturen und Möglichkeiten unseres Geistes. All dies wird selbstverständlich auch weiterhin Gegenstand etwa der Psychologie, Pädagogik oder Philosophie bleiben. Und natürlich auch Gegenstand von Konzepten und Übungswegen wie denen des Yoga. Allerdings gelten der heutigen Wissenschaft die bisherigen Vorstellungen der Psychologie, der Philosophie oder der alten Traditionen über die Strukturen unseres Bewusstseins und über den Geist aus gutem Grund nicht mehr als die einzig mögliche Wahrheit.

Infolge der umfang­reichen Forschungen und Diskussionen der letzten hundert Jahre müssen wir uns dabei der einfachen Tatsache stellen, dass sich manche traditionelle Vorstellung über das Wesen des Menschen heute wohl kaum mehr aufrechterhalten lässt. Dazu gehört unter anderem der Glaube an die Trennung von Geist und natürlichen Lebenspro­zessen, von Bewusstsein und Körper. Zu viele der umfangreichen Erkenntnisse, die wir inzwischen über die Arbeit des menschlichen Gehirns, des Nervensystems und des gesamten Körpers gewonnen haben, sprechen eine andere Sprache.

Wer darf mitreden?

Schließlich soll nicht vergessen werden, einen weiteren Aspekt der Angst vor der wissenschaftlichen Erkundung unseres Geistes zu erwähnen. Von ihm werden nämlich gerade manche Lehrenden des Yoga und ähnlicher Übungswege offensichtlich in ganz besonderer Weise berührt. Es ist die Angst vor dem Verlust ihrer bisher unbestrittenen Deutungshoheit da, wo es um Praxis, Erfahrung und Konzepte von Āsana, Pranayama und Meditation geht oder etwa um die Interpretationen spiritueller Erlebnisse.

Je mehr die Deutung von Erfahrungen auf dem Übungsweg esoterisch oder religiös gebunden ist, umso schwerer wird eine offene Diskussion um alternative Interpretationen möglich sein. Wer Yoga also als die Wahrheit versteht, So fand sich in einem Yogajournal der schwergewichtige Satz: »Yoga ist keine Religion, sondern herauskristallisierte Wahrheit«, wird vielleicht bisweilen ein leises Bangen spüren, den so behaupteten exklusiven Besitz dieser Wahrheit könnte jemand doch einmal streitig machen. Und Angst lauert wohl auch dort, wo sich in spirituellen Kreisen Hochmut breitgemacht hat und in Sätzen ausdrückt wie diesem: »Wissenschaft schwatzt und benimmt sich, als hätte sie alle Erkenntnis bereits gewonnen. Weisheit hört nur den Widerhall ihrer einsamen Schritte am Rande eines unermesslichen Ozeans.«) Das Zitat stammt von Sri Aurobindo (1872-1950) Ebenso ignoriert eine solche Rede das oft von großer Bescheidenheit und Ehrfurcht geprägte Denken vieler bedeutender Wissenschaftler.

Wege in die Zukunft

Natürlich blüht auch auf Seiten der Wissenschaft bisweilen Selbstüberschätzung und Intoleranz. Auch scheinbar sicherem Wissen gegenüber ist ein kritischer und offener Blick angebracht; das lehren nicht zuletzt die innerhalb der Wissenschaften selbst oft sehr kontrovers geführten Diskussionen. Aber gerade innerhalb der Neurowissenschaften werden solche Diskussionen sehr intensiv und offen geführt, es gibt keine Denkverbote, immer wieder werden alte und neue Erkenntnisse kritisch hinterfragt und durch bessere, der Wirklichkeit angemessenere Konzepte ersetzt.

Es lohnt sich also, sich auf den immer intensiveren und fruchtbaren Dialog zwischen moderner Wissenschaft und traditionellen Übungswegen mit ihren Erfahrungen und Konzepten einzulassen. Ein Meilenstein in diesem neuen Miteinander war der erste sogenannte »Mind and Life Dialog« in Dharamshala 1987.

Dort traf unter anderem der 14. Dalai Lama (dessen jüngerer Bruder ein Mitinitiator der Konferenz war) auf den damals schon berühmten Neurobiologen Francis Varela und andere Wissenschaftler, die sich intensiv mit Fragen des Bewusstseins beschäftigten. Es begann ein interessanter und folgenreicher Dialog zwischen Menschen mit gänzlich anderem kulturellem Hintergrund und völlig verschiedenem Herangehen an die Frage von Geist und Bewusstsein.2 In den folgenden Jahren inspirierten erste Studienergebnisse und die Offenheit des Dalai Lama gegenüber neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen und Fragen viele Forscher, Institute und Universitätseinrichtungen in den USA dazu, sich intensiver als bisher den Prozessen und Wirkungen von Meditation zu widmen. Man lud zum Beispiel tibetische Mönche ein und untersuchte mithilfe moderner bildgebender Verfahren ihre Gehirnaktivitäten während der Meditation; vorwiegend buddhistisch orientierte meditative Verfahren wurden in therapeutischen Zusammenhängen erprobt und ihre Wirkung erforscht.

Die vom Mind & Life Institut organisierten Treffen finden noch immer regelmäßig statt; ihr Schwerpunkt ist der Dialog zwischen Wissenschaft und tibetischem Buddhismus geblieben. Darüber hinaus hat sich aber inzwischen auch eine weltanschaulich ungebundene und immer vielfältigere Forschergemeinschaft entwickelt, die sich um ein wissenschaftlich fundiertes Verständnis von Meditation und anderen Übungsmethoden bemüht. Noch werden die meisten Forschungsvorhaben an Universitäten und Instituten in den USA konzipiert und durchgeführt. Aber auch im deutschsprachigen Raum nimmt die Zahl von Wissenschaftlern zu, die über diese Themen forschen und diskutieren. So trafen sich etwa einige ihrer wichtigsten Vertreter auf einem im November 2010 in Berlin abgehaltenen 1. Kongress über Wissenschaft und Meditation. Bemerkenswert dabei ist, dass offensichtlich fast alle Neurowissenschaftler, Therapeuten und Philosophen, die dort ihren wissenschaftlichen Blick auf meditative Praxis und Erfahrungen darlegten, selbst auf eine oft jahrzehntelange Meditationspraxis zurückblicken.

Das Interesse an der wissenschaftlichen Erforschung des Bewusstseins hat für viele von ihnen seinen Ursprung weniger in einer akademischen Fragestellung. Vielmehr waren häufig die Erfahrungen aus eigener kontemplativer Praxis der entscheidende Impuls, dieses Thema auch zum Gegenstand ihrer wissenschaftlichen Profession zu machen. Dass sich die erste Garde der in Deutschland (und übrigens auch in den USA) über Meditation forschenden Wissenschaftler mehrheitlich durch solche Biografien auszeichnet, ist typisch für die Offenheit heutiger wissenschaftlicher Erkundungen des menschlichen Bewusstseins und Geistes.

Statt also ängstlich eine angeblich um sich greifende Wissenschaftsgläubigkeit zu beklagen, können wir im Yoga uns ganz entspannt freuen auf zukünftige neue und sicher auch überraschende Erkenntnisse über den Menschen und die großartigen Fähigkeiten seines Geistes und seines Bewusstseins. Sie werden uns in unseren Diskussionen und in unserer Arbeit unterstützen. ▼

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2  Ein Bericht über diese Konferenz erschien als Buch, das nur noch antiquarisch erhältlich ist: Gewagte Denkwege. Wissenschaftler im Gespräch mit dem Dalai Lama, Piper 1996. Die bekannteste und auch noch erhältliche Veröffentlichung bezieht sich auf die 8. »Mind and Life« Konferenz 2000 in Daramshala: Dialog mit dem Dalai Lama – wie wir destruktive Emotionen überwinden können, dtv, 2005

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