Kleine Geschichte des samādhi

Was bedeutet es, wenn Yogis im samādhi verweilen oder vom Geist, der sich in etwas Höherem auflöst? Manchmal heißt es auch, samādhi sei Erleuchtung. Was versteht der Yoga genau unter diesem Begriff? Wie wird er im Yoga Sūtra definiert und welche weiteren Bedeutungen gibt es? Der Artikel spürt der Geschichte des Begriffes nach und versucht, einige wichtige Facetten dieses schillernden Begriffes zu beleuchten.

Kleine Geschichte des samādhi

Was bedeutet es, wenn Yogis im samādhi verweilen oder vom Geist, der sich in etwas Höherem auflöst? Manchmal heißt es auch, samādhi sei Erleuchtung. Was versteht der Yoga genau unter diesem Begriff? Wie wird er im Yoga Sūtra definiert und welche weiteren Bedeutungen gibt es? Der Artikel spürt der Geschichte des Begriffes nach und versucht, einige wichtige Facetten dieses schillernden Begriffes zu beleuchten.

Kleine Geschichte des samādhi

Was bedeutet es, wenn Yogis im samādhi verweilen oder vom Geist, der sich in etwas Höherem auflöst? Manchmal heißt es auch, samādhi sei Erleuchtung. Was versteht der Yoga genau unter diesem Begriff? Wie wird er im Yoga Sūtra definiert und welche weiteren Bedeutungen gibt es? Der Artikel spürt der Geschichte des Begriffes nach und versucht, einige wichtige Facetten dieses schillernden Begriffes zu beleuchten.

Samādhi – aus Amerika kommend?

Es mag ein wenig überraschend klingen, aber der Begriff samādhi hat den Weg über Nordamerika nach Europa gefunden.

Samādhi, ein Amerikanismus wie Outsourcen oder Hotdog?

Die Auftritte Swami Vivekanandas in den USA Ende des 19. Jh. spielten bei der Verbreitung des Begriffes eine wichtige Rolle. Die Nachfolger Vivekanandas gründeten 1929 die Vedānta Society, deren Sitz in den Hollywood Hills lag.
Sie beeinflusste eine Reihe von amerikanischen Schriftstellern und Intellektuellen und prägte darüber das frühe Verständnis von Yoga im Westen maßgeblich. So waren es die Schriftsteller Aldous Huxley und Christopher Isherwood, die in den Dreißigerjahren des vorigen Jahrhunderts in den USA mit indischen Weisheitslehren in Berührung kamen. Ihre Informationen über Philosophie und Yoga erhielten sie von indischen Swamis ebendieser Vedānta-Society. Die Ideen dieser Weisheitslehre verbreiteten Huxley und Isherwood in einer Reihe von Büchern, wobei sie das Wort samādhi unübersetzt ließen, obwohl oder gerade weil es ein genuin yogischer Begriff war.

Das Wort hat seine Wurzeln natürlich nicht im Amerikanischen; es ist ein Sanskritwort und hat die Grundbedeutung – in rechter Weise zusammenfügen, zusammensetzen. Es ist ebenfalls in der mittelindischen Palisprache zu finden, in ihr sind buddhistische Texte der Theravada-Tradition verfasst.

Inzwischen ist der Begriff in der Alltagskultur ein weitverbreiteter Ausdruck und gehört mittlerweile in den Fundus der meisten westlichen Sprachen. Seine Bedeutung bleibt dabei überwiegend unscharf und unbestimmt; sie reicht von Trance bis Versunkenheit.

Samādhi – ein genuiner Yogabegriff

Da sich die Swamis der Vedānta Society bei ihren Lehren vorwiegend auf die Upaniṣaden beziehen, liegt die Vermutung nahe, dass der Begriff aus diesen Texten stammt. Doch diese Annahme ist falsch. Das Wort samādhi ist ein typischer Ausdruck aus dem Bereich des Yoga, der erst später in die vedische Tradition Eingang gefunden hat. In den zehn ältesten Upaniṣaden, die der große Vedānta-Philosoph Śankara kommentiert hat, kommt das Wort samādhi überhaupt nicht vor. Erst in der späteren Maitrī upaniṣad wird der Begriff als letztes Glied eines dort formulierten sechsgliedrigen Yoga genannt. Auch hierdurch wird noch einmal deutlich, dass es sich um einen Begriff aus dem Yoga handelt, der in die Ideenwelt der Upaniṣaden aufgenommen wurde.

So wurde der Begriff hauptsächlich von verschiedenen yogischen Strömungen verwendet, die sich außerhalb der orthodoxen vedischen Tradition befanden. Die Yogis der Jaina-Tradition etwa verwendeten ihn ebenso wie Buddha. Für letzteren ist samādhi der letzte Teil seines achtfachen Pfades.

Genauso wie dem Begriff samādhi erging es vielen anderen Ideen und Konzepten des Yoga. Nicht unmittelbar aus der Yogatradition heraus erreichten sie ein westliches Publikum, sondern über den Umweg der modernen Vedānta-Interpretationen.

Samādhi – Ausrichten und Ausgerichtetheit des Geistes

In alten buddhistischen Palitexten findet sich die älteste Definition von samādhi. Sie stammt von einer Frau. Im Cūlavedalla Sutta wird beschrieben, wie die Nonne Dhammadinnā dem Laienanhänger Visākha das letzte Glied von Buddhas achtfachen Pfad erläutert (Majjhima Nikaya / Mittlere Sammlung - 44):

Die Einsgerichtetheit des Geistes, Bruder Visākha, gilt als die Sammlung (samādhi)

Der Palitext verwendet dort, wo Dhammadinnā von der Einsgerichtetheit des Geistes spricht, das Wort citta-ekagattā, (in Sanskrit citta-ekagratā). Es bedeutet: einsgerichteter Geist, oder auf ein Objekt ausgerichteter Geist. Es ist ein typischer Yogabegriff, der auch im Yoga Sūtra nach Patañjali Verwendung findet. Die Nonne Dhammadinnā definiert samādhi damit als Methode, bei welcher der Geist auf einen Gegenstand bzw. ein Thema ausgerichtet wird (ekagratā) und beschreibt so einen definierten Prozess von Geistausrichtung.

Es liegt damit schon eine erstaunlich präzise Definition von samādhi vor; es beschreibt sowohl den Geisteszustand des Einsgerichtetseins als auch den Prozess, der zu diesem Zustand führt.

Auch die Verwendung des Wortes, das für Geist benutzt wird, citta, ist nicht-vedāntisch, sondern yogischen Ursprungs. Dhammadinnā wählte dieses Wort, wie auch Buddha und später auch Patañjali im Yoga Sūtra. Die Upaniṣaden hingegen benutzen anstelle von citta die beiden Begriffe manas und buddhi.

Aber die buddhistische Pali-Tradition geht noch weiter, sie unterscheidet zwei Arten von samādhi:

  • rechte Sammlung – samma samādhi, Ausrichtung auf ein heilvolles Objekt
  • verkehrte Sammlung – micchā samādhi, Ausrichtung auf einen nicht heilsamen Gegenstand

Damit erhält ein ursprünglich technischer Begriff einen ethischen Aspekt. Nicht jede Sammlung des Geistes ist demnach ein rechtes samādhi. Eine tiefe Konzentration auf einen Geschäftsbericht oder gar die völlige Ausrichtung des Geistes auf den Plan für einen Bankraub können zwar samādhi werden und sein – in der buddhistischen Tradition werden sie jedoch nicht als rechtes samādhi angesehen. Denn sie führen nicht zur Befreiung von den klésas. den Leid bringenden Strukturen des Geistes.

Anders als die Palitexte macht das Yoga Sūtra Patañjalis formal keine Unterscheidung zwischen rechtem und falschem samādhi. Mit den ethischen Regeln der yamas setzt es dem samādhi jedoch einen klaren Bezugsrahmen. Auch im Yoga Sūtra wäre die völlige Versenkung in einen Plan für die Konstruktion einer Streubombe kein samādhi, das zum achtgliedrigen Yoga gehören würde, da es gegen das Prinzip von ahiµsā Nichttöten, Nichtverletzen verstößt.

Samādhi als Prozess

Im Gegensatz zu den alten Texten der Upaniṣaden steht der Begriff samādhi im klassischen Yoga also im Mittelpunkt. So beginnt das Yoga Sūtra mit einem Kapitel über samādhi (samādhipāda), und samādhi stellt für Patañjali das achte Glied seines achtgliedrigen Yoga aṣtāṅgayoga dar. Vyāsa geht in seinem Kommentar zum Yoga Sūtra sogar so weit, Yoga als samādhi zu definieren: Zum ersten Vers des Yoga Sūtra kommentiert er: Yoga ist samādhi yogaḥ samādhiḥ

Im Yoga Sūtra wird ein dreistufiger Entwicklungsprozess hin zum samādhi beschrieben. Der Prozess beginnt mit dhāraṇa und führt über dhyāna zu samādhi. Dieser Ablauf wird im Yoga Sūtra in den ersten Versen des dritten Kapitels dargelegt. Dhāraṇa ist der erste Schritt:

Den Geist an einen Ort binden, das ist dhāraṇa (Yoga Sūtra - 3. Kapitel – Sūtra 1)

Wenn der Geist nicht mehr abschweift und umherwandert, sondern auf einen Gegenstand ausgerichtet bleibt, dann geht dhāraṇa in dhyāna über. Wenn darin in dhāraṇa der Geist pratyaya nur eine Ausrichtung oder Ausdehnung erfährt; das ist dhyāna. Yoga (Sūtra - 3. Kapitel – Sūtra 2)

Wenn dhyāna sich durch Übung zu immer größerer Intensität entwickelt, dann kann der Geist in einen Zustand gelangen, in dem nur noch der Gegenstand der Meditation ihn erfüllt und der Beobachter sich nicht mehr erlebt. Diesen Zustand nennt Patañjali samādhi. Ebendieses dhyāna ist, wenn nur noch das Objekt klar ist und es so ist, als ob die eigene Form leer wäre, samādhi. Die Trennung von Subjekt und Objekt im Geist ist aufgehoben, nur noch das Objekt ist gegenwärtig und die Erfahrungsebene des Beobachters löst sich auf. (Yoga Sūtra - 3. Kapitel – Sūtra 3)

Auch in der frühen buddhistischen Tradition wurde samādhi als ein Prozess beschrieben, der sich in drei Stadien entwickelt. Das erste Stadium ist die vorbereitende Sammlung – parikamma samādhi. auf Pali Hier ist die Sammlung des Geistes noch sehr schwach. Die nächst stärkere Stufe ist die angrenzende Sammlung – upacāra samādhi und schließlich die Stufe der vollen Sammlung – appanā samādhi.

Wie Salz im Wasser

Im Yoga Sūtra unterscheiden sich dhāraṇa, dhyāna und samādhi in der Intensität der geistigen Sammlung, die mit jeder Stufe zunimmt. Samādhi ist die intensivste Stufe dieses Meditationsprozesses. Den gesamten Prozess von dhāraṇa hin zu samādhi bezeichnet Patañjali mit dem Begriff samyama (Sammlung oder Versenkung).

Das Meditationsobjekt spielt dabei keine Rolle. Im Yoga Sūtra nach Patañjali (Abb. 1) wird samyama anhand sehr unterschiedlicher Meditationsobjekte vorgestellt. Im Yoga Sūtra, 3. Kapitel – Sūtra 23 etwa wird samyama auf Liebe (Mitgefühl, Freude und Gleichmut), im 3. Kapitel – Sūtra 24 auf die Kraft eines Elefanten und im 3. Kapitel – Sūtra 29 auf den Bauchnabel vorgeschlagen.

Viveka - Patanjali
Abb. 1

Ganz anders werden bei Gorakhnath, in der Haṭhayoga-Tradition, dhāraṇa und dhyāna nach der Feinheit des Meditationsobjektes unterschieden. Dhāraṇa richtet sich auf gröbere Objekte, wie Körperregionen; dhyāna hingegen auf feine Objekte, auf das Selbst (Ātman). Der nächste Schritt, von dhyāna zu samādhi, wird häufig als Vereinigung oder Verschmelzung von Geist und Selbst beschrieben. In der Haṭhapradīpikā - 4. Kapitel – Vers 5 heißt es dazu:

Wie Salz sich im Wasser auflöst, so sich löst die Denksubstanz (manas) im Selbst (ātman) auf. Dies wird als samādhi bezeichnet.

In der Gheraṇḍa Samhitā – - Kapitel 7 - Vers 3 steht: Löse den Geist vom Körper und verbinde ihn mit dem höchsten Selbst (parātman). Dies wird samādhi genannt oder frei sein von allen Bewusstseinszuständen.

Das Grundmodell für diese Beschreibungen ist in der Katha Upaniṣad 1.3.13 zu finden: Der Weise zügelt sein Reden im Denken, dieses sammelt er im Erkenntnis-Selbst (buddhi), das Erkennen bringt er im großen Ātman dar und diesen stille er im Friedens-Ātman (höchster Puruṣa).

Diesen Vers hat der Vedānta-Philosoph Śankara besonders hervorgehoben; hier zeigt sich Yoga als ein Mittel zur Erkenntnis des Selbst. Was sich hieraus ableiteten lässt: Die Haṭha-Texte sind wesentlich von den Upaniṣaden und vom Vedānta beeinflusst und nicht vom Yoga Sūtra.

In einem weiteren Erklärungsmodell in der Haṭhayoga-Tradition wird samādhi als intensive Form von Prāṇāyāma beschrieben. In der Gorakṣaśataka – - Vers 96 heißt es: Dhāraṇa hat die Dauer von fünf Nāḍī (5 × 24 Minuten), dhyāna von 60 Nāḍī (60 × 24 Minuten) und das Zurückhalten des Atems für wenigstens zwölf Tage ist samādhi.

Keimloses samādhi – nirbījasamādhi

Das Yoga Sūtra unterscheidet zwischen einem samādhi mit Keim – sabījasamādhi und einem ohne Keim – nirbījasamādhi. Die drei Glieder dhāraṇa, dhyāna und samādhi bezeichnet Patañjali im Yoga Sūtra - 3. Kapitel – Sūtra 7 als die inneren Glieder.

Durch den Gedanken von innen und außen, der einer solchen Zuordnung zugrunde liegt, versucht Patañjali samādhi in den achtgliedrigen Yogaweg einzubetten. In diesem Sinne wird die unmittelbare Arbeit mit dem Geist als innere Arbeit verstanden; im Gegensatz dazu steht die Arbeit im Außen, mit Körper und Atem.

Im darauffolgenden Vers (Yoga Sūtra - 3. Kapitel – Sūtra 8) setzt Patañjali diesen Ordnungsansatz fort mit den Worten:

Diese (drei inneren Glieder) sind im Vergleich zum keimlosen samādhi (nirbījasamādhi) äußere Glieder. Mehr wird an dieser Stelle zu dem Thema nicht geschrieben.

Allerdings wird im ersten Kapitel des Yoga Sūtra Bezug darauf genommen: Wenn die geistigen Eindrücke (samskāra) zur Ruhe kommen, entsteht aufgrund des zur Ruhe Kommens aller samskāra die keimlose Versenkung nirbījasamādhi (Yoga Sūtra - 1. Kapitel – Sūtra 51)

Wie sind diese beiden Aussagen über nirbījasamādhi zu verstehen? Der Kommentar von Vyāsa zu diesen beiden Versen versucht, die besondere Erfahrung des nirbījasamādhi mithilfe der Philosophie des Sāṃkhya zu erklären. Im Folgenden eine kurze Zusammenfassung seines Kommentars:

Die geistigen Eindrücke (samskāra), die durch ein samādhi mit Keim, d. h. durch die Sammlung des Geistes auf ein Objekt, (sabījasamādhi) entstehen, haben die Fähigkeit, diejenigen geistigen Eindrücke, die durch falsche Sichtweise entstanden sind, aufzulösen. Geht der Geist in eine noch tiefere Versenkung, ohne einen Bezug zur äußeren Welt, d. h. auch ohne ein Objekt, dann entsteht keimloses samādhi (nirbījasamādhi).
Dieser Zustand erzeugt ebenfalls geistige Eindrücke, die durch vollkommene Ruhe (nirodha) gekennzeichnet sind. Diese Eindrücke sind wiederum dazu in der Lage, die durch ein samādhi mit Objekt entstandenen Eindrücke aufzulösen. Der Geist wird so von allen geistigen Eindrücken geleert. In diesem Zustand löst er sich in die Urnatur (prakṛti) auf und der Seher (puruṣa) ruht in seiner eigenen Form, vollkommen rein und befreit.

Dieser etwas abstrakte Kommentar versucht, einen besonderen Geisteszustand des Yoga in das Schema der Sāṃkhya-Metaphysik einzuordnen. Für ein tieferes Verständnis von nirbījasamādhi ist dies nur bedingt hilfreich und wirft viele neue Fragen auf.

  • Was bedeutet es, dass der Geist, citta, sich in der Urnatur prakṛtii auflöst?
  • Wie funktioniert er?

Patañjali selbst gibt keine weiteren Hinweise darauf. Vielleicht lassen die Ergebnisse der Gehirnforschung die Versenkungszustände des Yoga besser verstehen. Solange kein genaues Verständnis dazu vorliegt, was wirklich in nirbījasamādhi geschieht (oder auch nicht), sollte man mit Erklärungsmodellen zurückhaltend umgehen. Desikachar sagt dazu:

Dieser Zustand lässt sich nicht mit Worten beschreiben. Nur diejenigen, die ihn erfahren haben, können sein Wesen und seine Dimension verstehen.

Samādhi und Freiheit

Die Erklärungen in den buddhistischen Palitexten und im Yoga Sūtra sind eindeutig.

Samādhi ist ein besonderer Zustand geistiger Versenkung. In diesem Zustand ist der Geist ganz nach innen gekehrt und von Eindrücken der Außenwelt unberührt.

Auch im Haṭhayoga wird dies explizit dargelegt: Ein Yogin nimmt im samādhi keinen Geruch, Geschmack, Form, Berührung oder Klang wahr, er nimmt weder sich selbst noch andere wahr. Gorakṣaśataka – Vers 97. Diesen Vers finden wir auch in der Haṭhapradīpikā - 4. Kapitel – Vers 109.

Die Idee, ein Yogi befände sich während seines Alltagslebens in samādhi, ist dem Yoga Sūtra und dem Buddhismus ebenso fremd wie dem Haṭhayoga.

Samādhi ist ein zeitweiliger, sehr besonderer Zustand des Geistes.

Dieser Zustand kann, wie von Vyāsa beschrieben, Prägungen und Muster im Geist auflösen, den Geist reinigen und so zur Befreiung führen. Aussagen wie der Meister oder die Meisterin befindet sich beständig im samādhi, bei allem, was sie tut, werden dem Begriff samādhi weder in seiner Bedeutung gerecht, die er im Yoga Patañjalis hat, noch der, wie er im Buddhismus verwendet wird.

Mit den Worten des Yoga Sūtras würde diese Situation besser so beschrieben:

  • Durch die Reinigung des Geistes in samādhi hat der Meister/die Meisterin im Alltag eine große Fähigkeit der Konzentration und Achtsamkeit gewonnen.
  • Oder: Durch samādhi ist der Geist so gereinigt, dass der Meister/die Meisterin befreit ist von negativen, leidvollen Mustern und Prägungen; in diesem Zustand ist er/sie auch im Alltag.

Samādhi ist ein Mittel, eine Methode, die in tiefe geistige Versenkung führt. Aber es ist im klassischen Yoga nach Patañjali keine Befreiung.

Es waren ganz besonders Swami Vivekananda (Abb. 2) und seine Nachfolger, die den Begriff samādhi überhöhten und ihn mit Befreiung oder Erleuchtung gleichsetzten. So schreibt Vivekananda in seinem Werk Rāja-Yoga, einem Kommentar zum Yoga Sūtra:

Die Gesamtsumme seiner Erkenntnis, die er hatte, bevor er in den Schlaf fiel, bleibt gleich, es gibt keinen Zuwachs. Es kommt zu keiner Erleuchtung. Aber wenn ein Mensch in samādhi gelangt und als Narr hineingeht, kommt er als Heiliger heraus. Râja-Yoga, Chapter 7, Dhyāna and Samādhi (frei aus dem engl. übersetzt).

Abb. 2

Die Idee, dass samādhi aus einem Narren einen Heiligen macht, entspricht in keiner Weise der Verwendung des Begriffs im Yoga Sūtra von Patañjali. Für Patañjali ist samādhi eine notwendige, aber noch lange keine ausreichende Bedingung für die Befreiung. Das ganze dritte Kapitel des Yoga Sūtra ist verschiedenen Meditationsobjekten gewidmet. Die Sūtren beschreiben verschiedene Fähigkeiten, die durch ein samādhi auf diese Meditationsgegenstände erreicht werden können. Von automatischer Befreiung wird hier nicht gesprochen. Im Gegenteil, selbst im vierten Kapitel wird noch betont, dass auch nach vielen Samādhi-Zuständen noch tiefe Strukturen des Geistes wirksam werden und zur Unklarheit führen können.

Desikachar sagt dazu: Auch ein Mensch, der diese hohe Stufe von Klarheit erreicht hat, kann nicht vor Rückschlägen sicher sein. Obgleich unwahrscheinlich, ist es selbst jetzt noch möglich, dass überwunden geglaubte Strukturen wieder an die Oberfläche treten können. Über Freiheit und Meditation, Erläuterung zum Yoga Sūtra, Verlag VIANOVA, 4. Kapitel – Sūtra 27, S.158

Im Yoga Sūtra wird Befreiung mit dem Wort Kaivalya (Losgelöstheit, Bloßheit, Freiheit) bezeichnet. Kaivalya ist das Endziel des Yoga. Dieser Zustand des befreiten Geistes allerdings ist ein Alltagszustand – wenn er auch alles andere als alltäglich ist. Samādhi, oder allgemeiner, Meditation ist im Yoga ein wichtiges Mittel, um leidvolle Faktoren (klésa) zu reduzieren, also falsches Verstehen (avidyā) zu reduzieren. Das Ergebnis, die Frucht dieser Bemühung, kann dann Kaivalya sein, Freiheit von den leidvollen Faktoren des Geistes. ▼

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Samādhi – aus Amerika kommend?

Es mag ein wenig überraschend klingen, aber der Begriff samādhi hat den Weg über Nordamerika nach Europa gefunden.

Samādhi, ein Amerikanismus wie Outsourcen oder Hotdog?

Die Auftritte Swami Vivekanandas in den USA Ende des 19. Jh. spielten bei der Verbreitung des Begriffes eine wichtige Rolle. Die Nachfolger Vivekanandas gründeten 1929 die Vedānta Society, deren Sitz in den Hollywood Hills lag.
Sie beeinflusste eine Reihe von amerikanischen Schriftstellern und Intellektuellen und prägte darüber das frühe Verständnis von Yoga im Westen maßgeblich. So waren es die Schriftsteller Aldous Huxley und Christopher Isherwood, die in den Dreißigerjahren des vorigen Jahrhunderts in den USA mit indischen Weisheitslehren in Berührung kamen. Ihre Informationen über Philosophie und Yoga erhielten sie von indischen Swamis ebendieser Vedānta-Society. Die Ideen dieser Weisheitslehre verbreiteten Huxley und Isherwood in einer Reihe von Büchern, wobei sie das Wort samādhi unübersetzt ließen, obwohl oder gerade weil es ein genuin yogischer Begriff war.

Das Wort hat seine Wurzeln natürlich nicht im Amerikanischen; es ist ein Sanskritwort und hat die Grundbedeutung – in rechter Weise zusammenfügen, zusammensetzen. Es ist ebenfalls in der mittelindischen Palisprache zu finden, in ihr sind buddhistische Texte der Theravada-Tradition verfasst.

Inzwischen ist der Begriff in der Alltagskultur ein weitverbreiteter Ausdruck und gehört mittlerweile in den Fundus der meisten westlichen Sprachen. Seine Bedeutung bleibt dabei überwiegend unscharf und unbestimmt; sie reicht von Trance bis Versunkenheit.

Samādhi – ein genuiner Yogabegriff

Da sich die Swamis der Vedānta Society bei ihren Lehren vorwiegend auf die Upaniṣaden beziehen, liegt die Vermutung nahe, dass der Begriff aus diesen Texten stammt. Doch diese Annahme ist falsch. Das Wort samādhi ist ein typischer Ausdruck aus dem Bereich des Yoga, der erst später in die vedische Tradition Eingang gefunden hat. In den zehn ältesten Upaniṣaden, die der große Vedānta-Philosoph Śankara kommentiert hat, kommt das Wort samādhi überhaupt nicht vor. Erst in der späteren Maitrī upaniṣad wird der Begriff als letztes Glied eines dort formulierten sechsgliedrigen Yoga genannt. Auch hierdurch wird noch einmal deutlich, dass es sich um einen Begriff aus dem Yoga handelt, der in die Ideenwelt der Upaniṣaden aufgenommen wurde.

So wurde der Begriff hauptsächlich von verschiedenen yogischen Strömungen verwendet, die sich außerhalb der orthodoxen vedischen Tradition befanden. Die Yogis der Jaina-Tradition etwa verwendeten ihn ebenso wie Buddha. Für letzteren ist samādhi der letzte Teil seines achtfachen Pfades.

Genauso wie dem Begriff samādhi erging es vielen anderen Ideen und Konzepten des Yoga. Nicht unmittelbar aus der Yogatradition heraus erreichten sie ein westliches Publikum, sondern über den Umweg der modernen Vedānta-Interpretationen.

Samādhi – Ausrichten und Ausgerichtetheit des Geistes

In alten buddhistischen Palitexten findet sich die älteste Definition von samādhi. Sie stammt von einer Frau. Im Cūlavedalla Sutta wird beschrieben, wie die Nonne Dhammadinnā dem Laienanhänger Visākha das letzte Glied von Buddhas achtfachen Pfad erläutert (Majjhima Nikaya / Mittlere Sammlung - 44):

Die Einsgerichtetheit des Geistes, Bruder Visākha, gilt als die Sammlung (samādhi)

Der Palitext verwendet dort, wo Dhammadinnā von der Einsgerichtetheit des Geistes spricht, das Wort citta-ekagattā, (in Sanskrit citta-ekagratā). Es bedeutet: einsgerichteter Geist, oder auf ein Objekt ausgerichteter Geist. Es ist ein typischer Yogabegriff, der auch im Yoga Sūtra nach Patañjali Verwendung findet. Die Nonne Dhammadinnā definiert samādhi damit als Methode, bei welcher der Geist auf einen Gegenstand bzw. ein Thema ausgerichtet wird (ekagratā) und beschreibt so einen definierten Prozess von Geistausrichtung.

Es liegt damit schon eine erstaunlich präzise Definition von samādhi vor; es beschreibt sowohl den Geisteszustand des Einsgerichtetseins als auch den Prozess, der zu diesem Zustand führt.

Auch die Verwendung des Wortes, das für Geist benutzt wird, citta, ist nicht-vedāntisch, sondern yogischen Ursprungs. Dhammadinnā wählte dieses Wort, wie auch Buddha und später auch Patañjali im Yoga Sūtra. Die Upaniṣaden hingegen benutzen anstelle von citta die beiden Begriffe manas und buddhi.

Aber die buddhistische Pali-Tradition geht noch weiter, sie unterscheidet zwei Arten von samādhi:

  • rechte Sammlung – samma samādhi, Ausrichtung auf ein heilvolles Objekt
  • verkehrte Sammlung – micchā samādhi, Ausrichtung auf einen nicht heilsamen Gegenstand

Damit erhält ein ursprünglich technischer Begriff einen ethischen Aspekt. Nicht jede Sammlung des Geistes ist demnach ein rechtes samādhi. Eine tiefe Konzentration auf einen Geschäftsbericht oder gar die völlige Ausrichtung des Geistes auf den Plan für einen Bankraub können zwar samādhi werden und sein – in der buddhistischen Tradition werden sie jedoch nicht als rechtes samādhi angesehen. Denn sie führen nicht zur Befreiung von den klésas. den Leid bringenden Strukturen des Geistes.

Anders als die Palitexte macht das Yoga Sūtra Patañjalis formal keine Unterscheidung zwischen rechtem und falschem samādhi. Mit den ethischen Regeln der yamas setzt es dem samādhi jedoch einen klaren Bezugsrahmen. Auch im Yoga Sūtra wäre die völlige Versenkung in einen Plan für die Konstruktion einer Streubombe kein samādhi, das zum achtgliedrigen Yoga gehören würde, da es gegen das Prinzip von ahiµsā Nichttöten, Nichtverletzen verstößt.

Samādhi als Prozess

Im Gegensatz zu den alten Texten der Upaniṣaden steht der Begriff samādhi im klassischen Yoga also im Mittelpunkt. So beginnt das Yoga Sūtra mit einem Kapitel über samādhi (samādhipāda), und samādhi stellt für Patañjali das achte Glied seines achtgliedrigen Yoga aṣtāṅgayoga dar. Vyāsa geht in seinem Kommentar zum Yoga Sūtra sogar so weit, Yoga als samādhi zu definieren: Zum ersten Vers des Yoga Sūtra kommentiert er: Yoga ist samādhi yogaḥ samādhiḥ

Im Yoga Sūtra wird ein dreistufiger Entwicklungsprozess hin zum samādhi beschrieben. Der Prozess beginnt mit dhāraṇa und führt über dhyāna zu samādhi. Dieser Ablauf wird im Yoga Sūtra in den ersten Versen des dritten Kapitels dargelegt. Dhāraṇa ist der erste Schritt:

Den Geist an einen Ort binden, das ist dhāraṇa (Yoga Sūtra - 3. Kapitel – Sūtra 1)

Wenn der Geist nicht mehr abschweift und umherwandert, sondern auf einen Gegenstand ausgerichtet bleibt, dann geht dhāraṇa in dhyāna über. Wenn darin in dhāraṇa der Geist pratyaya nur eine Ausrichtung oder Ausdehnung erfährt; das ist dhyāna. Yoga (Sūtra - 3. Kapitel – Sūtra 2)

Wenn dhyāna sich durch Übung zu immer größerer Intensität entwickelt, dann kann der Geist in einen Zustand gelangen, in dem nur noch der Gegenstand der Meditation ihn erfüllt und der Beobachter sich nicht mehr erlebt. Diesen Zustand nennt Patañjali samādhi. Ebendieses dhyāna ist, wenn nur noch das Objekt klar ist und es so ist, als ob die eigene Form leer wäre, samādhi. Die Trennung von Subjekt und Objekt im Geist ist aufgehoben, nur noch das Objekt ist gegenwärtig und die Erfahrungsebene des Beobachters löst sich auf. (Yoga Sūtra - 3. Kapitel – Sūtra 3)

Auch in der frühen buddhistischen Tradition wurde samādhi als ein Prozess beschrieben, der sich in drei Stadien entwickelt. Das erste Stadium ist die vorbereitende Sammlung – parikamma samādhi. auf Pali Hier ist die Sammlung des Geistes noch sehr schwach. Die nächst stärkere Stufe ist die angrenzende Sammlung – upacāra samādhi und schließlich die Stufe der vollen Sammlung – appanā samādhi.

Wie Salz im Wasser

Im Yoga Sūtra unterscheiden sich dhāraṇa, dhyāna und samādhi in der Intensität der geistigen Sammlung, die mit jeder Stufe zunimmt. Samādhi ist die intensivste Stufe dieses Meditationsprozesses. Den gesamten Prozess von dhāraṇa hin zu samādhi bezeichnet Patañjali mit dem Begriff samyama (Sammlung oder Versenkung).

Das Meditationsobjekt spielt dabei keine Rolle. Im Yoga Sūtra nach Patañjali (Abb. 1) wird samyama anhand sehr unterschiedlicher Meditationsobjekte vorgestellt. Im Yoga Sūtra, 3. Kapitel – Sūtra 23 etwa wird samyama auf Liebe (Mitgefühl, Freude und Gleichmut), im 3. Kapitel – Sūtra 24 auf die Kraft eines Elefanten und im 3. Kapitel – Sūtra 29 auf den Bauchnabel vorgeschlagen.

Viveka - Patanjali
Abb. 1

Ganz anders werden bei Gorakhnath, in der Haṭhayoga-Tradition, dhāraṇa und dhyāna nach der Feinheit des Meditationsobjektes unterschieden. Dhāraṇa richtet sich auf gröbere Objekte, wie Körperregionen; dhyāna hingegen auf feine Objekte, auf das Selbst (Ātman). Der nächste Schritt, von dhyāna zu samādhi, wird häufig als Vereinigung oder Verschmelzung von Geist und Selbst beschrieben. In der Haṭhapradīpikā - 4. Kapitel – Vers 5 heißt es dazu:

Wie Salz sich im Wasser auflöst, so sich löst die Denksubstanz (manas) im Selbst (ātman) auf. Dies wird als samādhi bezeichnet.

In der Gheraṇḍa Samhitā – - Kapitel 7 - Vers 3 steht: Löse den Geist vom Körper und verbinde ihn mit dem höchsten Selbst (parātman). Dies wird samādhi genannt oder frei sein von allen Bewusstseinszuständen.

Das Grundmodell für diese Beschreibungen ist in der Katha Upaniṣad 1.3.13 zu finden: Der Weise zügelt sein Reden im Denken, dieses sammelt er im Erkenntnis-Selbst (buddhi), das Erkennen bringt er im großen Ātman dar und diesen stille er im Friedens-Ātman (höchster Puruṣa).

Diesen Vers hat der Vedānta-Philosoph Śankara besonders hervorgehoben; hier zeigt sich Yoga als ein Mittel zur Erkenntnis des Selbst. Was sich hieraus ableiteten lässt: Die Haṭha-Texte sind wesentlich von den Upaniṣaden und vom Vedānta beeinflusst und nicht vom Yoga Sūtra.

In einem weiteren Erklärungsmodell in der Haṭhayoga-Tradition wird samādhi als intensive Form von Prāṇāyāma beschrieben. In der Gorakṣaśataka – - Vers 96 heißt es: Dhāraṇa hat die Dauer von fünf Nāḍī (5 × 24 Minuten), dhyāna von 60 Nāḍī (60 × 24 Minuten) und das Zurückhalten des Atems für wenigstens zwölf Tage ist samādhi.

Keimloses samādhi – nirbījasamādhi

Das Yoga Sūtra unterscheidet zwischen einem samādhi mit Keim – sabījasamādhi und einem ohne Keim – nirbījasamādhi. Die drei Glieder dhāraṇa, dhyāna und samādhi bezeichnet Patañjali im Yoga Sūtra - 3. Kapitel – Sūtra 7 als die inneren Glieder.

Durch den Gedanken von innen und außen, der einer solchen Zuordnung zugrunde liegt, versucht Patañjali samādhi in den achtgliedrigen Yogaweg einzubetten. In diesem Sinne wird die unmittelbare Arbeit mit dem Geist als innere Arbeit verstanden; im Gegensatz dazu steht die Arbeit im Außen, mit Körper und Atem.

Im darauffolgenden Vers (Yoga Sūtra - 3. Kapitel – Sūtra 8) setzt Patañjali diesen Ordnungsansatz fort mit den Worten:

Diese (drei inneren Glieder) sind im Vergleich zum keimlosen samādhi (nirbījasamādhi) äußere Glieder. Mehr wird an dieser Stelle zu dem Thema nicht geschrieben.

Allerdings wird im ersten Kapitel des Yoga Sūtra Bezug darauf genommen: Wenn die geistigen Eindrücke (samskāra) zur Ruhe kommen, entsteht aufgrund des zur Ruhe Kommens aller samskāra die keimlose Versenkung nirbījasamādhi (Yoga Sūtra - 1. Kapitel – Sūtra 51)

Wie sind diese beiden Aussagen über nirbījasamādhi zu verstehen? Der Kommentar von Vyāsa zu diesen beiden Versen versucht, die besondere Erfahrung des nirbījasamādhi mithilfe der Philosophie des Sāṃkhya zu erklären. Im Folgenden eine kurze Zusammenfassung seines Kommentars:

Die geistigen Eindrücke (samskāra), die durch ein samādhi mit Keim, d. h. durch die Sammlung des Geistes auf ein Objekt, (sabījasamādhi) entstehen, haben die Fähigkeit, diejenigen geistigen Eindrücke, die durch falsche Sichtweise entstanden sind, aufzulösen. Geht der Geist in eine noch tiefere Versenkung, ohne einen Bezug zur äußeren Welt, d. h. auch ohne ein Objekt, dann entsteht keimloses samādhi (nirbījasamādhi).
Dieser Zustand erzeugt ebenfalls geistige Eindrücke, die durch vollkommene Ruhe (nirodha) gekennzeichnet sind. Diese Eindrücke sind wiederum dazu in der Lage, die durch ein samādhi mit Objekt entstandenen Eindrücke aufzulösen. Der Geist wird so von allen geistigen Eindrücken geleert. In diesem Zustand löst er sich in die Urnatur (prakṛti) auf und der Seher (puruṣa) ruht in seiner eigenen Form, vollkommen rein und befreit.

Dieser etwas abstrakte Kommentar versucht, einen besonderen Geisteszustand des Yoga in das Schema der Sāṃkhya-Metaphysik einzuordnen. Für ein tieferes Verständnis von nirbījasamādhi ist dies nur bedingt hilfreich und wirft viele neue Fragen auf.

  • Was bedeutet es, dass der Geist, citta, sich in der Urnatur prakṛtii auflöst?
  • Wie funktioniert er?

Patañjali selbst gibt keine weiteren Hinweise darauf. Vielleicht lassen die Ergebnisse der Gehirnforschung die Versenkungszustände des Yoga besser verstehen. Solange kein genaues Verständnis dazu vorliegt, was wirklich in nirbījasamādhi geschieht (oder auch nicht), sollte man mit Erklärungsmodellen zurückhaltend umgehen. Desikachar sagt dazu:

Dieser Zustand lässt sich nicht mit Worten beschreiben. Nur diejenigen, die ihn erfahren haben, können sein Wesen und seine Dimension verstehen.

Samādhi und Freiheit

Die Erklärungen in den buddhistischen Palitexten und im Yoga Sūtra sind eindeutig.

Samādhi ist ein besonderer Zustand geistiger Versenkung. In diesem Zustand ist der Geist ganz nach innen gekehrt und von Eindrücken der Außenwelt unberührt.

Auch im Haṭhayoga wird dies explizit dargelegt: Ein Yogin nimmt im samādhi keinen Geruch, Geschmack, Form, Berührung oder Klang wahr, er nimmt weder sich selbst noch andere wahr. Gorakṣaśataka – Vers 97. Diesen Vers finden wir auch in der Haṭhapradīpikā - 4. Kapitel – Vers 109.

Die Idee, ein Yogi befände sich während seines Alltagslebens in samādhi, ist dem Yoga Sūtra und dem Buddhismus ebenso fremd wie dem Haṭhayoga.

Samādhi ist ein zeitweiliger, sehr besonderer Zustand des Geistes.

Dieser Zustand kann, wie von Vyāsa beschrieben, Prägungen und Muster im Geist auflösen, den Geist reinigen und so zur Befreiung führen. Aussagen wie der Meister oder die Meisterin befindet sich beständig im samādhi, bei allem, was sie tut, werden dem Begriff samādhi weder in seiner Bedeutung gerecht, die er im Yoga Patañjalis hat, noch der, wie er im Buddhismus verwendet wird.

Mit den Worten des Yoga Sūtras würde diese Situation besser so beschrieben:

  • Durch die Reinigung des Geistes in samādhi hat der Meister/die Meisterin im Alltag eine große Fähigkeit der Konzentration und Achtsamkeit gewonnen.
  • Oder: Durch samādhi ist der Geist so gereinigt, dass der Meister/die Meisterin befreit ist von negativen, leidvollen Mustern und Prägungen; in diesem Zustand ist er/sie auch im Alltag.

Samādhi ist ein Mittel, eine Methode, die in tiefe geistige Versenkung führt. Aber es ist im klassischen Yoga nach Patañjali keine Befreiung.

Es waren ganz besonders Swami Vivekananda (Abb. 2) und seine Nachfolger, die den Begriff samādhi überhöhten und ihn mit Befreiung oder Erleuchtung gleichsetzten. So schreibt Vivekananda in seinem Werk Rāja-Yoga, einem Kommentar zum Yoga Sūtra:

Die Gesamtsumme seiner Erkenntnis, die er hatte, bevor er in den Schlaf fiel, bleibt gleich, es gibt keinen Zuwachs. Es kommt zu keiner Erleuchtung. Aber wenn ein Mensch in samādhi gelangt und als Narr hineingeht, kommt er als Heiliger heraus. Râja-Yoga, Chapter 7, Dhyāna and Samādhi (frei aus dem engl. übersetzt).

Abb. 2

Die Idee, dass samādhi aus einem Narren einen Heiligen macht, entspricht in keiner Weise der Verwendung des Begriffs im Yoga Sūtra von Patañjali. Für Patañjali ist samādhi eine notwendige, aber noch lange keine ausreichende Bedingung für die Befreiung. Das ganze dritte Kapitel des Yoga Sūtra ist verschiedenen Meditationsobjekten gewidmet. Die Sūtren beschreiben verschiedene Fähigkeiten, die durch ein samādhi auf diese Meditationsgegenstände erreicht werden können. Von automatischer Befreiung wird hier nicht gesprochen. Im Gegenteil, selbst im vierten Kapitel wird noch betont, dass auch nach vielen Samādhi-Zuständen noch tiefe Strukturen des Geistes wirksam werden und zur Unklarheit führen können.

Desikachar sagt dazu: Auch ein Mensch, der diese hohe Stufe von Klarheit erreicht hat, kann nicht vor Rückschlägen sicher sein. Obgleich unwahrscheinlich, ist es selbst jetzt noch möglich, dass überwunden geglaubte Strukturen wieder an die Oberfläche treten können. Über Freiheit und Meditation, Erläuterung zum Yoga Sūtra, Verlag VIANOVA, 4. Kapitel – Sūtra 27, S.158

Im Yoga Sūtra wird Befreiung mit dem Wort Kaivalya (Losgelöstheit, Bloßheit, Freiheit) bezeichnet. Kaivalya ist das Endziel des Yoga. Dieser Zustand des befreiten Geistes allerdings ist ein Alltagszustand – wenn er auch alles andere als alltäglich ist. Samādhi, oder allgemeiner, Meditation ist im Yoga ein wichtiges Mittel, um leidvolle Faktoren (klésa) zu reduzieren, also falsches Verstehen (avidyā) zu reduzieren. Das Ergebnis, die Frucht dieser Bemühung, kann dann Kaivalya sein, Freiheit von den leidvollen Faktoren des Geistes. ▼

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