Diese Artikelreihe widmet sich ganz der Yogapraxis.
Egal, ob du mehr über Meditation oder Prāṇāyāma erfahren möchtest, fundierte Informationen zu einzelnen Āsana suchst oder dich für bestimmte Zielgruppen interessierst – hier wirst du fündig!
Äußere Veränderungen waren schon immer eine wichtige Voraussetzung für die Weiterentwicklung des Yogas.
Unter der Überschrift Tradition – Yoga im Wandel findest du daher nicht nur Artikel zu Hintergrund, Geschichte und wichtigen traditionellen Texten und Schriften, sondern auch Beiträge, die sich unter dem Stichwort TravellingYoga mit Veränderungen und notwendigen Anpassungen im Yoga auseinandersetzen.
Kaum jemand wird bestreiten, dass es Regeln geben muss, wo Menschen zusammenleben wollen. Überall gibt es Gesetze, die Mord und Diebstahl verbieten und festlegen, wie mit deren Übertretung umzugehen ist. In den Diskussionen, die seit Jahrhunderten in vielen spirituellen Traditionen geführt werden, stellt sich eine andere Frage: Inwieweit ist es für die persönliche Entwicklung eines Menschen sinnvoll, bestimmte Verhaltensregeln einzufordern?
Gewaltlosigkeit, Wahrhaftigkeit, Nichtstehlen und fast immer die eine oder andere Form sexueller Enthaltsamkeit stehen als wünschenswerte Verhaltensweisen im Mittelpunkt der Diskussion dieser Fragen.
Benötigt spirituelle Erfahrung wirklich Normen, die richtiges Verhalten für alle verbindlich festlegen?
Können solche Vorgaben die ehrliche Auseinandersetzung mit der eigenen Person fördern oder eher behindern?
Es gibt gute Gründe dafür, dass diese Fragen seit jeher Gegenstand ausführlicher Diskussionen waren und sind. Einige von ihnen stehen im Mittelpunkt dieses Artikels.
Gute Menschen – Schlechte Menschen
Verhaltensregeln und spiritueller Weg
Kaum jemand wird bestreiten, dass es Regeln geben muss, wo Menschen zusammenleben wollen. Überall gibt es Gesetze, die Mord und Diebstahl verbieten und festlegen, wie mit deren Übertretung umzugehen ist. In den Diskussionen, die seit Jahrhunderten in vielen spirituellen Traditionen geführt werden, stellt sich eine andere Frage: Inwieweit ist es für die persönliche Entwicklung eines Menschen sinnvoll, bestimmte Verhaltensregeln einzufordern?
Gewaltlosigkeit, Wahrhaftigkeit, Nichtstehlen und fast immer die eine oder andere Form sexueller Enthaltsamkeit stehen als wünschenswerte Verhaltensweisen im Mittelpunkt der Diskussion dieser Fragen.
Benötigt spirituelle Erfahrung wirklich Normen, die richtiges Verhalten für alle verbindlich festlegen?
Können solche Vorgaben die ehrliche Auseinandersetzung mit der eigenen Person fördern oder eher behindern?
Es gibt gute Gründe dafür, dass diese Fragen seit jeher Gegenstand ausführlicher Diskussionen waren und sind. Einige von ihnen stehen im Mittelpunkt dieses Artikels.
Gute Menschen – Schlechte Menschen
Verhaltensregeln und spiritueller Weg
Kaum jemand wird bestreiten, dass es Regeln geben muss, wo Menschen zusammenleben wollen. Überall gibt es Gesetze, die Mord und Diebstahl verbieten und festlegen, wie mit deren Übertretung umzugehen ist. In den Diskussionen, die seit Jahrhunderten in vielen spirituellen Traditionen geführt werden, stellt sich eine andere Frage: Inwieweit ist es für die persönliche Entwicklung eines Menschen sinnvoll, bestimmte Verhaltensregeln einzufordern?
Gewaltlosigkeit, Wahrhaftigkeit, Nichtstehlen und fast immer die eine oder andere Form sexueller Enthaltsamkeit stehen als wünschenswerte Verhaltensweisen im Mittelpunkt der Diskussion dieser Fragen.
Benötigt spirituelle Erfahrung wirklich Normen, die richtiges Verhalten für alle verbindlich festlegen?
Können solche Vorgaben die ehrliche Auseinandersetzung mit der eigenen Person fördern oder eher behindern?
Es gibt gute Gründe dafür, dass diese Fragen seit jeher Gegenstand ausführlicher Diskussionen waren und sind. Einige von ihnen stehen im Mittelpunkt dieses Artikels.
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Ein Blick zurück
Der Blick auf die mehrhundertjährige Geschichte von Christentum, Buddhismus, Islam, Hinduismus und anderen Gemeinschaften zeigt vielen hauptsächlich eines: Für die großen religiösen Bewegungen waren Normen wie Nächstenliebe oder Gewaltlosigkeit mehr Alibi für die Durchsetzung von Machtansprüchen als wirkliche Richtschnur für das eigene Verhalten.
Das galt und gilt für ihre Anhänger ebenso wie für viele ihrer Repräsentanten. Christentum und Islam haben die Welt im Namen ihrer religiösen Werte mit Kriegen überzogen. Aber nicht nur in diesen Religionen hat sich ein schwer nachvollziehbares Verhältnis zu Macht und Krieg entwickelt. Noch heute scheuen sich führende buddhistische Mönche in Sri Lanka nicht, die Waffen der Regierungsarmee zu segnen, bevor sie gegen aufständische Guerillas und Zivilisten eingesetzt werden.
Diese historische Kritik wird gerne mit dem Hinweis auf eine in der Tat bemerkenswerte Beobachtung untermauert. Gerade dort, wo Gesellschaften ihre Gesetzgebung weitgehend von religiösen Einflüssen befreit hatten (also auf säkularer Grundlage standen), folgten sie (von wenigen Ausnahmen abgesehen) humaneren Vorstellungen, als dies dort der Fall war und ist, wo die Rechtsprechung eng mit der Religion verbunden ist.
Die Abschaffung der Todesstrafe in den europäischen Ländern beispielsweise war keineswegs das Ergebnis einer geistigen Einsicht in den Wert des Gebotes Du sollst nicht töten, sondern wuchs auf dem Boden humanistischer Ideale, die sich oft genug gegen den christlichen Dogmatismus überhaupt erst formulierten.
Die psychologische Komponente
Mehr noch als diese historische Frage interessiert in diesem Zusammenhang eine – vereinfacht gesagt psychologische Frage. Gerade dort, wo Verhaltensnormen im Zusammenhang mit persönlicher oder gar spiritueller Entwicklung propagiert werden, führt dies nicht immer zur Ausgrenzung und Tabuisierung abweichenden Fühlens, Denkens und Handelns?
In Klöstern wird beispielsweise nicht oder nicht offen über Sexualität, Homosexualität und Masturbation gesprochen. Manche Yogapraktizierende gelten als unyogisch (wie viel Ausgrenzung steckt in diesem Wort!), wütend, enttäuscht oder verzweifelt zu sein, geschweige denn, solche Gefühle auch zu zeigen. Alte Konzepte wie das der „Sünde“ üben noch immer Druck aus und aktivieren Ängste. Daran ändert sich auch nichts, wenn sie in weniger vertrauter Form auftauchen, etwa als Ansammlung von schlechtem Karma. Dies gilt umso mehr für Menschen, die an Höllenwelten oder die Möglichkeit von degradierenden Wiedergeburten glauben.
Schuldgefühle entstehen durch viel subtilere Mechanismen.
Etwa die Aufforderung an jemanden, positive Gefühle gegenüber einer ungeliebten Person zu entwickeln.
Wie wird sich jemand fühlen, dem dies trotz aufrichtiger Bemühungen nicht gelingt?
Wie wird es sich auswirken, wenn hinter solchen (sicher oft gut gemeinten) Ratschlägen die Autorität und das Wertesystem einer ganzen spirituellen Tradition stehen, der diese Person gerne angehören möchte?
Schuldgefühle und Ängste aber, so ein gewichtiger Einwand, fördern persönliches und spirituelles Wachstum nicht, sondern behindern es. Und ohne eine offene, vorurteilsfreie Auseinandersetzung mit unerwünschten Gefühlen und Strukturen stehen die Chancen schlecht, sie wirklich zu überwinden.
Gutes Verhalten
Schließlich stellt sich immer wieder die Frage, wer eigentlich wie bestimmt, was als gutes Verhalten gelten kann. Solange es z. B. um die Tötung eines Menschen geht, mag hier noch weitgehend Einigkeit herrschen – wir werden später sehen, dass auch diese Frage schwieriger sein kann, als sie auf den ersten Blick erscheint.
Aber wie ist zum Beispiel mit einer Anzeige umzugehen, die kürzlich in einer englischen Yoga-Zeitschrift zu lesen war und in der es hieß: You can create positive karma by helping to build our renovating yoga centre, either by paying a fee or by helping with your hands. Sie können sich positives Karma schaffen, indem Sie den Aufbau unseres renovierungsbedürftigen Yoga-Zentrums finanziell oder durch eigene Hände-Arbeit unterstützen. Auch wenn hinter diesem Versprechen kein kommerzielles Interesse steht:
Wo wird das Konto für das Karma eines Menschen geführt?
Und wenn es so etwas wirklich gäbe, wer dürfte sich berufen fühlen, darüber zu entscheiden, welche Handlung sich wie positiv (oder negativ) niederschlägt?
Es mag erstaunen, dass gerade diese Frage in vielen spirituellen Traditionen intensiv diskutiert wird. Über die bisher aufgeworfenen Fragen hinaus gibt es aber noch anders motivierte Zweifel an der Möglichkeit, geistliches Wachstum durch das Einfordern bestimmter Tugenden zu fördern. Diese Zweifel beziehen sich auf die Frage, ob ein bestimmtes Verhalten überhaupt unabhängig von den konkreten Umständen gefordert und beurteilt werden kann.
Normen – von ahimsā und brahmacarya
Kann es für spirituell Suchende überhaupt Normen geben, die unabhängig von der jeweils ganz spezifischen Entscheidungssituation gelten können? Im Yoga Sūtra beispielsweise beschreibt Patañjali die Gewaltlosigkeit – ahimsā – als eine auf dem Yogaweg hilfreiche Verhaltensweise.
Schon im ältesten Kommentar zum Yoga Sūtra fragt der Weise Vyāsa, wie Gewaltlosigkeit für einen Fischer (der dem Yogaweg folgen will) aussehen könnte, wenn sein Überleben vom Töten von Fischen abhängt.
Soll er das Leben der Fische schonen, wenn dadurch seine Familie und er selbst verhungern?
Wäre er dann nicht für den Tod seiner Familie verantwortlich?
Hätte er ihr damit nicht Gewalt angetan?
Was bedeutet Gewaltfreiheit konkret, praktisch, im Alltag, nicht nur als Idee auf einem Blatt Papier oder als schön gesprochenes Wort?
Gerade an der Frage von ahimsā lässt sich diese Frage auch heute gut diskutieren.
Wie gewaltfrei ist es, wenn die Welt einem Völkermord zusieht, ohne – notfalls mit Gewalt – –einzugreifen?
Wäre der Mord an einem Diktator gerechtfertigt, wenn dadurch millionenfaches Sterben und Leiden verhindert werden könnte?
Ist unbeteiligtes Zuschauen nicht auch Gewalt, weil es Gewalt erst möglich macht?
In einer deutschen Kleinstadt konnte ein Passant den Lynchmord an einem Afrikaner verhindern, indem er einer Gruppe von Skinheads nicht nur Prügel androhte, sondern auch zeigte, dass er es ernst meinte. Auch Gandhis Kampf für die Befreiung Indiens wurde von blutigen Auseinandersetzungen begleitet, die unzählige Menschen das Leben kosteten. Nelson Mandela hat nie Gewaltlosigkeit unter allen Umständen gepredigt. Natürlich kennen wir alle einen gewichtigen Einwand gegen eine solche Argumentation. Erzeugt Gewalt nicht immer Gegengewalt, eine Spirale, die nur durch konsequente Gewaltlosigkeit durchbrochen werden kann.
Eine Diskussion, die schon die alten Weisen in ähnlicher Weise geführt hatten, setzt dort an. Gegen welche Art von Leben richtet sich ahimsā? Manche sagen, gegen alles Leben, das Schmerz empfinden kann. Spürt der Wurm in meinem Darm, den ich mit einem Medikament töte, nichts? Und auf welcher Entwicklungsstufe beginnt dieses Leben, auf das sich ahimsā beziehen soll? Die Diskussion um den § 218 zeigt, wie schwierig es ist, unabhängig von der jeweiligen Situation Grenzen zu ziehen und richtiges Verhalten zu definieren. Nirgendwo sonst wird die kulturelle Bedingtheit von Überlegungen zum spirituellen Weg so deutlich wie in der Diskussion dieser Fragen. Das zeigt sich nicht zuletzt daran, dass schon im alten Indien die unterschiedlichsten Vorstellungen darüber herrschten, was genau gemeint war, wenn von einer bestimmten Tugend die Rede war. Eine der wünschenswerten Verhaltensweisen heißt beispielsweise brahmacarya, auch im Yoga Sūtra des Patañjali ist davon die Rede. Fast überall wird brahmacarya mit Keuschheit oder sexuelle Enthaltsamkeit übersetzt.
Wurde das früher auch so verstanden? Wäre Keuschheit gemeint, dann würde der Yogaweg des Patañjali mönchische Ideale vertreten. Das ist aber keineswegs der Fall. Von Ausnahmen abgesehen, werden in der langen Tradition des Yoga gerade die großen Yogis als Familienmenschen beschrieben. Ein Text wie der Yogayajñavalkya besteht beispielsweise in der Wiedergabe eines Gesprächs, in dem der Yogi Yajñavalkya seine eigene Frau in die Geheimnisse des Yoga einweiht. Von Klöstern ist weder dort noch anderswo die Rede.
Tatsächlich bedeutet brahmacarya wörtlich nichts anderes als sich in Richtung Brahman bewegen. Wir können das verstehen als in Richtung der höchsten Wahrheit oder in Richtung Gott oder einfach als sich auf den Weg konzentrieren und sich nicht ablenken lassen. Natürlich kann man darin eine Aufforderung zur Keuschheit sehen, und im alten und neuen Indien wie im Westen gab es nicht wenige, denen diese Lesart gut in ihre Moralvorstellungen passte.
In der indischen Tradition insgesamt ist die Bedeutung von brahmacarya übrigens keineswegs eindeutig festgelegt. So bezeichnet es z. B. den Lebensabschnitt des Lernens, d. h. des Lebens bei einem Meister oder einer Meisterin. Traditionell von der Kindheit bis zum Alter von etwa zwanzig Jahren, danach folgt in der Regel die Zeit der Familiengründung Es bedeutet z. B. nach der Darshana-Upaniṣad die Bewegung unseres Geistes in Richtung Brahman, wird aber auch vor allem in den sog. Purāna-Texten als Bezeichnung für die strikte Enthaltsamkeit von jeder sexuellen Aktivität, von jedem erotischen Gedanken verwendet. Den Begriff bramacarya auf die letztgenannte Bedeutung festlegen zu wollen, widerspricht zumindest für den Yoga zutiefst seinen Wurzeln und seiner eigenen langen Geschichte. Nicht weniger zwiespältig erscheinen bei näherer Betrachtung die anderen Verhaltensvorschläge, die wir bei Patañjali, und natürlich nicht nur bei ihm, finden. Nehmen wir nur aparigraha.nichts nehmen, was mir nicht zusteht Manche interpretieren dies als ein Armutsgelübde, das eigenen Besitz ausschließt. Von alters her widerspricht aparigraha aber keineswegs der Notwendigkeit, einen Haushalt zu gründen und zu erhalten und die materiellen Voraussetzungen für eine gute Arbeit zu schaffen, auch im Yoga.
Nicht nur Ein Verhalten, sondern Mehrere
Doch damit nicht genug, in den traditionellen Diskussionen ist die Situation noch komplizierter. Dort wird nicht nur ein Verhalten gefordert, sondern mehrere. Neben Gewaltlosigkeit gibt es zum Beispiel Wahrhaftigkeit oder Nichtstehlen.
Was tun, wenn das eine im Widerspruch zum anderen steht? In der Tradition wird vielleicht am häufigsten der leicht entstehende Konflikt zwischen Gewaltlosigkeit ahimsā und Wahrhaftigkeit satyam diskutiert: Für welche Seite soll man sich entscheiden, wenn das Beharren auf Wahrhaftigkeit Gewalt provozieren würde?
Nehmen wir ein bekanntes Beispiel: In der Zeit des Nationalsozialismus stand der faschistische Mob oder die Gestapo vor einem Haus, einer Wohnung, in der (zu Recht) das Versteck eines Juden vermutet wurde. Hätten die Hausbewohner auf entsprechende Fragen wahrheitsgemäß geantwortet: Ja, hier ist jemand versteckt, wäre dies für viele Juden der sichere Weg in den Tod gewesen. Glücklicherweise blieb es aber oft trotz drängender Fragen bei der Antwort: Nein, hier ist niemand. Das stimmte natürlich nicht, das war eine Lüge. Wie man es auch dreht und wendet, es bleibt eine Lüge, auch wenn sie ein Menschenleben rettet.
Wenn verschiedene gesetzte Regeln miteinander in Konflikt geraten, werden sie auch in der Tradition oft gegeneinander abgewogen.
Die Wahrheit muss immer so gesagt werden, dass sie niemanden verletzt.
So lautete im alten Indien eine häufig gegebene Anweisung. Sie versucht, der Wahrhaftigkeit satyam einen Rahmen zu geben, ordnet sie damit aber zweifellos dem Streben nach Gewaltlosigkeit ahimsā unter. Je konkreter die Situation ist, in der wir nach dem richtigen Verhalten fragen und suchen, desto schwieriger scheint es, die richtige Antwort zu finden. Ein häufig gewählter Weg ist z. B. der Versuch, alle infrage kommenden Verhaltensregeln möglichst genau und eindeutig zu definieren.
Ein Beispiel: Für einige Mönchsorden in Asien ist das Töten eines Tieres, wenn ich es mit eigener Hand tue, gewaltsames Handeln – himsā – und damit ein Verstoß gegen das Gebot ahimsā. Hat ein anderer das Tier getötet, weil ich es essen wollte, so gilt dies ebenfalls als Verstoß gegen das Gebot der Gewaltlosigkeit, obwohl ich das Tier nicht selbst getötet habe. Wurde das Tier aber von jemandem getötet, der mich als Konsumenten nicht direkt im Blick hatte, dann kann ich es unbeschadet essen. Wir sehen, es ist eine recht komplizierte Konstruktion, die aber einem wichtigen Einwand wenig entgegenzusetzen hat: Wenn es niemanden gäbe, der das Tier am Ende essen würde, wäre es dann überhaupt getötet worden?
Ein weiteres Beispiel: Zu den ältesten buddhistischen Texten gehört der über zweitausend Jahre alte Vinaya. Dieses umfangreiche Werk es gibt die Lehrreden des Buddha wieder besteht im Wesentlichen aus sehr detailliert beschriebenen Geboten, hauptsächlich Verboten, an die sich die Mönche halten sollen. Nicht nur das Waschen der Mönchsrobe wird bis ins kleinste Detail beschrieben (wie weit darf das Gewand beim Trocknen auf einer Seite überhängen?), die Mönche werden über das richtige Verhalten in allen erdenklichen Situationen belehrt. Unter anderem zum Beispiel darüber, dass es auch als (verbotener) Geschlechtsverkehr zu gelten hat, wenn der Mönch unbeteiligt liegen bleibt und nur die Frau aktiv ist. Dieser Text wird von der bekannten amerikanischen Buddhistin Kate Wheeler kritisch kommentiert – scheut sich nicht, Punkt für Punkt alle Möglichkeiten menschlichen Verhaltens zu reglementieren. Es scheint fast so, als ob in dieser Zeit jede Handlung, die nicht verboten ist, zur Praxis wurde.
Tatsächlich begegnen wir in manchen Traditionen der festen Überzeugung, dass die Einhaltung der für die spirituelle Entwicklung notwendigen Verhaltensnormen im normalen Alltag und in der normalen Umgebung eigentlich nicht möglich ist. Als Konsequenz wird ein mehr oder weniger strikter Rückzug aus dem weltlichen Leben vorgeschlagen. Die Schaffung besserer Möglichkeiten zur Einhaltung bestimmter Verhaltensprinzipien war keineswegs der Einzige, aber oft ein wichtiger Grund für die Entstehung von Klostermauern, Geschlechtertrennung oder Einsiedeleien.
Normen und die Yogapraxis
In fast allen Traditionen gab es Vorschläge, die auf die eine oder andere Weise versuchten, die Auseinandersetzung mit Verhaltensnormen mit einer Übungspraxis zu verbinden. Hier sind zwei Überlegungen von besonderem Interesse, die manchmal zusammengeführt und miteinander versöhnt, oft aber auch kontrovers diskutiert wurden.
Der eine Vorschlag – Die Verhaltensnormen selbst zum Gegenstand der Praxis zu machen. Ich erkenne z. B. ablehnende Gefühle gegenüber einer bestimmten Person. Dann übe ich, dieses Gefühl der Abneigung abzubauen und in Zuneigung zu dieser Person umzuwandeln. Gegen ein solches Vorgehen gibt es ernst zu nehmende Einwände. Zum einen wird darauf hingewiesen, dass ein solches Üben leicht in der Unterdrückung unerlaubter Gefühle enden kann. Zum anderen wird auf die große Gefahr hingewiesen, dass sich der Übende bei Misserfolg in Schuldgefühle verstrickt.
Der andere Vorschlag – Wir können darauf vertrauen, dass jeder Übungsweg, der die Klärung des Geistes zum Inhalt hat, unweigerlich die Frage nach dem ethisch richtigen Verhalten aufwirft. Und wir können weiter darauf vertrauen, dass diese Fragen nicht nur aufgeworfen werden, sondern dass ihre Lösung: Wie verhalte ich mich hier und jetzt richtig? Auch jeweils gefunden wird. Eine Lösung allerdings, die keinem vorgegebenen Katalog folgt, sondern sich an den Möglichkeiten des oder der Suchenden ebenso orientiert wie an den besonderen Umständen orientiert, unter denen die Frage entstanden ist. Der wichtigste Einwand gegen diese Auffassung lautet: Inwieweit kann sich jemand wirklich darauf verlassen, aus eigener Reflexion und Meditation das richtige Verhalten zu finden? Gibt es nicht unzählige Beispiele, in denen Menschen ihre besonderen Fähigkeiten, die sie durch spirituelle Praxis erworben haben, missbraucht haben?
All dies sind Fragen, die immer wieder neu diskutiert werden müssen. Und: Diese Fragen müssen von den Erfahrungen und Situationen unseres Alltags hergestellt werden.
Immer wieder stoßen wir auf die merkwürdige Vorstellung, es gäbe auf der einen Seite die reine Lehre, die nicht von den Widrigkeiten und Fragen des normalen Lebens eingeengt wird, und daneben die schmale Kost für den Normalverbraucher, die zwar alltagstauglich, aber eben nur ein Abglanz des wahren Weges ist.
In manchen spirituellen Traditionen gibt es diese Trennung tatsächlich und sie wird sogar gepflegt. Das beste Beispiel dafür ist die Trennung zwischen dem Status des Mönchs und dem des sogenannten Laien. Es ist erfreulich, dass die wechselvolle Geschichte des Yogas reich an großen Persönlichkeiten und bewährten Traditionen ist. Diese hielten den höchsten spirituellen Weg im Alltag nicht nur für möglich, sondern bevorzugten ihn sogar gegenüber anderen Wegen. ▼
Der Blick auf die mehrhundertjährige Geschichte von Christentum, Buddhismus, Islam, Hinduismus und anderen Gemeinschaften zeigt vielen hauptsächlich eines: Für die großen religiösen Bewegungen waren Normen wie Nächstenliebe oder Gewaltlosigkeit mehr Alibi für die Durchsetzung von Machtansprüchen als wirkliche Richtschnur für das eigene Verhalten.
Das galt und gilt für ihre Anhänger ebenso wie für viele ihrer Repräsentanten. Christentum und Islam haben die Welt im Namen ihrer religiösen Werte mit Kriegen überzogen. Aber nicht nur in diesen Religionen hat sich ein schwer nachvollziehbares Verhältnis zu Macht und Krieg entwickelt. Noch heute scheuen sich führende buddhistische Mönche in Sri Lanka nicht, die Waffen der Regierungsarmee zu segnen, bevor sie gegen aufständische Guerillas und Zivilisten eingesetzt werden.
Diese historische Kritik wird gerne mit dem Hinweis auf eine in der Tat bemerkenswerte Beobachtung untermauert. Gerade dort, wo Gesellschaften ihre Gesetzgebung weitgehend von religiösen Einflüssen befreit hatten (also auf säkularer Grundlage standen), folgten sie (von wenigen Ausnahmen abgesehen) humaneren Vorstellungen, als dies dort der Fall war und ist, wo die Rechtsprechung eng mit der Religion verbunden ist.
Die Abschaffung der Todesstrafe in den europäischen Ländern beispielsweise war keineswegs das Ergebnis einer geistigen Einsicht in den Wert des Gebotes Du sollst nicht töten, sondern wuchs auf dem Boden humanistischer Ideale, die sich oft genug gegen den christlichen Dogmatismus überhaupt erst formulierten.
Die psychologische Komponente
Mehr noch als diese historische Frage interessiert in diesem Zusammenhang eine – vereinfacht gesagt psychologische Frage. Gerade dort, wo Verhaltensnormen im Zusammenhang mit persönlicher oder gar spiritueller Entwicklung propagiert werden, führt dies nicht immer zur Ausgrenzung und Tabuisierung abweichenden Fühlens, Denkens und Handelns?
In Klöstern wird beispielsweise nicht oder nicht offen über Sexualität, Homosexualität und Masturbation gesprochen. Manche Yogapraktizierende gelten als unyogisch (wie viel Ausgrenzung steckt in diesem Wort!), wütend, enttäuscht oder verzweifelt zu sein, geschweige denn, solche Gefühle auch zu zeigen. Alte Konzepte wie das der „Sünde“ üben noch immer Druck aus und aktivieren Ängste. Daran ändert sich auch nichts, wenn sie in weniger vertrauter Form auftauchen, etwa als Ansammlung von schlechtem Karma. Dies gilt umso mehr für Menschen, die an Höllenwelten oder die Möglichkeit von degradierenden Wiedergeburten glauben.
Schuldgefühle entstehen durch viel subtilere Mechanismen.
Etwa die Aufforderung an jemanden, positive Gefühle gegenüber einer ungeliebten Person zu entwickeln.
Wie wird sich jemand fühlen, dem dies trotz aufrichtiger Bemühungen nicht gelingt?
Wie wird es sich auswirken, wenn hinter solchen (sicher oft gut gemeinten) Ratschlägen die Autorität und das Wertesystem einer ganzen spirituellen Tradition stehen, der diese Person gerne angehören möchte?
Schuldgefühle und Ängste aber, so ein gewichtiger Einwand, fördern persönliches und spirituelles Wachstum nicht, sondern behindern es. Und ohne eine offene, vorurteilsfreie Auseinandersetzung mit unerwünschten Gefühlen und Strukturen stehen die Chancen schlecht, sie wirklich zu überwinden.
Gutes Verhalten
Schließlich stellt sich immer wieder die Frage, wer eigentlich wie bestimmt, was als gutes Verhalten gelten kann. Solange es z. B. um die Tötung eines Menschen geht, mag hier noch weitgehend Einigkeit herrschen – wir werden später sehen, dass auch diese Frage schwieriger sein kann, als sie auf den ersten Blick erscheint.
Aber wie ist zum Beispiel mit einer Anzeige umzugehen, die kürzlich in einer englischen Yoga-Zeitschrift zu lesen war und in der es hieß: You can create positive karma by helping to build our renovating yoga centre, either by paying a fee or by helping with your hands. Sie können sich positives Karma schaffen, indem Sie den Aufbau unseres renovierungsbedürftigen Yoga-Zentrums finanziell oder durch eigene Hände-Arbeit unterstützen. Auch wenn hinter diesem Versprechen kein kommerzielles Interesse steht:
Wo wird das Konto für das Karma eines Menschen geführt?
Und wenn es so etwas wirklich gäbe, wer dürfte sich berufen fühlen, darüber zu entscheiden, welche Handlung sich wie positiv (oder negativ) niederschlägt?
Es mag erstaunen, dass gerade diese Frage in vielen spirituellen Traditionen intensiv diskutiert wird. Über die bisher aufgeworfenen Fragen hinaus gibt es aber noch anders motivierte Zweifel an der Möglichkeit, geistliches Wachstum durch das Einfordern bestimmter Tugenden zu fördern. Diese Zweifel beziehen sich auf die Frage, ob ein bestimmtes Verhalten überhaupt unabhängig von den konkreten Umständen gefordert und beurteilt werden kann.
Normen – von ahimsā und brahmacarya
Kann es für spirituell Suchende überhaupt Normen geben, die unabhängig von der jeweils ganz spezifischen Entscheidungssituation gelten können? Im Yoga Sūtra beispielsweise beschreibt Patañjali die Gewaltlosigkeit – ahimsā – als eine auf dem Yogaweg hilfreiche Verhaltensweise.
Schon im ältesten Kommentar zum Yoga Sūtra fragt der Weise Vyāsa, wie Gewaltlosigkeit für einen Fischer (der dem Yogaweg folgen will) aussehen könnte, wenn sein Überleben vom Töten von Fischen abhängt.
Soll er das Leben der Fische schonen, wenn dadurch seine Familie und er selbst verhungern?
Wäre er dann nicht für den Tod seiner Familie verantwortlich?
Hätte er ihr damit nicht Gewalt angetan?
Was bedeutet Gewaltfreiheit konkret, praktisch, im Alltag, nicht nur als Idee auf einem Blatt Papier oder als schön gesprochenes Wort?
Gerade an der Frage von ahimsā lässt sich diese Frage auch heute gut diskutieren.
Wie gewaltfrei ist es, wenn die Welt einem Völkermord zusieht, ohne – notfalls mit Gewalt – –einzugreifen?
Wäre der Mord an einem Diktator gerechtfertigt, wenn dadurch millionenfaches Sterben und Leiden verhindert werden könnte?
Ist unbeteiligtes Zuschauen nicht auch Gewalt, weil es Gewalt erst möglich macht?
In einer deutschen Kleinstadt konnte ein Passant den Lynchmord an einem Afrikaner verhindern, indem er einer Gruppe von Skinheads nicht nur Prügel androhte, sondern auch zeigte, dass er es ernst meinte. Auch Gandhis Kampf für die Befreiung Indiens wurde von blutigen Auseinandersetzungen begleitet, die unzählige Menschen das Leben kosteten. Nelson Mandela hat nie Gewaltlosigkeit unter allen Umständen gepredigt. Natürlich kennen wir alle einen gewichtigen Einwand gegen eine solche Argumentation. Erzeugt Gewalt nicht immer Gegengewalt, eine Spirale, die nur durch konsequente Gewaltlosigkeit durchbrochen werden kann.
Eine Diskussion, die schon die alten Weisen in ähnlicher Weise geführt hatten, setzt dort an. Gegen welche Art von Leben richtet sich ahimsā? Manche sagen, gegen alles Leben, das Schmerz empfinden kann. Spürt der Wurm in meinem Darm, den ich mit einem Medikament töte, nichts? Und auf welcher Entwicklungsstufe beginnt dieses Leben, auf das sich ahimsā beziehen soll? Die Diskussion um den § 218 zeigt, wie schwierig es ist, unabhängig von der jeweiligen Situation Grenzen zu ziehen und richtiges Verhalten zu definieren. Nirgendwo sonst wird die kulturelle Bedingtheit von Überlegungen zum spirituellen Weg so deutlich wie in der Diskussion dieser Fragen. Das zeigt sich nicht zuletzt daran, dass schon im alten Indien die unterschiedlichsten Vorstellungen darüber herrschten, was genau gemeint war, wenn von einer bestimmten Tugend die Rede war. Eine der wünschenswerten Verhaltensweisen heißt beispielsweise brahmacarya, auch im Yoga Sūtra des Patañjali ist davon die Rede. Fast überall wird brahmacarya mit Keuschheit oder sexuelle Enthaltsamkeit übersetzt.
Wurde das früher auch so verstanden? Wäre Keuschheit gemeint, dann würde der Yogaweg des Patañjali mönchische Ideale vertreten. Das ist aber keineswegs der Fall. Von Ausnahmen abgesehen, werden in der langen Tradition des Yoga gerade die großen Yogis als Familienmenschen beschrieben. Ein Text wie der Yogayajñavalkya besteht beispielsweise in der Wiedergabe eines Gesprächs, in dem der Yogi Yajñavalkya seine eigene Frau in die Geheimnisse des Yoga einweiht. Von Klöstern ist weder dort noch anderswo die Rede.
Tatsächlich bedeutet brahmacarya wörtlich nichts anderes als sich in Richtung Brahman bewegen. Wir können das verstehen als in Richtung der höchsten Wahrheit oder in Richtung Gott oder einfach als sich auf den Weg konzentrieren und sich nicht ablenken lassen. Natürlich kann man darin eine Aufforderung zur Keuschheit sehen, und im alten und neuen Indien wie im Westen gab es nicht wenige, denen diese Lesart gut in ihre Moralvorstellungen passte.
In der indischen Tradition insgesamt ist die Bedeutung von brahmacarya übrigens keineswegs eindeutig festgelegt. So bezeichnet es z. B. den Lebensabschnitt des Lernens, d. h. des Lebens bei einem Meister oder einer Meisterin. Traditionell von der Kindheit bis zum Alter von etwa zwanzig Jahren, danach folgt in der Regel die Zeit der Familiengründung Es bedeutet z. B. nach der Darshana-Upaniṣad die Bewegung unseres Geistes in Richtung Brahman, wird aber auch vor allem in den sog. Purāna-Texten als Bezeichnung für die strikte Enthaltsamkeit von jeder sexuellen Aktivität, von jedem erotischen Gedanken verwendet. Den Begriff bramacarya auf die letztgenannte Bedeutung festlegen zu wollen, widerspricht zumindest für den Yoga zutiefst seinen Wurzeln und seiner eigenen langen Geschichte. Nicht weniger zwiespältig erscheinen bei näherer Betrachtung die anderen Verhaltensvorschläge, die wir bei Patañjali, und natürlich nicht nur bei ihm, finden. Nehmen wir nur aparigraha.nichts nehmen, was mir nicht zusteht Manche interpretieren dies als ein Armutsgelübde, das eigenen Besitz ausschließt. Von alters her widerspricht aparigraha aber keineswegs der Notwendigkeit, einen Haushalt zu gründen und zu erhalten und die materiellen Voraussetzungen für eine gute Arbeit zu schaffen, auch im Yoga.
Nicht nur Ein Verhalten, sondern Mehrere
Doch damit nicht genug, in den traditionellen Diskussionen ist die Situation noch komplizierter. Dort wird nicht nur ein Verhalten gefordert, sondern mehrere. Neben Gewaltlosigkeit gibt es zum Beispiel Wahrhaftigkeit oder Nichtstehlen.
Was tun, wenn das eine im Widerspruch zum anderen steht? In der Tradition wird vielleicht am häufigsten der leicht entstehende Konflikt zwischen Gewaltlosigkeit ahimsā und Wahrhaftigkeit satyam diskutiert: Für welche Seite soll man sich entscheiden, wenn das Beharren auf Wahrhaftigkeit Gewalt provozieren würde?
Nehmen wir ein bekanntes Beispiel: In der Zeit des Nationalsozialismus stand der faschistische Mob oder die Gestapo vor einem Haus, einer Wohnung, in der (zu Recht) das Versteck eines Juden vermutet wurde. Hätten die Hausbewohner auf entsprechende Fragen wahrheitsgemäß geantwortet: Ja, hier ist jemand versteckt, wäre dies für viele Juden der sichere Weg in den Tod gewesen. Glücklicherweise blieb es aber oft trotz drängender Fragen bei der Antwort: Nein, hier ist niemand. Das stimmte natürlich nicht, das war eine Lüge. Wie man es auch dreht und wendet, es bleibt eine Lüge, auch wenn sie ein Menschenleben rettet.
Wenn verschiedene gesetzte Regeln miteinander in Konflikt geraten, werden sie auch in der Tradition oft gegeneinander abgewogen.
Die Wahrheit muss immer so gesagt werden, dass sie niemanden verletzt.
So lautete im alten Indien eine häufig gegebene Anweisung. Sie versucht, der Wahrhaftigkeit satyam einen Rahmen zu geben, ordnet sie damit aber zweifellos dem Streben nach Gewaltlosigkeit ahimsā unter. Je konkreter die Situation ist, in der wir nach dem richtigen Verhalten fragen und suchen, desto schwieriger scheint es, die richtige Antwort zu finden. Ein häufig gewählter Weg ist z. B. der Versuch, alle infrage kommenden Verhaltensregeln möglichst genau und eindeutig zu definieren.
Ein Beispiel: Für einige Mönchsorden in Asien ist das Töten eines Tieres, wenn ich es mit eigener Hand tue, gewaltsames Handeln – himsā – und damit ein Verstoß gegen das Gebot ahimsā. Hat ein anderer das Tier getötet, weil ich es essen wollte, so gilt dies ebenfalls als Verstoß gegen das Gebot der Gewaltlosigkeit, obwohl ich das Tier nicht selbst getötet habe. Wurde das Tier aber von jemandem getötet, der mich als Konsumenten nicht direkt im Blick hatte, dann kann ich es unbeschadet essen. Wir sehen, es ist eine recht komplizierte Konstruktion, die aber einem wichtigen Einwand wenig entgegenzusetzen hat: Wenn es niemanden gäbe, der das Tier am Ende essen würde, wäre es dann überhaupt getötet worden?
Ein weiteres Beispiel: Zu den ältesten buddhistischen Texten gehört der über zweitausend Jahre alte Vinaya. Dieses umfangreiche Werk es gibt die Lehrreden des Buddha wieder besteht im Wesentlichen aus sehr detailliert beschriebenen Geboten, hauptsächlich Verboten, an die sich die Mönche halten sollen. Nicht nur das Waschen der Mönchsrobe wird bis ins kleinste Detail beschrieben (wie weit darf das Gewand beim Trocknen auf einer Seite überhängen?), die Mönche werden über das richtige Verhalten in allen erdenklichen Situationen belehrt. Unter anderem zum Beispiel darüber, dass es auch als (verbotener) Geschlechtsverkehr zu gelten hat, wenn der Mönch unbeteiligt liegen bleibt und nur die Frau aktiv ist. Dieser Text wird von der bekannten amerikanischen Buddhistin Kate Wheeler kritisch kommentiert – scheut sich nicht, Punkt für Punkt alle Möglichkeiten menschlichen Verhaltens zu reglementieren. Es scheint fast so, als ob in dieser Zeit jede Handlung, die nicht verboten ist, zur Praxis wurde.
Tatsächlich begegnen wir in manchen Traditionen der festen Überzeugung, dass die Einhaltung der für die spirituelle Entwicklung notwendigen Verhaltensnormen im normalen Alltag und in der normalen Umgebung eigentlich nicht möglich ist. Als Konsequenz wird ein mehr oder weniger strikter Rückzug aus dem weltlichen Leben vorgeschlagen. Die Schaffung besserer Möglichkeiten zur Einhaltung bestimmter Verhaltensprinzipien war keineswegs der Einzige, aber oft ein wichtiger Grund für die Entstehung von Klostermauern, Geschlechtertrennung oder Einsiedeleien.
Normen und die Yogapraxis
In fast allen Traditionen gab es Vorschläge, die auf die eine oder andere Weise versuchten, die Auseinandersetzung mit Verhaltensnormen mit einer Übungspraxis zu verbinden. Hier sind zwei Überlegungen von besonderem Interesse, die manchmal zusammengeführt und miteinander versöhnt, oft aber auch kontrovers diskutiert wurden.
Der eine Vorschlag – Die Verhaltensnormen selbst zum Gegenstand der Praxis zu machen. Ich erkenne z. B. ablehnende Gefühle gegenüber einer bestimmten Person. Dann übe ich, dieses Gefühl der Abneigung abzubauen und in Zuneigung zu dieser Person umzuwandeln. Gegen ein solches Vorgehen gibt es ernst zu nehmende Einwände. Zum einen wird darauf hingewiesen, dass ein solches Üben leicht in der Unterdrückung unerlaubter Gefühle enden kann. Zum anderen wird auf die große Gefahr hingewiesen, dass sich der Übende bei Misserfolg in Schuldgefühle verstrickt.
Der andere Vorschlag – Wir können darauf vertrauen, dass jeder Übungsweg, der die Klärung des Geistes zum Inhalt hat, unweigerlich die Frage nach dem ethisch richtigen Verhalten aufwirft. Und wir können weiter darauf vertrauen, dass diese Fragen nicht nur aufgeworfen werden, sondern dass ihre Lösung: Wie verhalte ich mich hier und jetzt richtig? Auch jeweils gefunden wird. Eine Lösung allerdings, die keinem vorgegebenen Katalog folgt, sondern sich an den Möglichkeiten des oder der Suchenden ebenso orientiert wie an den besonderen Umständen orientiert, unter denen die Frage entstanden ist. Der wichtigste Einwand gegen diese Auffassung lautet: Inwieweit kann sich jemand wirklich darauf verlassen, aus eigener Reflexion und Meditation das richtige Verhalten zu finden? Gibt es nicht unzählige Beispiele, in denen Menschen ihre besonderen Fähigkeiten, die sie durch spirituelle Praxis erworben haben, missbraucht haben?
All dies sind Fragen, die immer wieder neu diskutiert werden müssen. Und: Diese Fragen müssen von den Erfahrungen und Situationen unseres Alltags hergestellt werden.
Immer wieder stoßen wir auf die merkwürdige Vorstellung, es gäbe auf der einen Seite die reine Lehre, die nicht von den Widrigkeiten und Fragen des normalen Lebens eingeengt wird, und daneben die schmale Kost für den Normalverbraucher, die zwar alltagstauglich, aber eben nur ein Abglanz des wahren Weges ist.
In manchen spirituellen Traditionen gibt es diese Trennung tatsächlich und sie wird sogar gepflegt. Das beste Beispiel dafür ist die Trennung zwischen dem Status des Mönchs und dem des sogenannten Laien. Es ist erfreulich, dass die wechselvolle Geschichte des Yogas reich an großen Persönlichkeiten und bewährten Traditionen ist. Diese hielten den höchsten spirituellen Weg im Alltag nicht nur für möglich, sondern bevorzugten ihn sogar gegenüber anderen Wegen. ▼