Wirkungen
Jedes Dehnen verbessert das Wohlbefinden durch die Aktivierung des Bewegungssystems. Als wesentlicher Auslöser wird die dabei ausgelöste Tonussteigerung der Muskulatur angesehen.
Bei allen weiteren Wirkungen ist ein deutlicher Unterschied zwischen kurzfristigen und langfristigen Auswirkungen von Dehnung und Dehnübungen zu erkennen.
Eine einzige oder wenige Dehnungen können kurzzeitig die Ruhedehnungsspannung um bis zu 20 Prozent senken. Das bedeutet, der Muskel entspannt sich. Der Grund dafür ist jedoch nicht ein Wegdehnen der Muskelspannung.
Die Ursache für dieses Senken des Muskeltonus ist die bereits beschriebene reflektorische Kontraktion des Muskels, die bei jeder Dehnung ausgelöst wird. Diese Muskelanspannung führt, wie jede Muskelarbeit, zu einer stärkeren Durchblutung. Der Muskel erwärmt sich und wird tonisiert. Durch diese Erwärmung wird das Muskelgewebe, wie viele andere Gewebe auch, vorübergehend dehnbarer. Es handelt sich um einen reinen Aufwärmeffekt, der jedoch bereits in den ersten Minuten nach einer Dehnung zunächst schnell und danach etwas langsamer abnimmt. Nach etwa 15–60 Minuten ist er vollständig verschwunden.
Untersuchungen haben gezeigt, dass das Aufwärmen der Muskulatur einfacher und effektiver durch direkte Muskelaktivierung, also durch Kontraktion bei entsprechender Bewegung, erreicht werden kann. Gleichzeitig erweitert sich die Gelenkreichweite, also die Beweglichkeit im Gelenk, unmittelbar nach einer Dehnung um bis zu 10 Prozent. Der Grund dafür ist, dass der gedehnte Muskel bei einer nachfolgenden Dehnung kurzfristig eine größere Dehnungsspannung toleriert (bis zu 15 Prozent mehr als vor der Dehnung). Die vom gesamten neuromuskulären System gesetzte Spannungsgrenze wurde also verschoben. Dieser Effekt lässt allerdings schnell nach.
Für die Praxis interessant: Sowohl der Entspannungseffekt durch die Tonussteigerung des Muskels, der durch seine reflektorische Anspannung hervorgerufen wird, als auch die erlangte größere Gelenkbeweglichkeit, können nach sehr wenigen Wiederholungen eines dynamischen Dehnens nur noch geringfügig gesteigert werden. Statisches Dehnen wirkt dabei nicht besser, eher schlechter. Auch ein schnelles Eingehen in eine Dehnung ist kontraproduktiv, je langsamer die Dehnbewegung, desto geringer die reflektorische Kontraktion.
Dehnen als regelmäßiges, langfristiges Übungsprogramm verbessert dagegen dauerhaft die Beweglichkeit. Es senkt jedoch nicht, wie früher angenommen, die Ruhespannung. Das bedeutet, dass die Muskulatur durch regelmäßiges intensives Dehnen nicht dauerhaft entspannter oder weicher wird. Im Gegenteil, der Muskel wird fester und verliert an Elastizität. Dies geschieht, weil der Muskel auf wiederholten starken Zug reagiert, indem er neue parallele Sarkomere bildet, um sich vor Überlastung zu schützen. Dieses Muskelwachstum führt zu einer geringen Zunahme der Muskelkraft und einer deutlichen Zunahme der Muskelruhespannung durch Zuwachs an Titin-Filamenten.
Als Krafttraining sind regelmäßige Dehnübungen jedoch ungeeignet. Das Muskelwachstum und der Kraftzuwachs durch normale kontraktive Muskelarbeit sind wesentlich größer und weniger aufwendig.
Dehnübungen können die Beweglichkeit erheblich verbessern. Zum Beispiel wurde in Dehnungsprogrammen von nur 2–3 Monaten eine dauerhafte Zunahme der Gelenkreichweite von bis zu 15 Prozent festgestellt.
Über den kurzfristigen Aufwärmeffekt hinaus kann Dehnen chronische Verspannungen und muskuläre Dysbalancen nicht wirklich positiv beeinflussen. Eine höhere Toleranz gegenüber der beim Dehnen entstehenden Muskelspannung führt lediglich zu einer größeren Beweglichkeit der Gelenke, während die innere Funktion und Struktur des Muskels unverändert bleiben. Die Vorstellung, dass eine verkürzte Muskulatur durch Dehnen wieder in ihren ursprünglichen, gesunden Zustand gezogen werden könnte, ist unzutreffend.
Zwei Zitate:
„Zusammenfassend kann festgestellt werden: Akut lässt sich die Ruhespannung des Muskels durch Dehnen für wenige Minuten reduzieren, indem der viskoelastische Widerstand des Muskelgewebes herabgesetzt wird. Dies mag, neben dem Anstieg von Dehnbelastungsfähigkeit und Beweglichkeit, einer der Gründe sein, warum man sich nach einem Dehnen entspannter und lockerer fühlt. Eine dauerhafte Reduzierung der Muskelspannung ist durch Dehnen jedoch nicht zu erwarten. Die Gründe dazu liegen auf der Hand: Der elastische Widerstand, den der Muskel einem Dehnen entgegensetzt, wird in erster Linie von den Titinfilamenten erzeugt. Deren wesentliche Aufgabe ist es, den gedehnten, aber inaktiven Muskel (die gedehnten Sarkomere) ohne größeren Energieverbrauch wieder auf eine Standardlänge zu entdehnen. Soll diese Aufgabe stets optimal gelingen, ist es notwendig, dass die elastischen Rückstellkräfte des Titins durch äußere Einwirkungen keine Einbuße erleiden. Somit ist durch regelmäßiges Dehnen von vornherein keine dauerhafte Reduzierung der Ruhespannung des Muskels zu erwarten. Diese Erkenntnis hat auch Konsequenzen für die Behandlung muskulärer Dysbalancen. Während man früher annahm, man könnte z.B. ein durch ein muskuläres Ungleichgewicht verursachtes vorgekipptes Becken aufrichten und somit ein Hohlkreuz beseitigen, indem man Dehnungsübungen für die Hüftbeuger durchführt, so weiß man heute, dass diese Übungen nicht den gewünschten Effekt, eine Abnahme der Ruhespannung der Hüftbeuger, erzielen können.“ A. Klee, K. Wiemann, K. (2004a) Biologische Grundlagen zur Wirkung der MuskeldehnungIn: Cachey, K. / Halle, A. / Teubert, H. (Hrsg.): Sport ist Spitze. Reader zum Sportgespräch / 18. InternationalerWorkshop am 16. und 17. Juni 2003 in Oberhausen
„Eine Verkürzung wird üblicherweise im Rahmen eines Muskelfunktionstests festgestellt und dabei so gut wie immer fälschlicherweise als strukturelle, also echte Längenverkürzung des Muskels vermittelt. Es wird daraufhin in der Regel empfohlen, den entsprechenden Muskel zu dehnen {...} um die Verkürzung zu beheben. Diese vermeintliche Muskelverkürzung ist aber nichts anderes als eine eingeschränkte Flexibilität bzw. Dehnfähigkeit. Es besteht eine verminderte Toleranz gegenüber einer Dehnungsspannung – und so sollte man es auch bezeichnen und erklären. Eine wirkliche, sprich strukturelle Verkürzung eines Muskels besteht dabei nicht. {...} Mit einem ausgiebigen Stretching eines vermeintlich verkürzten Muskels würde man dessen Ruhespannung nur noch weiter erhöhen.“ K. Moosburger, T. Markmann Was ist dran am Dehnen (Stretching)? - Fakten und MythenIn: Sport- und Präventivmedizin, Organ der Österr. Gesellschaft für Sportmedizin und Prävention, 43. Jahrgang, Heft 3 und 4/2013