Üben und Können
Üben ist immer dort erforderlich, wo es sich um ein spezifisches Können handelt, das ein Mensch erwerben möchte. Das gilt nicht nur für Fertigkeiten, die etwa die Beherrschung des Körpers betreffen oder manuelle Fertigkeiten, wie sie im Handwerk oder beim Spielen eines Instruments verlangt werden. Das gilt auch für geistige Fertigkeiten.
So beschreibt schon Kant die Urteilskraft als ein besonderes Talent, welches gar nicht belehrt, sondern nur geübt sein will. Dieser Unterschied zwischen einfachem Lernen und sich etwas durch Üben wirklich zu eigen machen, weist auf einen wichtigen Aspekt des Übens hin:
Üben entfaltet seine Wirkung erst mit der Zeit, die davon erhofften Wirkungen müssen reifen.
Üben betrifft das innerste Wesen des Menschen. Es berührt einen Grundzug seiner Natur, nämlich das Können-Wollen und das Immer-besser-können-Wollen. Beides hängt mit der Selbstverwirklichung des Menschen zusammen, und zwar so, dass der Ausgang des Können-Wollens ungewiss ist und der Mensch erst im Versuchen und Wagen erfährt, was er kann. Aber er erfährt zugleich auch, was er nicht kann.
Erst im bis an die Grenze vordringenden Versuchen erfährt also der Mensch, was er ist. Der Mensch ist das, was er vermag.
Das jedem Können als Sorge gegenwärtige Nichtkönnen ist sowohl Mäßigung als auch Würze des Könnens. Daraus entspringt dem Menschen die Aufgabe, sich mit seinem Nichtkönnen auseinanderzusetzen. Er muss sein Maß finden, sich darin frei einzurichten und lernen, auf das Unerreichbare zu verzichten. Das bedeutet, dass der Mensch nie mit Sicherheit weiß, ob ihm das, was er zu können glaubt, auch gelingt. In jeder Handlung bleibt, auch wenn der Mensch sie noch so gut zu können glaubt, ein Wagnis, und das Gelingen hängt trotz aller Anstrengung nicht von ihm allein ab. Es muss noch etwas hinzukommen, das ihm geschenkt wird.
Um etwas wirklich zu können, müssen wir es uns erüben. Zwei Wesenszüge der Übung im eigentlichen und strengen Sinn heben sich dabei heraus.
- Das eine ist ihr formaler Charakter. Die zu übende Leistung (zum Beispiel sich auf einen Meditationsgegenstand ausrichten zu können oder den Atem lang und fein werden zu lassen oder in einer Haltung Leichtigkeit und Stabilität zu erreichen, Anm. d. Redaktion) ist hier aus dem größeren Sinnzusammenhang herausgerissen. Es geht in der Übung nun lediglich um die Ausbildung bestimmter Fertigkeiten, die als solche allein eigentlich wenig Sinn ergeben. Sie gewinnen ihren Sinn erst aus dem größeren Zusammenhang, in dem sie eingesetzt werden. Deshalb kann während des Übens das Ziel, um dessen Willen man übt, leicht aus dem Auge verschwinden und sich Langeweile einstellen.
- Der zweite Wesenszug der Übung im eigentlichen Sinn ist die Disziplin, unerbittliche Forderung, die an die Vollkommenheit der einzelnen Leistung gestellt ist. Hier hört das Spielerische auf, alles Sich-Begnügen mit dem Unbestimmten und Ungefähren, mit allem, was dem Menschen leicht und ohne besondere Anstrengung zufällt. Der Geist der Übung ist der unerbittliche Ernst, der nicht nachlässt, bis die Leistung fehlerfrei gelungen ist. Die Übung erfordert eine Härte gegen sich selbst. Sie verlangt eine strenge Disziplin. Zu ihr gehört unablösbar ein gewisser asketischer Zug; und nicht umsonst heißt Askese in der wörtlichen Übersetzung ganz einfach Übung. Vielleicht ist es dieser asketische Zug, die Notwendigkeit einer strengen Disziplin, die zur heute verbreiteten Abneigung gegen das Üben geführt oder doch wesentlich beigetragen hat.
Das Leben im Ganzen oder die Liebe zum Beispiel kann man nicht wirklich können. Von einem Können kann man nur dort sinnvoll sprechen, wo es ein Üben gibt. Das Üben im eigentlichen Sinn entsteht aber erst dort, wo der gewohnte Ablauf der Tätigkeiten durch ein auftretendes Unvermögen unterbrochen wird und jetzt die bestimmte Einzelleistung isolierend herausgehoben und zur Vollkommenheit gebracht werden muss.
Nur isolierte Einzelleistungen lassen sich üben und durch Üben zum Können bringen.
Und nur soweit dies geschieht, d. h. nur soweit es Übung im strengen Sinn gibt, kann man auch von einem Können im strengen Sinn sprechen. Es ist sinnlos, diesen Begriff auf das Ganze des Lebens oder auf Verhaltensweisen übertragen zu wollen, die, wie die Liebe, unmittelbar aus dem Ganzen des Lebens entspringen. Und wo man das trotzdem tut, da verfehlt man die Echtheit und Unmittelbarkeit des Lebens.